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ARTIKEL/106: Demenz - Leidensweg schon vor der ärztlichen Diagnose (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 12/2011

Demenz
Leidensweg schon vor der ärztlichen Diagnose

Von Jörg Feldner


Frühdemente Personen sehen sich häufig belastenden Situationen ausgesetzt. Sie stoßen auf Unverständnis, Vorwürfe und Bagatellisierungen.


Wann ist eine Demenz eine Demenz? Erst nach der ärztlichen Diagnose oder vielleicht schon früher? An der Fachhochschule Kiel hat ein Team um Prof. Dr. Gaby Lenz und Prof. Dr. Marita Sperga in qualitativen Interviews Betroffene und deren Angehörige nach dem subjektiven Erleben von "Frühdemenz" befragt.

32 Erkrankte - alle noch ohne ärztliche Diagnose - und 26 Angehörige (meist Ehepartner), die sich nach einem Presseaufruf gemeldet hatten, haben in langen Gesprächen zu Protokoll gegeben, wie sie "Frühdemenz" erleben und erleiden. Eine Fallzahl von 58 Interviews wirkt noch nicht besonders groß; wer jedoch die in den Sozialwissenschaften vielfach erprobte Aussagekraft tiefgehender Interviews wenigstens aus der Literatur kennt und um deren reproduzierbare statistische Auswertungsergebnisse weiß, wird den Umfang dieser Studie schätzen. Was Menschen wirklich meinen und wollen, ist nicht bei Meinungsumfragen am Telefon und selbst kaum bei Wahlen zu erfahren, wohl aber durch qualitative Interviews mit exakter Methodik.

Gängige Definitionen trafen auf die Erkrankten durchweg zu: subjektiv wahrgenommene Gedächtnisstörungen, die nicht nur vorübergehend waren; veränderte Lebensqualität, schwindende Übersicht und Ordnung in Alltagsangelegenheiten. Ein typisches, vielleicht kennzeichnendes Ereignis: Die Geburtstage der Enkelkinder wollen einem nicht mehr einfallen. Gedanken kreisen sorgenvoll um die Zukunft: Was wird aus mir, wenn die Erkrankung fortschreitet? Wenn ich meine Autonomie verliere und bevormundet werde?

Zur Innenwelt solcher "frühdementer" Menschen gehört fast immer auch die belastende Auseinandersetzung mit Unverständnis, Vorwürfen und Bagatellisierungen. "Stell dich nicht so an", heißt es dann in der Familie. "Machen Sie sich keine Gedanken, das ist altersbedingt", ist beim Arzt zu hören. Den vielfältigen Hilfsangeboten von Wohlfahrtsverbänden, von der Alzheimergesellschaft oder von Selbsthilfegruppen scheint die große Zahl "frühdementer" Personen ratlos und unentschlossen gegenüberzustehen. Auffällig bei den Interviews war, dass das Stichwort "Training" nie genannt wurde; dabei wird selbst in der Tagespresse häufiger aus Gedächtnistrainingsgruppen berichtet.

Angesichts der deutlich empfundenen Not der Früherkrankten hält die Forschergruppe eine Erweiterung der medizinischen Perspektive für wichtig: Die Diagnostik müsse erweitert werden, Hirnorganik allein reiche nicht aus; der beliebte "Uhrentest" habe keine ausreichende Aussagekraft.

Wann müssen Angehörige damit rechnen, dass die Veränderungen bei einem Familienmitglied in Richtung Demenz weisen? Wenn Telefonate vergessen und darum ständig wiederholt werden; wenn soziale Kontakte abgebrochen werden, wenn das Autofahren oder Hobbys aufgegeben werden, wenn das Reden durch Essen ersetzt wird. Angehörige bewegen sich ständig in einem Dilemma zwischen zu viel und zu wenig eingreifender Hilfe, auch die eigene Ungeduld wird als schwer erträglich geschildert. Hinzu kommen Trauer und Verunsicherung - die bisherigen Lebensumstände sind völlig infrage gestellt. Sich selbst gegen Überforderung zu schützen, ist ebenso konfliktträchtig wie das richtige Maß, den Betroffenen zu schützen. Den Gedanken an Demenz ganz zu negieren, ist wohl die anstrengendste Reaktion. Insgesamt empfinden Angehörige ihre Situation noch bedrückender, als es die betroffenen "Frühdementen" äußern.

Rund 1,5 Millionen Männer und Frauen leiden in Deutschland an Formen der Demenz. Experten schätzen sogar, dass sich die Zahl der Patienten in den kommenden 40 Jahren verdoppeln könnte. Trotzdem ist Demenz immer noch ein Tabuthema. Als Fazit bleibt für alle, die mit dem Problem zu tun haben: Bei Verdacht auch schon vor der ärztlichen Diagnose an "Frühdemenz" denken.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 12/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201112/h11124a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Dezember 2011
64. Jahrgang, Seite 36
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2012

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