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ARTIKEL/1072: Unvermutet radikale WHO-Analyse der Gesundheitskrise (medico international)


medico international - rundschreiben 03/09

Fehlt nur noch das Rezept
Eine unvermutet radikale WHO-Analyse der Gesundheitskrise

Von David Woodward


Der 2008 vorgelegte Bericht der Weltgesundheitskommission zu den sozialen Determinanten von Gesundheit liefert auf den ersten Blick nichts Neues. Unter dem Titel "Die Kluft in einer Generation überwinden" werden relevante Differenzen bezüglich der Gesundheit und insbesondere zwischen Reichen und Armen aufgezählt. Diese Ungleichheiten entstehen durch Unterschiede im Einkommen, Zugang zu Gesundheitsdiensten, sauberem Wasser, sanitären Anlagen und Bildung. Es gibt, so der Bericht, eine moralische Verpflichtung, gegen diese soziale Ungerechtigkeit zu handeln. All dies hätte zu jeder Zeit in den letzten 20 oder 30 Jahren gesagt werden können.

Tatsächlich aber ist dieser Bericht, verglichen mit den Ergebnissen vieler anderer globalen Kommissionen fast revolutionär. Die Kommission beschränkt sich nicht auf die unmittelbaren Gründe gesundheitlicher Ungleichheiten, sondern sie erkennt an, dass es Ursachen dafür gibt, warum Regierungen, besonders in der unterentwickelten Welt, nicht in der Lage sind, "Gesundheit für Alle" zu garantieren. Der Bericht benennt weiter, was geschehen muss, um sich gesundheitlicher Gerechtigkeit von lokaler bis globaler Ebene stetig anzunähern.

Regierungen in Entwicklungsländern sind stark behindert durch mangelnde Ressourcen, begrenzte Infrastrukturen, schwache administrative Kapazitäten und eingeschränkte Verhandlungsmacht in internationalen Verhandlungen. Dies ist in erheblichem Maß das Ergebnis globaler ökonomischer Einschränkungen und Einflussnahmen. Und diese liegen wiederum in einem System globaler "Governance" begründet, dass Macht und Einfluss zugunsten der "entwickelten Welt" kanalisiert und über die verzweifelten Bedürfnisse der Mehrheit der Weltbevölkerung stellt.

Die formellen Empfehlungen der Kommission sind zwangsläufig durch ihr Mandat beschränkt. Der Bericht drückt dies explizit aus: "Es war jenseits des Auftrags und der Kompetenz der Kommission, eine neue internationale ökonomische Ordnung zu entwerfen, die eine Balance findet zwischen den Bedürfnissen der gesamten Weltbevölkerung nach sozialer und ökonomischer Entwicklung, gesundheitlicher Gerechtigkeit und der Dringlichkeit auf den Klimawandel zu reagieren." Aber dies ist eindeutig, was die Befunde der Kommission implizieren.

Der Bericht ist gespickt mit schneidender Kritik an Globalisierung, Marktintegration, Handelsliberalisierungen, den ökonomischen Rezepten von Internationalem Währungsfonds und Weltbank, Abkommen der Welthandelsorganisation und den jüngsten Reformprogrammen im Gesundheitssektor. Er betont, dass seine Empfehlungen zu Arbeitsmarktpolitik und sozialer Sicherung von grundlegenden Änderungen im globalen Management der Ökonomie abhängen, und stellt die Notwendigkeit für wesentliche Reformen der globalen Governance heraus, um nicht nur Gesundheit zu befördern, sondern eine "echte Gleichheit des Einflusses" von Reichen und Armen sicherzustellen.

Dies ist eine außergewöhnlich radikale Agenda. Und - in der besten Tradition der Gesundheitsprofession - sie ist durch ein beeindruckendes Aufgebot von Evidenz verstärkt. Neun "Wissensnetzwerke", in denen die führenden globalen Experten in den relevanten Feldern arbeiten, haben sie zusammengetragen. Die Kommission mag nicht den Auftrag gehabt haben, eine neue internationale Wirtschaftsordnung zu entwerfen - aber sie hat ein überwältigendes Argument für die Notwendigkeit einer solchen präsentiert und einen unschätzbaren Anfangspunkt entwickelt.

Jetzt liegt es an der Zivilgesellschaft, die ein Schlüsselelement einer globalen Bewegung für Wandel ist, den Fehdehandschuh aufzunehmen und die Bedürfnisse, die die Kommission identifiziert hat, in ein konkretes Programm zu übersetzen. Dann, vielleicht, können wir tatsächlich hoffen, "die Kluft in einer Generation zu schließen".

David Woodward ist unabhängiger Entwicklungsberater und Mitglied des Wissensnetzwerkes zu Globalisierung und Gesundheit.

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Quelle:
medico international - rundschreiben 03/09, Seite 12-13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2009

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