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SCHLAGANFALL/217: 'Intelligente' Schuhe helfen, verlorene Fähigkeiten wiederzuerlangen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. Juli 2011

Israel: Zurück zum gesunden Chaos - 'Intelligente Schuhe' stimulieren Hirntätigkeit

Von Pierre Klochendler


Ramat Gan, Israel, 22. Juli (IPS) - Auf eigenen Beinen zu laufen, ist für Miriam Gilebsky keine Selbstverständlichkeit mehr. Wie andere Schlaganfallpatienten hat auch sie erst allmählich gelernt, ihre Bewegungen zu koordinieren. Neu entwickelte 'intelligente' Schuhe helfen den Kranken ihre verlorenen Fähigkeiten wiederzuerlangen.

Ein israelisches Unternehmen hat unter dem Markennamen 'Step of Mind' Schuhe auf den Markt gebracht, die das Gehirn lehren, den richtigen Schritt zu tun. Die Sohlen dieser Schuhe verändern beim Laufen ihre Neigungswinkel und stimulieren damit die Gehirntätigkeit, versprechen die Hersteller. Das Hirn werde ständig angeregt, sich den neuen Situationen anzupassen. Menschen, die an den Folgen eines Schlaganfalls oder an Zerebralparese (durch eine Gehirnschädigung verursachte Bewegungsstörung) leiden, werden damit in die Lage versetzt, ihre Motorik wieder selbst zu kontrollieren.

Als Gilebsky vor vier Jahren aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war sie auf den Rollstuhl angewiesen und konnte noch nicht einmal ohne Hilfe aufstehen. Nachdem die Israelin alle möglichen Therapien ohne Erfolg hinter sich gebracht hatte, kam sie schließlich in das Ilan-Rehabilitierungszentrum. Wie Aschenputtel im Märchen probierte sie dort die 'Step of Mind'-Schuhe aus. Inzwischen kann sie in ihren eigenen Schuhen fast wieder so sicher laufen wie früher.


Schuhe mit Motoren, Batterien und Sensoren

"Diese Erfindung hat mein Leben verändert. Meine Beine sind jetzt so stabil wie die Wurzeln eines Baumes", sagte Gilebsly, die nur aus der Ferne von einem Therapeuten unterstützt wird. "Dank Dr. Simona schaue ich wieder nach vorn." Die Medizinerin Simona Bar Haim hat 15 Jahre lang untersucht, wie Patienten wieder laufen lernen können. Vor vier Jahren entwickelte sie die Roboter-ähnlichen Schuhe, die mit Motoren, Batterien, Sensoren und Datenspeicher ausgestattet sind.

"Diese Hilfen haben keinen Einfluss auf die Muskeln, regenerieren aber beschädigte Hirnareale", erklärte die Neurophysiologin. "Wenn man läuft, ist der nächste Schritt nicht von vorn herein klar. Das Hirn fragt sich, ob man vor- oder zurückgehen soll und ob man besser auf Gras oder Sand läuft. Die in die Schuhe eingearbeiteten Kolben sorgen dafür, dass sich der Untergrund ständig verändert. Dadurch erhält das Gehirn wechselnde Signale und kann die motorischen Fähigkeiten wiedergewinnen."

Bar Haim speichert auf den Patienten abgestimmtes Datenmaterial in den Schuhen und entwickelt spezifische Übungen. Die Fortschritte werden genau begutachtet. Auf einem Computerbildschirm zeigte sie IPS die Unterschiede zwischen der Symmetrie der Beine eines Gesunden und der Asymmetrie der Gliedmaßen eines kranken Menschen.

Bei Patienten, die vollständig ans Bett gefesselt sind, zeigt diese Therapien keinen Nutzen. Leute, deren Schlaganfall einige Jahre zurückliege und die mit Einschränkungen laufen, können jedoch davon profitieren.

Eine Therapie mit 25 Sitzungen kostet in Israel umgerechnet 1.800 US-Dollar. Bar Haims Forschungen wurden von der Middle East Research Cooperation und der US-Entwicklungsbehörde USAID in Zusammenarbeit mit der Internationalen Forschungsstiftung für Zerebralparese (CPIRF) finanziert. Deren medizinische Leiterin Mindy Aisen bezeichnete Bar Haims Erfindung als durchschlagenden Erfolg. Damit könne Kranken weltweit geholfen werden.

Bislang erprobten 20 an zerebraler Kinderlähmung leidende Teenager und 15 Senioren, die nach Schlaganfällen halbseitige Lähmungen zurückbehalten haben, die 'Step of Mind'-Schuhe bei klinischen Experimenten aus. Meir Magal bekannte, dass er durch die Therapie sein Selbstvertrauen wiedergefunden hat. "Vor fünf Jahren hatte ich einen Schlaganfall und konnte eine Körperhälfte keinen Millimeter bewegen", erzählte er. "Ich saß im Rollstuhl und lief später mit einem Rollator, bis ich hierher kam." Inzwischen kann er sich sogar auf der Straße wieder ohne Gehhilfe fortbewegen.

Bar Haim erklärte, dass sie während ihrer Forschungen grundsätzliche Erkenntnisse in Frage gestellt habe. Konventionelle Therapien versuchten, sogenannte anomale Bewegungen zu korrigieren, um als ästhetisch geltende Bewegungen hervorzurufen. Für die Kranken sei es aber weniger wichtig, wie ihre Art zu gehen aussehe, meinte die Neurophysiologin. Ihnen komme es vor allem darauf an, ohne Hilfe gehen zu können.


Individuelle Hirntätigkeit muss gefördert werden

"Das Gehirn findet seine eigenen Lösungen, um effizient zu funktionieren", führte die Medizinerin aus. "Wenn man in der Klinik lernt, auf eine artifizielle Weise zu laufen, werden die eigenen Leistungen dadurch zunichte gemacht". Ihr Konzept bringe die Patienten dazu, eine natürliche Gehweise für ihren Alltag zu finden. Diese eigenen Leistungen blieben dauerhaft erhalten.

Bar Haim war selbst überrascht, als sie feststellte, dass entgegen bisheriger wissenschaftlicher Erkenntnisse ein gesundes Gehirn auf freie, ungeordnete Weise funktioniert. Das beschädigte Hirn halte sich dagegen mehr an feste Muster. Deswegen werde das Laufen bei einer Gehirnschädigung zum Problem. Kurz gesagt: Chaos ist gesund und Ordnung pathologisch, meinte sie. Die Schuhe könnten den Patienten dabei helfen, die ungeordneten Hirnfunktionen eines Gesunden wiederzuerlangen.

Bar Haim will nun so genannte 'Re-step'-Schuhe entwickeln, mit denen Kranke zu Hause mehrmals in der Woche ihre Übungen machen könnten. Diese Version würde etwa 900 Dollar kosten. (Ende/IPS/ck/2011)


Links:
http://www.stepofmind.com/
http://www.cpirf.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=56494

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. Juli 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2011