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ARTIKEL/1049: Geriatrie in Schleswig-Holstein (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 2/2009

Geriatrie in Schleswig-Holstein

Interview mit Dr. Martin Willkomm geführt von Werner Loosen


Wir alle werden immer älter - diskutiert wird überall in Fachkreisen der so genannte demografische Wandel. Dieser Wandel bedeutet unter anderem, dass künftig weniger jüngere Menschen für immer mehr ältere Menschen sorgen müssen. Darauf verwies in einem Vortrag Angelika Bähre vom Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren in Kiel: "Das Gesundheitsministerium Schleswig-Holstein muss sich den großen Herausforderungen stellen, die sich durch den demografischen Wandel ... in den nächsten Jahrzehnten für die gesundheitliche Versorgung und Pflege ergeben werden, da sich gravierende Veränderungen in der Bevölkerungszusammensetzung ergeben." Dazu gehören Geburtenrückgang einerseits und steigende Lebenserwartung andererseits. Sie führen dazu, dass im gesamten Bundesgebiet allein bis 2020 die Zahl der über 60-Jährigen um 24 Prozent ansteigt. Besonders stark, so Angelika Bähre vom Referat Krankenhauswesen und Medizinische Rehabilitation, wird die Zahl der über 75-Jährigen zunehmen - um 50 Prozent bis 2020.

Vorausblickend

Im nördlichsten Bundesland hat sich die Krankenhausplanung schon Ende der Achtzigerjahre mit der älter werdenden Bevölkerung beschäftigt und darauf reagiert. Bereits 1990 wurden in Flensburg, Kiel, Neumünster und Itzehoe in 180 Planbetten geriatrische Patienten versorgt. Außerdem gab es noch eine Tagesklinik in Lübeck. Angelika Bähre: "Schleswig-Holstein hat als erstes Bundesland eine geriatrische Landesplanung aufgestellt und durch ein zweiphasiges Konzept im Krankenhaus - nämlich ein vollstationäres und tagesklinisches Versorgungsangebot - ein umfassendes geriatrisches Versorgungskonzept entwickelt und umgesetzt." Heute sind im aktuellen Krankenhausplan des Landes 13 geriatrische Kliniken und angeschlossene Tageskliniken ausgewiesen. Sie bieten mit insgesamt knapp 600 Betten und fast 200 Plätzen für die ältere Bevölkerung eine umfassende Diagnostik, Behandlung, Therapie und Frührehabilitation an. Neben der medizinischen und psychosozialen Behandlung ist das Ziel einer solchen geriatrischen Therapie die Wiederherstellung und Erhaltung der Fähigkeiten, die für eine selbstständige Lebensführung nötig sind.

Daneben ist Schleswig-Holstein, und zwar wiederum als erstes Bundesland, bemüht, die Gesundheitsversorgung älterer Menschen mit einem ganz neuen Angebot flächendeckend und Kassenarten übergreifend zu regeln. Das passiert mit dem bundesweit einmaligen Modellprojekt "Ambulante geriatrische Versorgung" (AGV) - ein weiterer Baustein in der flächendeckend gestuften medizinischen Versorgung von älteren Menschen. Dazu gehört die ambulante Versorgung in Kooperation mit den niedergelassenen Ärzten der jeweiligen Region. Seit 2007 wird dieses Projekt an vier Modellkrankenhäusern für die Dauer von zwei Jahren an 440 Patienten aus jeweils vier Regionen erprobt, wobei die niedergelassenen Ärzte einbezogen sind. Dazu sagt Angelika Bähre: "Die Etablierung dieses spezifischen Versorgungsangebots mit gleichzeitiger Erprobung eines flexiblen Finanzierungs- und Abrechnungssystems ist ein weiteres Ziel dieses Modellprojekts." Als eine Schwäche im neuen System gelte derzeit noch, dass auch bei einer Ausweitung der AGV auf alle Geriatrien im Lande bis zu zwei Drittel der geriatrischen Patienten allein aufgrund der Entfernung zu einer klinischen Geriatrieeinrichtung nicht in den Genuss der AGV kommen würden.

Festzustellen ist aber, dass die langfristigen Vorteile dieses Systems die Entscheidung für die AGV rechtfertigt: die geringeren Wiederaufnahmen in die stationäre Geriatrie, die Entlastung eben dieser stationären und teilstationären Systeme, die deutlich höhere Mobilität im häuslichen Umfeld und ein wirklich präventiver Ansatz im Sinne der Vermeidung von Pflegebedürftigkeit und Abhängigkeit von Fremdhilfe.

Stand
31.12.2005
Stand
01.11.2008
Klinikstandort
Betten
Plätze
Betten
Plätze
Flensburg
Heide
Rendsburg
Kiel
Neumünster
Itzehoe
Middelburg
Lübeck
Elmshorn
Ratzeburg
Geesthacht
Eutin
45
32
34
40
43
39
43
54
40
34
0
0
20
12
12
20
16
20
16
24
20
12
0
0
61
34
34
52
43
39
43
72
40
40
56
32
20
14
12
20
13
20
12
21
20
20
20
0
Zwischensumme
Husum
404
0
176
0
558
20
186
12
Gesamtsumme
578
198

*

Interview

Wir haben über das Thema mit Dr. Martin Willkomm, Jahrgang 1960, gesprochen. Er ist seit sechs Jahren Chefarzt des Krankenhauses Rotes Kreuz Lübeck und Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft klinisch-geriatrischer Einrichtungen in Schleswig-Holstein.

SHÄ: Sie kennen die Sicht des Ministeriums zur Situation der Geriatrie im Land - was sagen Sie als Praktiker dazu, Herr Dr. Willkomm?

Dr. Martin Willkomm: Ich kann diese positive Sicht nur voll und ganz unterstützen! Die Geriatrie in unserem Land besteht in der Tat aus gut miteinander vernetzten und damit funktionierenden Bausteinen. Die 13 geriatrischen Kliniken sehen sich keineswegs als Konkurrenz zu den Akutkrankenhäusern. Wir haben hier einen ganz klar definierten Versorgungsbaustein - nehmen wir nur die Lübecker Klinik: 90 Prozent meiner Patienten kommen zu mir, nachdem sie zuvor woanders - also im Akutkrankenhaus - behandelt worden sind. Ein Patient kann nach einem Schlaganfall sicher sein, dass er zu uns zur Weiterbehandlung kommt und nach drei Wochen wieder entlassen wird. Jüngere Patienten sehen wir übrigens gar nicht, etwa solche nach einem Sturz mit dem Motorrad. Wer aber älter ist als 60 Jahre, kommt in die geriatrische Klinik. Warum? Weil er in der Regel multimorbid ist, wenn er beispielsweise an den Folgen eines Schlaganfalls leidet.

SHÄ: Wie sehen Sie den Bedarf der geriatrischen Krankenhäuser?

Dr. Martin Willkomm: Ich sehe ihn auf jeden Fall flächendeckend. Keine Region darf ausgenommen sein. Schleswig-Holstein ist nun mal ein Flächenland, wir müssen es schaffen, von Geesthacht bis Flensburg geriatrische Patienten zu versorgen. Das gelingt uns derzeit recht gut, wenn wir mal die Inseln ausnehmen. Lassen Sie mich hinzufügen, dass es überall auch gut klappt mit der ambulanten Weiterversorgung. Ein wichtiger Baustein hierbei ist die geriatrische Tagesklinik. In der Regel sind die Patienten sechs Stunden täglich unter dem Klinikdach. Dann werden sie nach Hause entlassen, und das an jedem Wochentag. An den Wochenenden trainieren sie ihre Selbstständigkeit zu Hause.

SHÄ: Wie stehen die niedergelassenen Kollegen zur Geriatrie?

Dr. Martin Willkomm: Hier hat es in den letzten Jahren einen ausgeprägten Wandel gegeben. Die niedergelassenen Kollegen sind heute sehr interessiert an unserem Fachbereich. Wir haben beispielsweise hier in Lübeck - wie auch anderswo - einen gut funktionierenden Qualitätszirkel. Diese Zirkel werden in der Regel von einem niedergelassenen Kollegen geleitet. Die Kollegen holen sich in diesen Zirkeln geriatrische Themen, etwa geriatrische Assessmentbausteine oder Schmerztherapie im Alter, und die Ärztekammer unseres Landes vergibt dafür die entsprechenden Weiterbildungspunkte. Allein in unserer Klinik in Lübeck haben in den vergangenen drei Jahren zehn niedergelassene Kollegen hospitiert. Das mag Ihnen nicht viel erscheinen, es zeigt aber das große Interesse dieser Kollegen. Und wenn Sie davon ausgehen, dass das in den anderen geriatrischen Kliniken genauso aussieht, dann kommen Sie auf die stolze Zahl von mehr als einhundert! Ja, die Niedergelassenen sehen die Geriatrie mittlerweile als überaus wichtig an. Und zwar egal, wohin Sie schauen - Fort- und Weiterbildung stehen an allen geriatrischen Standorten, ob Kiel, Itzehoe, Flensburg, Neumünster, Eutin oder anderswo ebenfalls hoch im Kurs. Wir haben eine sehr fruchtbare Kommunikation zwischen den Niedergelassenen und den geriatrischen Kliniken, überall im Land.

SHÄ: Da erscheint es fast überflüssig, wenn ich wissen möchte, ob Sie trotz dieser als gut geschilderten Situation Wünsche haben ...

Dr. Martin Willkomm: ... lassen Sie es mich so ausdrücken: Die geriatrische Versorgung ist in Schleswig-Holstein auf einem guten Weg. Ich hoffe und wünsche, dass das so weitergeht. Die üblichen Liegezeiten von drei Wochen dürfen nicht aus ökonomischen Gründen reduziert werden. Unsere Patienten haben viele Krankheiten. In der Regel kommen diese Menschen liegend zu uns, und sie verlassen uns nach Ablauf der dreiwöchigen Behandlung mobil. Wir haben in allen diesen geriatrischen Kliniken ein multidisziplinäres Team mit einer großen Zahl von Therapeuten, unter anderen Psychologen, Sprach- und Schlucktherapeuten - alle diese Kolleginnen und Kollegen brauchen die dreiwöchige Behandlungszeit. Nehmen Sie noch eine Zahl: 70 bis 80 Prozent der von uns behandelten Patienten gehen in ihr häusliches Umfeld zurück - wir sprechen vom selbst bestimmten Umfeld. Diese sehr günstige Prognose sollte durchaus bekannt gemacht werden - so wie hier im Ärzteblatt. Während in den Akutkrankenhäusern die Verweildauer immer mehr verringert worden ist, ist dies bei uns nicht im gleichen Maße geschehen im Interesse der älteren Patienten. Für sie steht das jeweilige geriatrische Team überall im Land zur Verfügung.

SHÄ: Besten Dank für diese Erläuterungen, Herr Dr. Willkomm.

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200902/h090204a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Geriatrische Kliniken in Schleswig-Holstein (Stand: 11/2008)

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Februar 2009
62. Jahrgang, Seite 34 - 37
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Karl-Werner Ratschko (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -181
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2009

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