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KREBS/1207: Alternative zur Chemotherapie in Sicht (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2018

Klinische Studie
Neue Therapie mit Potenzial

von Uwe Groenewold


"Adapter" aktiviert die Immunzellen, die aggressive Krebszellen erkennen und zerstören. Alternative zur Chemotherapie in Sicht.


Erstmalig wird bei Kindern und Jugendlichen mit akuter lymphoblastischer Leukämie (ALL) eine Immuntherapie eingesetzt. In einer neuen internationalen Multicenterstudie unter Leitung des UKSHCampus Kiel soll geprüft werden, ob sich Therapienebenwirkungen verringern lassen und Heilungsraten weiter gesteigert werden können.

Zur Anwendung kommt der gentechnisch hergestellte Antikörper Blinatumomab, wie Prof. Martin Schrappe, Direktor der Universitätskinderklinik in Kiel, im Gespräch mit dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt erläutert. Der Antikörper ist bereits zur Rezidivtherapie zugelassen und wird nun erstmals in der Erstlinientherapie der jungen Krebspatienten eingesetzt. In Kiel sind die ersten Patienten im Rahmen der klinischen Studie mit der neuen Immuntherapie behandelt worden. Schrappe setzt große Hoffnungen in die neue Therapieform, warnt jedoch vor zu hohen Erwartungen: "Seit 20 Jahren suchen wir nach solchen neuen Behandlungsmöglichkeiten, jetzt haben wir sie endlich. Gleichwohl müssen wir erst die langfristigen Studienergebnisse abwarten, ob wir Kinder tatsächlich vor den Schäden der bisher eingesetzten hochintensiven Chemotherapien bewahren und gleichzeitig die Tumorkontrolle verbessern können."

Die jungen Patienten werden in aller Regel mit intensiven standardisierten Kombinationschemotherapien behandelt. Diese führen dazu, dass 80 bis 90 Prozent der an ALL erkrankten Kinder und Jugendlichen dauerhaft geheilt werden können. "Die Behandlung hat allerdings einen hohen Preis", sagt Schrappe. Während der Therapie können starke, zum Teil lebensbedrohliche Nebenwirkungen etwa im blutbildenden System auftreten; im späteren Leben haben die jungen Patienten ein deutlich größeres Risiko, erneut an Krebs zu erkranken. Höhere Heilungsraten mit der Verabreichung höherer Dosen Chemotherapie zu erzielen - diese Gleichung geht aufgrund der befürchteten Nebenwirkungen nicht auf. Weltweit wird deshalb nach neuen Therapieformen gesucht, auch von der sogenannten ALL-Berlin-Frankfurt-Münster (BFM)-Studiengruppe unter Leitung Schrappes.

"Seit 20 Jahren suchen wir nach solchen Behandlungsmöglichkeiten, jetzt haben wir sie endlich."
Prof. Martin Schrappe, Direktor der Universitätskinderklinik in Kiel

Die Studiengruppe, die aus 120 Kliniken in acht Ländern besteht und vom ALL-BFM-Studienzentrum am UKSH-Campus Kiel koordiniert wird, geht hier neue Wege: In einer großen klinischen Studie werden die jungen Patienten mit dem Wirkstoff Blinatumomab behandelt. Dabei handelt es sich um den ersten sogenannten BiTe-Antikörper ("bi-specific T-cell engager"). Einer der beiden Arme des Antikörpers dockt an der Oberfläche von Leukämiezellen an, der andere an der Oberfläche von T-Zellen. Mit diesem speziellen "Adapter" werden die Immunzellen aktiviert, sie erkennen die aggressiven Krebszellen und zerstören sie. Die neue Therapie wurde bisher nur bei Rückfallpatienten eingesetzt und scheint laut ersten Studienergebnissen großes Potential zu besitzen. Allerdings kann auch diese Immuntherapie starke Nebenwirkungen hervorrufen. "Wir müssen bei einigen Patienten mit hohem Fieber, neurologischen Symptomen und anderen vorübergehenden Organbeeinträchtigungen rechnen", sagt Schrappe. "Dafür gibt es aber gut etablierte Vorsichts- und Behandlungsmaßnahmen, für die bereits Ärzte und Pflegekräfte aller beteiligten Kliniken geschult wurden."

Die Immuntherapie wird in zwei vierwöchigen Zyklen als Dauertherapie mit einer zweiwöchigen Unterbrechung verabreicht. Sie ist für Hochrisikopatienten mit hohem Rückfallrisiko vorgesehen. In einem weiteren Studienarm sollen auch Patienten mit mittlerem Risiko, bei denen es unter der bisherigen Standardbehandlung ein bis fünf Jahre später zu unvorhergesehenen Rückfällen kommen kann, eingeschlossen werden. Diese erhalten kurz vor Ende der Kombinationschemotherapie zusätzlich einen vierwöchigen Zyklus der Immuntherapie. "Damit hoffen wir, das langfristige Rezidivrisiko dieser Patienten weiter zu reduzieren", so Schrappe.

Begleitend will die Studiengruppe außerdem untersuchen, warum einige Patienten möglicherweise besonders gut und andere eher nur gering auf die neuartige Therapie ansprechen. Insgesamt sollen in den kommenden fünf Jahren rund 5.000 Patienten in die Studie aufgenommen werden. Etwa 70 Prozent von ihnen kommen für die Behandlung mit der Immuntherapie infrage. Die neue Behandlungsform wird randomisiert mit der bisherigen Standardtherapie verglichen. Im besten Fall, so Schrappes Hoffnung, kann die Immuntherapie mittelfristig bei vielen jungen ALL-Patienten die toxische Chemotherapie ergänzen oder sogar ersetzen. In Deutschland nehmen rund 50 Kliniken an der Studie teil. Darüber hinaus sind etwa Kliniken in Österreich, der Schweiz, Italien, Israel und Australien beteiligt. Die Deutsche Krebshilfe fördert die Studie mit über vier Millionen Euro.

Junge ALL-Patienten werden in Deutschland beinahe ausnahmslos im Rahmen von Therapieoptimierungsstudien behandelt. Dabei handelt es sich um kontrollierte klinische Studien, die das Ziel haben, erkrankte Patienten nach dem jeweils aktuellen Wissensstand zu behandeln und gleichzeitig die Therapie möglichkeiten zu erweitern sowie Nebenwirkungen zu reduzieren. Darüber hinaus wird das Wissen über die Erkrankung durch die begleitende Forschung vertieft. Gewonnene Erkenntnisse können dann in künftige Behandlungskonzepte einfließen.


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junge Menschen unter 18 Jahren erkranken laut Kinderkrebsregister Mainz jährlich in Deutschland an ALL. Am häufigsten betroffen sind Menschen zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr. Jungen erkranken etwas häufiger als Mädchen. ALL ist die häufigste Form der Leukämie bei Kindern und Jugendlichen; sie macht fast ein Drittel aller Krebserkrankungen im Kindes- und Jugendalter aus.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201812/h18124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
71. Jahrgang, Dezember 2018, Seite 35
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2019

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