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DEMENZ/205: Schmerzen bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz erkennen und behandeln (Alzheimer Info)


Alzheimer Info, Ausgabe 2/15
Nachrichten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Selbsthilfe Demenz

Schmerzen bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz erkennen und behandeln

Von Prof. Dr. Erika Sirsch und Dr. Klaus Maria Perrar


Schmerz ist ein subjektives Empfinden; nur der Betroffene selbst kann ermessen, wie stark die Schmerzintensität ist. Menschen mit Demenz können Schmerzen ebenso spüren und daran leiden wie Menschen ohne Demenz. Schmerz ist eines der am häufigsten übersehenen Symptome, nicht nur am Lebensende.

Menschen mit schwerer Demenz sind aber häufig nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr in der Lage, über ihr Schmerzerleben Auskunft zu geben. So können sie zum Beispiel die Bedeutung des Wortes Schmerz nicht mehr verstehen oder sich sprachlich nicht mehr ausdrücken. Ein eindrückliches Beispiel hierfür war eine demenzkranke Heimbewohnerin, die sich ständig kratzte. Auf Nachfrage erzählte sie, sie habe Läuse. Tatsächlich konnte die Dame aber nicht in verständlicher Weise zum Ausdruck bringen, dass sie starke Schmerzen hatte. Demenzkranke verwenden sprachliche Begriffe oft ganz anders als gesunde Menschen.

Besonders zu beachten ist, dass Menschen mit Demenz auf die Nachfrage: "Haben Sie Schmerzen?" manchmal mit "Nein" antworten, obwohl sie Schmerzen erleben. Sie verstehen einfach die Frage nicht mehr. Hier ist darauf zu achten, ob ihr Verhalten auf Schmerzen hinweist. Atmet ein Demenzkranker besonders tief, laut oder auffallend rasch, kann dies ein Hinweis auf Schmerzen sein. Das Vorliegen von Schmerz ist insbesondere zu überprüfen, wenn:

• Personen "Aua, aua ..." oder "Es tut so weh" rufen oder
schreien, bzw. Unwohlsein oder Unbehagen äußern, aber die
ausdrückliche Frage nach Schmerzen verneinen,

• herausforderndes oder verändertes Verhalten, z.B. Unruhe oder depressives Verhalten auftritt,

• nach Unfällen, Verletzungen, Operationen oder bei Druckgeschwüren, Tumoren usw. zu erwarten ist, dass Schmerzen auftreten, diese aber durch die Betroffenen nicht geäußert werden (können).

Die Beobachtung von Schmerzverhalten muss systematisch erfolgen und im Gesamtzusammenhang beurteilt werden. So können bei Menschen mit Demenz veränderte oder herausfordernde Verhaltensweisen auftreten, die der Demenz oder der Umgebung geschuldet sind, aber eben auch durch nicht erkannte oder nicht ausreichend behandelte Schmerzen verursacht werden.

Schmerzen durch Beobachtung und Skalen erfassen und einschätzen

Der Erfassung und Behandlung von Schmerzen wurde in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet. Die Expertenstandards "Schmerzmanagement bei akuten Schmerzen in der Pflege" (DNQP 2011) und "Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen" (DNQP 2014) zeigen auf, wie wichtig das Erkennen von Schmerz nicht nur durch Ärzte, sondern durch alle an der Pflege und Betreuung beteiligten Personen ist. Aktuell wird eine deutschsprachige interdisziplinäre Leitlinie zum Schmerzmanagement bei älteren Menschen in der vollstationären Altenhilfe erstellt (Sirsch, Schuler et al. 2012).

Die Fremdeinschätzung von Schmerz erfolgt durch eine strukturierte Beobachtung von Verhaltensmerkmalen. Dadurch kann eine Veränderung von einzelnen Verhaltensmerkmalen im Verlauf festgehalten und mit dem Ausgangszustand verglichen werden. Für diese strukturierte Beobachtung stehen validierte Instrumente zur Einschätzung von Schmerz zur Verfügung. Beispiele für solche Instrumente zur Schmerzeinschätzung bei Menschen mit Demenz sind:

BEurteilung von Schmerzen bei Demenz (BESD) (Basler, Huger et al. 2006). Bei dieser Beobachtungsskala werden in fünf Kategorien (Atmung, Lautäußerung, Gesichtsausdruck, Körpersprache und Trost) Verhaltensmerkmale eingeschätzt.

BeobachtungsInstrument für das Schmerzassessment bei Alten Menschen mit Demenz (BISAD) (Fischer 2012). Dabei werden acht Verhaltensweisen eingeschätzt (Gesichtsausdruck, spontane Ruhehaltung, Bewegung der Person, Beziehung zu Anderen, ängstliche Erwartung, Reaktion währen der Mobilisation, Reaktion während der Pflege schmerzender Bereiche, vorgebrachte Klagen).

Schmerzen medikamentös behandeln

Mittlerweile steht eine Reihe von Medikamenten zur Behandlung von Schmerzen zur Verfügung. Bei der Auswahl der Wirkstoffe orientiert man sich üblicherweise an einem Schema der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Es unterscheidet drei Stufen, die sich an der Wirkstärke der Schmerzmittel orientiert. Auf der ersten Stufe werden Wirkstoffe wie nicht-steroidale Antirheumatika (Ibuprofen, Diclofenac, Acetylsalicylsäure, Coxibe), Paracetamol oder auch Metamizol empfohlen. Auf der zweiten Stufe rät die WHO zu schwach wirksamen Opioiden wie Tilidin oder Tramadol. Auf der dritten Stufe können stark wirksame Opioide wie Morphin, Hydromorphon, Oxycodon, Buprenorphin, Fentanyl oder Tapentadol erwogen werden. Darüber hinaus kann die Therapie je nach Schmerztyp durch Hilfs-Schmerzmittel ergänzt werden. Das sind Medikamente, die eigentlich als Antidepressiva (gegen Depressionen) oder als Antikonvulsiva (gegen epileptische Anfälle) eingesetzt werden, aber als "Nebenwirkung" eine gute Wirkung auf Nervenschmerzen besitzen.

Nicht alle Schmerzmedikamente (z.B. die nicht-steroidalen Antirheumatika) sind gleichermaßen zur Dauerbehandlung im Alter geeignet. Dies liegt zum einen an der erhöhten Empfindlichkeit älterer Menschen in Hinblick auf Nebenwirkungen, zum anderen an dem veränderten oder verlangsamten Abbau von Arzneimitteln im Körper. Werden noch weitere Medikamente eingenommen, so sind deren Wechselwirkungen mit den Schmerzmedikamenten zu berücksichtigen.

Falls sie zur Schmerzbehandlung nötig sind, gibt es keinen Grund, Menschen mit Demenz stark wirksame Schmerzmittel wie Morphium vorzuenthalten. Wesentlich hierbei ist jedoch das langsame, schrittweise Herantasten an die wirksame und damit notwendige Dosis und die Beachtung sowie Behandlung von Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Müdigkeit (sie kommen in der Regel nur in den ersten 7-10 Tagen der Behandlung vor) oder Verstopfung (hier tritt keine Gewöhnung auf). Es ist sinnvoll, zur Dosisfindung zunächst Medikamente mit rasch eintretender Wirkung zu verwenden und nach Ermittlung der wirksamen Dosis auf eine Darreichungsform mit lang anhaltender Wirkung (durch verzögerte Freisetzung) oder auf ein Pflaster umzustellen. Die Darreichungsform mit rasch einsetzender Wirkung kann weiterhin zusätzlich verwendet werden, wenn schmerzhafte Prozeduren vollzogen werden müssen, wie z.B. notwendige Lagerungen oder Mobilisation.

Manche stark wirksamen Opioide lassen sich auch als Nasenspray oder als Tablette verabreichen, die sich unter der Zunge auflöst. Dies kann in den Fällen von Vorteil sein, wenn demenzkranke Patienten die Medikamente nicht schlucken können.

Schmerzen auch anders behandeln

Schmerz hat neben der biologischen immer auch eine psychische und eine soziale Komponente. Daher ist ein multidimensionaler Behandlungsansatz wünschenswert, wie er in der palliativen Versorgung angestrebt wird. Neben Medikamenten, die zur Behandlung eingesetzt werden, können ergänzend auch nicht-medikamentöse Maßnahmen zur Schmerzminderung zur Anwendung kommen. Das können neben Kälte- und Wärmeanwendungen auch verhaltensbezogene Maßnahmen sein. So kann z.B. die gezielte Ablenkung vom Schmerz durch Anschauen von Bildern oder Ausflüge, aber auch entspannende Musik die Schmerzbekämpfung unterstützen. Solche Maßnahmen müssen allerdings immer individuell angepasst und erprobt werden.


Prof. Dr. Erika Sirsch, MScN, Pflegewissenschaftliche Fakultät, Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar
Dr. Klaus Maria Perrar, Zentrum für Palliativmedizin Uniklinik Köln


Literatur

Basler, H.D., D. Huger, et al. (2006): Beurteilung von Schmerz bei Demenz (BESD). Untersuchung zur Validität eines Verfahrens zur Beobachtung des Schmerzverhaltens. Schmerz 20(6): 519-526.

Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP): 2011: Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen.
2014: Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen.

Hochschule Osnabrück http://www.dnqp.de

Fischer, Th. (2012): Schmerzeinschätzung bei Menschen mit schwerer Demenz: Das Beobachtungsinstrument für das Schmerzassessment bei alten Menschen mit schwerer Demenz (BISAD). Bern, Huber.

Sirsch, E., M. Schuler, et al. (2012): Methodenpapier zur S3-Leitlinie "Schmerzassessment bei älteren Menschen in der vollstationären Altenhilfe". Schmerz 26(4): 410-5


Weitere Informationen:

Die Fremdeinschätzungsskalen zur Beobachtung, eine schriftliche Anleitung sowie ein Video zur Anwendung für die BESD und die Unterlagen zum BISAD können beim Arbeitskreis "Schmerz und Alter" der Deutschen Schmerzgesellschaft online kostenfrei abgerufen werden:
www.dgss.org → die-gesellschaft → arbeitskreise → schmerz-und-alter → downloads

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Quelle:
Alzheimer Info, Ausgabe 2/15, S. 14 - 15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2015

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