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ARTIKEL/1154: Gesundheitsgerecht ... Gesundheit - Wirtschaft - Innovation (spw)


spw - Ausgabe 4/2010 - Heft 179
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Gesundheit - Wirtschaft - Innovation

Aspekte eines integrierten linken Diskurses

Von Uwe Kremer


Dieser Aufsatz konzipiert "Gesundheit" als Feld einer umfassenden Reform-, Umbau- und Wachstumsperspektive im Sinne der spw-Ausgaben 169 (New Deal) und 177 (Wachstum neu denken!) auf zwei Säulen: auf den Achsen "Umwelt" (inkl. Energie) sowie "Gesundheit", wobei beide in Wechselwirkung stehen. Die Argumentation tritt der gegensätzlichen Behandlung von "Gesundheit" aus sozialpolitischer (bzw. im engeren Sinne "gesundheitspolitischer"), wirtschafts- sowie forschungspolitischer Sicht entgegen. Ziel der Überlegungen ist ein verbindender Diskurs, in dem das Spannungsverhältnis verschiedener Sichtweisen in einer fortschrittlichen bzw. modernen sozialistischen Perspektive produktiv wird.

Im Bereich "Energie & Umwelt" ist eine ganzheitliche offensive Konzeption in Sichtweite. So spricht Kai Burmeister in spw 177 von der "ökologischen Industriepolitik", die Wirtschafts-, Umwelt- und Beschäftigungspolitik zusammenführt. Dieser Ansatz ist mittlerweile in der SPD-Programmatik verankert, was für den Bereich "Gesundheit" nicht oder nur ansatzweise gilt. Hier beschränkt man sich weitgehend auf das Spannungsverhältnis von sozialpolitischen Ambitionen und Kostendämpfungsbemühungen - mit verstreuten Hinweisen auf Beschäftigungspotenziale bei lokalen Gesundheitsdienstleistungen und medizintechnische Fortschritte, gelegentlich (sog. "Steinmeier-Papier") auch mit der pauschalen "Jobwunder Gesundheitswirtschaft"-These. Gesundheit wird jedoch nicht integriert betrachtet: als Feld von Solidarität und Innovation, Wertschöpfung und Beschäftigung.

"Gesundheitswirtschaft" - Fluch und Segen

Die Positionen zu einer solidarischen Gesundheitsversorgung sind in spw gesundheitspolitisch gut umrissen worden. Auf dem Weg zu einer neuen, übergreifenden Perspektive von "Gesundheit" begegnet einem aber immer häufiger der Begriff der "Gesundheitswirtschaft". Vordergründig handelt es sich darum, das Gesundheitswesen und die mit ihm verbundenen Bereiche auch als Wirtschaftssektor - und zwar als extrem bedeutenden und mit Wachstumspotenzialen ausgestatteten - zu begreifen. Dies stößt vielfach gerade im linken Spektrum auf Vorbehalte - befürchtet man doch, dass damit eine Unterwerfung unter marktorientierte Ökonomisierungs- und Privatisierungsprozesse in den Kernsektoren des Gesundheitswesen wie auch gegenüber gewerblichen Anbieterinteressen von der Pharma- bis hin zur sog. Wellnessindustrie verbunden sei. Derartige Vorbehalte sind - mit Blick auf die Historie und manche Protagonisten des Begriffes nicht von der Hand zu weisen.

Allerdings steht manchmal die grundsätzlichere Neigung Pate, "Wirtschaft" von vorneherein mit kapitalistischer bzw. renditeorientierter Privatwirtschaft gleichzusetzen, statt nach eigenen Maßstäben die Art und Weise des Wirtschaftens zu thematisieren und zu prägen. Tatsächlich handelt es sich auch bei einer freiberuflich-ständisch organisierten Ärzteschaft oder auch bei einem kommunalen Krankenhaus um "Gesundheitswirtschaft" und sie kann grundsätzlich gewinn- wie auch bedarfswirtschaftlich, erwerbs- wie auch subsistenzwirtschaftlich, öffentlich, genossenschaftlich oder privat organisiert sein. Im Grunde handelt es sich bei "Gesundheitswirtschaft" um eine spezifische Sichtweise auf das Gesundheitswesen.

Die Linke wäre angesichts der Umbruchprozesse im Gesundheitswesen und insbesondere des Aufbrechens ständisch-korporatistischer Strukturen schlecht beraten, die wirtschaftspolitische Sichtweise der Deutungshoheit von Marktapologeten zu überlassen. Gerade wegen der noch immer gegebenen Bedeutung öffentlicher respektive gemeinschaftlicher Einflüsse wäre besonders die "Gesundheitswirtschaft" ein Feld für alternative wirtschaftspolitische Vorhaben. So heißt es in spw 125: "Das Gesundheitswesen kann die Leitbranche des 21. Jahrhunderts werden. Unter sozialstaatlichen Vorzeichen kann dies Politik und Wirtschaft im Ganzen verändern." (Böhning/Peter/Welti) Dies gilt es einzulösen.

Wachstumsperspektiven der Gesundheitswirtschaft

Wenn die Gesundheitswirtschaft als Leitbranche der Zukunft angesehen wird, so hat dies mit dem Zusammenwirken mehrerer Trends zu tun:

  • dem demografischen Wandel bzw. der Alterung der Bevölkerung, insofern sie insbesondere den Handlungsbedarf bei chronischen Erkrankungen (inkl. ihrer Vorbeugung) systematisch erhöht.
  • der zweiten medizinisch-technologischen Revolution, die erst in einem oder mehr Jahrzehnten zu Durchbrüchen führt - insbesondere auf molekularmedizinischer Basis.
  • einem gewachsenen und veränderten, mit der Ausdifferenzierung und Modernisierung der sozialen Milieus zusammenhängenden Gesundheitsbewusstsein in weiten Teilen der Bevölkerung.
  • dem Umbau des Gesundheitssystems im engeren Sinne, von der Reorganisation von Versorgungsprozessen bis hin zum Bau des "Krankenhauses der Zukunft".

Hierbei geht es um eine Wachstumskonstellation in langfristigen Dimensionen (manche rekurrieren dazu auf die legendären "langen Wellen" bzw. Kondratieff-Zyklen), die von grundlegenden Innovationen getragen werden muss. Die häufig zur Begründung angeführten Daten zum enormen Umfang und zur Entwicklung der Gesundheitswirtschaft als "Jobwunder" in Deutschland sind irreführend, da sie ein nachhaltiges innovationsgetragenes Wachstum (noch?) kaum berücksichtigen. Aufgrund der problematischen Qualität der im derzeitigen Wachstum eingeschlossenen Beschäftigungsverhältnisse, Leistungsangebote und Überkomplexität der deutschen Systemstrukturen kann das langfristige Wachstumspotenzial nicht ausgereizt werden.

Felder qualitativen Wachstums

Es entspricht dem Stand der progressiven Debatte, dass mit "Wachstum" nicht statistisches Wachstum "um jeden Preis" gemeint ist. Es geht weder um ein "Wachstum", das der Überkomplexität des deutschen Gesundheitssystems geschuldet ist, noch um ein "Wachstum", das von Krankheitserfindern (Motto "Es gibt keine Gesunden, nur Menschen, die nicht gründlich genug untersucht worden sind") generiert wird. Diese Wachstumsbremsen binden Ressourcen für nachhaltige Innovationen und sind volkswirtschaftlich nicht oder nur wenig reproduktiv. Innovationen und Wachstumspotenziale - auch wirtschaftspolitisch - sind daher eine Aufgabe der Linken. Die Bandbreite der Wachstumsfelder ist enorm. Beispielhaft seien genannt:

  • Versorgungsinnovationen im Bereich chronischer Erkrankungen (inkl. der Verhinderung von Chronifizierungen), die gerade in Deutschland mit seiner Fixierung auf die Akutversorgung dringlich sind.
  • biomedizinische Prädiktion und Prävention im Sinne einer Medizin, die aber in einen bio-psycho-sozialen Ansatz im Sinne der eingebettet sein muss.
  • regenerative Medizin, die biomedizinische und medizintechnische Verfahren der Gewebezüchtung mit neuen Rehabilitationskonzepten verbinden (Beispiel für Hybridinnovationen aus Technologie und Dienstleistung).
  • der Homecare-Bereich, der insbesondere mit Blick auf die ältere Bevölkerung technologische (insbes. telemedizinische) wie auch Prozessinnovationen erforderlich macht.
  • Hospital Engineering: Innovationen und Investitionen beim grundlegenden patienten- und umweltorientierten Umbau der Krankenhäuser (von der Architektur über das Gebäudemanagement bis zur Logistik).

Eine fortschrittliche Sichtweise auf die Wachstumstrends und -felder und "Gesundheitswirtschaft" bestände aus drei Stoßrichtungen: Erstens aus gesundheits- und sozialpolitischen (die in spw weitgehend konsensual angesehen und nicht nochmals referiert werden), zweitens aus volkswirtschaftlichen Strukturbildungen und drittens aus übergreifenden Leitbildern zur Gestaltung von Wirtschaft, Gesellschaft und Lebensweise.

Wirtschaftsdualismus als Problem und Ansatz

Richtig ist: "Die große wirtschafts- und beschäftigungspolitische Bedeutung dieses Wirtschaftsbereiches erfordert eine differenzierte regionale und sektorale Betrachtung mit dem Ziel, die Gesundheitswirtschaft auch als Bestandteil regionaler und nationaler Wirtschaftspolitik zu etablieren." (Bernard Braun, Soziale Sicherheit 3/2010). In der hiesigen Gesundheitswirtschaft bildet sich ein grundlegendes, in der spw (und auch im Crossover-Projekt der 90er Jahre) thematisiertes und weiterhin aktuelles Dilemma ab.

Auf der einen Seite steht ein internationalisierter, hochproduktiver Exportsektor, auf der anderen Seite befinden sich personenbezogene und lokal zu erbringende Dienstleistungen, die zugleich personalintensiv und im Vergleich zu industriell gefertigten Gütereinheiten auch relativ teuer sind - zumindest wenn man gute Dienstleistungsqualität und auskömmliche Beschäftigungsverhältnisse zu Grunde legt. Beschäftigungsperspektiven bestehen vor allem in diesem binnenorientierten Dienstleistungssektor - aber wiederum nur auf Basis eines hochproduktiven industriellen Sektors und eines Transfers der Produktivitätsgewinne resp. Exportüberschüsse in die binnenorientierte Dienstleistungswirtschaft.

Dieser Transfer funktioniert in Deutschland schlecht, was ein zentrales Regulierungsdefizit darstellt. Dass es anders geht, zeigen die skandinavischen Länder, in denen (auch medizintechnologische!) Industrie- und Exportstärken mit einem auf hohem Niveau funktionierenden personenbezogenen lokalen Dienstleistungssektor (insbes. im Bereich der Gesundheitsversorgung, hier insbesondere der Pflege) einhergehen, da der Staat bei diesem Transfer eine spezifische aktive Rolle spielt (vgl. hierzu Cornelia Heintze in spw 162 "Who cares about care?" und den spw-Schwerpunkt "Der nordische Weg").

Aufsetzend auf den in der spw diskutierten gesundheitspolitischen Konzepten wäre daher (durchaus analog zur Umwelt- und Energiewirtschaft) eine Strategie zu entwickeln, die folgende Elemente miteinander kombiniert (vgl. hierzu übergreifend in früheren spw-Kontexten Kremer/Mikfeld, in: Crossover 2000):

  • die Förderung biomedizinischer, technologischer und konzeptioneller Innovationen, welche auch überregional und exportorientiert vermarktet werden können, insbesondere mittels einer bedarfs- und nachfrageorientierten Innovationspolitik.
  • die Etablierung regionaler bzw. lokalökonomischer Dienstleistungsnetzwerke im Gesundheitssektor mit einer Ausweitung der öffentlichen Rolle bei Infrastrukturinvestitionen, Beschaffungen, Regulierungen und Eigenleistungen im regionalen Kontext.



Nachfrageorientierte Innovationspolitik

Deutschland sollte als "Referenzmarkt" für derartige Innovationen gestärkt werden. Hier ist der vom Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) entwickelte Ansatz einer öffentlichen nachfrageorientierten Innovationspolitik (vgl. Sascha Ruhland in spw 155 und den in der spw 158 diskutierten Ansatz vom "Staat als Pionier"), der eine große Rolle für die ökologische Industriepolitik spielt, von Interesse. Er fordert, von öffentlicher Seite Innovationen anzustoßen und/oder ihre Diffusion zu beschleunigen, indem die Nachfrage nach Innovationen erhöht wird. Dies kann lt. ISI insbesondere sinnvoll sein bei strukturellen Hemmnissen in der Interaktion zwischen Bedürfnisträgern und (potenziellen) Anbietern, beim Verfolgen politischer Ziele in dem betreffenden Sektor und zum Zwecke einer Verbesserung öffentlicher bzw. öffentlich garantierter Leistungen. Das Instrumentarium reicht von öffentlicher und öffentlich geförderter Nachfrage über öffentlich unterstützte Aufklärung und Diskurse bis hin zu regulativen Maßnahmen.

Dieser Ansatz wäre auch für die Gesundheitswirtschaft gut geeignet, da hier der überwiegende Teil der Ausgaben öffentlich beeinflusst wird. Dabei sind die Spezifika einer hochkomplexen Akteursstruktur zu berücksichtigen, die Innovationsprozessen häufig im Wege steht.

Von besonderer Bedeutung ist die Erschließung innovativer Potenziale außerhalb klassischer Forschungseinrichtungen und universitätsklinischer Einrichtungen - z.B. bei den nichtuniversitären Krankenhäusern, die dies angesichts des wachsenden, in der Versorgung unmittelbar wirksamen Kosten- und Leistungsdrucks kaum realisieren können. Mit dem Ausbau der von den Krankenkassen zur Verfügung gestellten klinischen NUB-Budgets (für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden) und einer systematischen Verzahnung von medizintechnischer Entwicklung und patientenorientierter Versorgungsforschung könnten z.B. die Stärken der deutschen Medizintechnikindustrie ausgebaut werden. Für die systematisch einbezogenen Gesundheitsversorger eröffnete sich eine wirtschaftliche Perspektive für innovative Projekte.

Regionales Gesundheitswesen und lokale Ökonomie

Zum zweiten wären regionale und kommunale Netzwerkstrukturen in Gesundheitswesen respektive Gesundheitswirtschaft konzeptionell aufzuwerten. In Verbindung mit einer nachhaltigen und patientenzentrierten Verbesserung von Versorgungsprozessen geht es hierbei auch um die Erschließung von "inneren" Wachstums- und Beschäftigungspotenzialen, die aus funktionsfähigen regionalen Wirtschaftskreisläufen und lokalökonomischen Verflechtungen entstehen.

Das Ziel kann nicht die Übernahme eines kommunalisierten Gesundheitswesens nach skandinavischem Vorbild sein. Gleichwohl ist eine Stärkung der Kommunen sowie eine Verbindung mit kommunalwirtschaftlichen Ansätzen (vgl. spw 155) anzustreben. Hierzu zählen Überlegungen von Wolfgang Wodarg (in spw 168), die auf

  • die Bildung regionaler Arbeitsgemeinschaften der Krankenkassen jenseits der unproduktiven pseudo-marktförmigen Kassenkonkurrenz,
  • die Bildung von gemeinnützigen respektive genossenschaftlichen Anbietergemeinschaften (möglicherweise sektorübergreifend aus Arztpraxen, Sozialstationen der Wohlfahrtsverbände und kommunalen Einrichtungen),
  • die Vereinbarung von Regionalbudgets für die pflegerisch-medizinische Grundversorgung zwischen den regionalen Kassen und Gemeinschaften abzielen.

Von Interesse wäre ferner eine systematische Neuaufstellung der öffentlichen Gesundheitsstrukturen (insb. der Gesundheitsämter sowie Pflegestützpunkten etc.) im Sinne kommunaler Gesundheitszentren, vom integrierten Versorgungsmanagement über die Prävention bei Kindern und Jugendlichen (perspektivisch als funktionales Äquivalent des skandinavischen Schulgesundheitsdienstes) bis zum lokalen Pflegemanagement, was mit einer Ausweitung dieses Sektors verbunden sein müsste.

Zum dritten sollte die Rolle insbesondere der kommunalen und freigemeinnützigen Krankenhäuser im regionalwirtschaftlichen Kontext gestärkt werden und mit dem patientenorientierten Umbau zu integrierten Versorgungsstandorten zu verbinden. Zusammen mit der Auflösung des Investitionsstaus wirkte ein langfristiger Umbau der Krankenhausinfrastruktur als regionales Investitionsprogramm im Sinne der nachfrageorientierten Innovationspolitik.

Schließlich sind die Überlegungen in einen lokalökonomischen Kontext einzubetten, für den Sanitätshäuser, Gesundheitshandwerk, Wohnungswirtschaft, Sporteinrichtungen und andere Gesundheitsdienstleister stehen. Regionale bzw. kommunale Gesundheitskonferenzen bieten hierfür einen geeigneten Rahmen. Ansätze einer solchen "Neuen Gemeinwirtschaft" bzw. eines "Dritten Sektors" wurden in der spw und im ersten Crossover-Projekt diskutiert.

Professionalisierung und Patientensouveränität

Art und Weise, Umfang und Struktur des Wachstums werden in entscheidendem Maße durch die Personalentwicklung im Dienstleistungssektor geprägt. Zum einen geht es um die systematische Aufwertung und Professionalisierung der nicht-ärztlichen, insbesondere pflegerischen Gesundheitsberufe. In Deutschland ist die Missachtung personenbezogener Tätigkeiten, insbesondere weiblicher Beschäftigter extrem ausgeprägt und drückt sich in Status, Bezahlung und Arbeitsbedingungen aus. Sie verweist zugleich auf ungenutzte Potenziale eines nachhaltigen Wachstums der Gesundheitswirtschaft (vgl. hierzu insbesondere die skandinavische Situation, Cornelia Heintze in spw 162).

Eine Professionalisierungsoffensive für nicht-ärztliche Gesundheitsberufe, in der der öffentliche Sektor eine Vorreiterrolle spielen und zugleich Maßstäbe für den "zweiten Gesundheitsmarkt" setzen muss, wäre zentrales Element eines integrierten Umbaukonzeptes. Spiegelbildlich wäre die Rolle von Patienten (und ggfs. ihrer Angehörigen) von der Aufklärung über die Wahrnehmung ihrer Rechte bis hin zur individuellen Mitwirkung und gemeinschaftlichen Mitgestaltung ebenso systematisch zu stärken (was im Übrigen eine Klärung des Verhältnisses zu den gesetzlichen Krankenkassen einschließt).

Mixed Economy & New Deal

Die Gesundheitswirtschaft stellt sich damit als Musterbeispiel einer "mixed economy" auf. Allerdings reicht eine Abgrenzung der Linken gegenüber marktförmigen Elementen im Gesundheitssektor - insbesondere in Form von (Pseudo-)Wettbewerbsverhältnissen, Privatisierungen von Leistungen und zweifelhaften Angeboten des "zweiten Gesundheitsmarktes" (bzw. "Selbstzahlermarktes") nicht aus. Es geht um die Frage der Hegemonie innerhalb dieser "mixed economy". Zu dieser Hegemonie zählt die Einbindung der anderen Kräfte bzw. Sektoren. Das Wachstum des "zweiten Gesundheitsmarktes" ist eine Tatsache, die auch mit veränderten Bedürfnisstrukturen bei einem gleichzeitig (noch immer) sozialstaatlich gesicherten Niveau der Gesundheitsversorgung zu tun hat. Zwei Kernfragen eines "New Deal" in der Gesundheitswirtschaft lauten: In welche Richtung entwickelt sich dieser Markt? Wie stark bleibt er mit dem öffentlich regulierten Gesundheitssektor verbunden und von diesem abhängig?

Open End: Leitbilder einer integrierten Gesundheits-, Wirtschafts- und Innovationspolitik

Wenn von qualitativem Wachstum gesprochen und der "Gesundheit" ein zentraler Stellenwert eingeräumt wird, so bedeutet dies für ein Umbaukonzept, sich nicht nur mit Feldern, Strukturen und Mechanismen zu beschäftigen, sondern auch mit Leitbildern und übergreifenden Zielsetzungen. Bezugspunkte wären hierfür die o.g. Trends, die eine Wachstumskonstellation in der "Gesundheit" begründen. Sie sind weder unabhängig von Leitbildern und Diskursen zu sehen, noch sind sie per se mit bestimmten Leitbildern und Diskursen identisch. Sie sind vielmehr selbst Gegenstand unterschiedlicher "Weltanschauungen" und Diskurse, wie die Art und Weise des Wirtschaftens in hohem Maße durch Diskurse geprägt wird.

So können die genannten Trends Menschen bzw. Patienten zu Objekten wildwüchsiger Marketingstrategien und "Krankheitserfindungen" wie auch zweifelhafter biopolitischer Ambitionen machen. Es ließe sich aber auch darstellen, dass den Trends und ihrem Zusammenwirken ein hohes Potenzial des in der spw entwickelten Diskurses der "biographischen Selbstbestimmung" innewohnt. Dies gilt auch im Abgleich mit dem aktuellen Diskurs der "personalisierten Medizin", der einerseits auf die personengerechte Vorhersage von Erkrankungsrisiken und Medikalisierungskonzepte ausgerichtet ist, andererseits aber auch mit dem mehrdimensionalen bio-psycho-sozialen Ansatz der WHO und Konzepten der Patientensouveränität eine andere Ausrichtung erfahren könnte.

Leitbildfragen stellen sich auch, wenn es um die Bewertung der "Prävention" (und der gegenwärtigen Präventionseuphorie) geht. Auch die Frage, was nach den "fordistischen" Krankenhauskomplexen in ihrem Verhältnis zur Gesundheitsversorgung wie auch zur wirtschafts- und sozialräumlichen Entwicklung kommt und woran sich eine künftige Investitionswelle auszurichten hätte, ist hochgradig diskursiv. Ohne derartige Diskurse und Leitbilder wird eine Integration von Wirtschafts-, Gesundheits- und Innovationspolitik nicht auskommen.

Dr. Uwe Kremer, aufgewachsen in Osnabrück, studierte Sozialwissenschaften in Göttingen. Heute ist er Mitherausgeber der spw.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2010, Heft 179, Seite 14-19
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2010

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