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AUSLAND/1442: Gaza - Schwere Wochen (medico international)


medico international - Der Jerusalem-Blog von Tsafrir Cohen

Schwere Wochen
Ein Brief aus Jerusalem

Von Tsafrir Cohen, 29. Januar 2009


Seit am 27. Dezember des vergangenen Jahres in Gaza der Krieg ausbrach, erlebe ich die schwersten Wochen meiner Arbeit für medico international in Israel und Palästina. Die katastrophalen Ereignisse, die nur eine knappe Autostunde entfernt von meinem Jerusalemer Büro stattfanden, haben mich mehr als einmal verzweifeln lassen, ob wir angesichts der schieren Gewaltexplosion die Hoffnung auf eine bessere Zukunft noch aufrechterhalten können.

Mit Beginn der Bombardierungen leisteten wir und unsere palästinensischen Partner Nothilfe in Gaza: Die medizinischen Teams der Palestinian Medical Relief Society (PMRS), gestärkt durch ein großes Netz von Freiwilligen, halfen buchstäblich rund um die Uhr. Sie evakuierten Verletzte, brachten die Bombenopfer in die Krankenhäuser, leisteten Erste Hilfe - nicht selten sogar unter direktem Beschuss aus der Luft. Die Ärzte des medico-Partners arbeiteten im Shifaa' Krankenhaus, dem einzigen Ort in Gaza, in dem noch notdürftig operiert werden konnte.

Die Nothilfe von medico international ermöglichte es unseren palästinensischen Partnern schnell auf die humanitäre Katastrophe in Gaza zu reagieren. Die medizinischen Depotbestände der PMRS konnten mit Labormaterialien wieder aufgefüllt werden. 2.000 Erste-Hilfe-Kits wurden verteilt und Freiwillige durch Erste-Hilfe-Kurse ausgebildet. Jetzt, nach Eintreten des Waffenstillstands, ist die medico-Hilfe nach wie vor nötig: Sozialarbeiterinnen betreuen die Angehörigen der vielen Toten und Verletzten, Physiotherapeuten kümmern sich um die langfristige Genesung der Verwundeten, 330 zusätzliche Freiwillige werden in Erster Hilfe ausgebildet.

Der Zuspruch, den medico während dieser Tage erlebte, war überwältigend. Ich bekam zahlreiche Emails von Spenderinnen und Spendern, die meinen Blog auf der medico-Webseite verfolgten oder eines meiner Rundfunk-Interviews gehört hatten. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken. Denn mitunter war der tägliche Kontrast zwischen meiner Arbeit im medico-Büro, der Koordinierung der Nothilfe mit unseren palästinensischen Partnern in Gaza, ihren verzweifelten Berichten über neueste Opferzahlen und den völlig unbeteiligten Alltagsgesprächen in den Cafés von Tel Aviv und West-Jerusalem für mich nur sehr schwer auszuhalten. So schmerzlich es ist, aber in Israel haben sich während dieses jüngsten Dreiwochenkrieges nur wenige Menschen für die Toten und Verletzten in Gaza interessiert.

Unsere Partner in Israel fühlen sich einsamer denn je. Im Land herrscht ein nahezu blinder Glaube an die Armee und die Rechtmäßigkeit ihrer Kriegstaktik, hinzu kommt eine erschreckende Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern der Gegenseite, selbst wenn es sich erwiesenermaßen um Frauen, Kinder oder alte Menschen handelt. Während des Krieges gab es kaum Bilder der Toten in Gaza zu sehen, und kaum einer will sie heute sehen. Die israelischen Ärzte für Menschenrechte (PHR) versuchen diese Teilnahmslosigkeit aufzubrechen, indem sie ihrer eigenen Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Die Menschenrechtler sind Anlaufstelle für alle jene Israelis, die ihre Solidarität mit der Bevölkerung von Gaza zeigen wollen. medico unterstützt sie dabei.

Schon unmittelbar nach Beginn der israelischen Bombenangriffe erhielten die Ärzte für Menschenrechte (PHR) detaillierte Bedarfslisten aus den Krankenhäusern in Gaza, mit denen sie seit Jahrzehnten eng kooperieren. Sie verschickten daraufhin Medikamente und flankierten die konkrete Hilfe mit Berichten über die Situation und Protestaktionen. Die Menschenrechtler untersuchen jetzt die Geschehnisse in Gaza und prüfen, ob ihre eigene Armee international gültige Regeln der Kriegsführung verletzte. Auf Bitten der PHR und mit finanzieller Unterstützung von medico gehen jetzt unabhängige Ärzte und Forensiker aus dem Ausland den Hinweisen in Gaza nach und untersuchen das Ausmaß der Zerstörungen des Gesundheitssystems.

Hilfe für Gaza ist nach wie vor notwendig, auch wenn der Waffenlärm vorerst verstummt ist. Die Bevölkerung, besonders Frauen und Kinder, ist traumatisiert, Tausende von Verletzten müssen begleitet werden auf dem langen Weg der Genesung und bedürfen unserer Unterstützung - sollen sie zurechtkommen mit bleibenden Behinderungen oder Entstellungen durch Brand- und Phosphorbomben. Doch unser Engagement ist mehr als nur die dringend benötigte Überlebenshilfe. Denn die medico-Partner in Israel und Palästina eint auch die Vision einer Überwindung der Feindverhältnisse zwischen beiden Gesellschaften. Die Spielräume für diese sprichwörtliche paradoxe Hoffnung auf Frieden durch Freiheit aber drohen nun in den Trümmern von Gaza begraben zu werden.

Wo beginnt, wo endet Israel, wo ist noch Palästina? Die Antwort liegt allein in fairen Verhandlungen, die Barack Obama und die Europäische Union jetzt endlich durchsetzen müssen. Damit dieser Gaza-Krieg vielleicht der letzte war und Israelis wie Palästinenser nebeneinander in Sicherheit voreinander leben können. Das verlangt einen Staatsvertrag über klare Grenzverläufe, israelischen Siedlungsabbau und die internationale Garantie palästinensischer Souveränitätsrechte. Der Druck zum Frieden muss von außen kommen; Demokratie, Zivilität und eine gelebte Freiheit aber, können nur aus beiden Gesellschaften von unten entstehen. Die medico-Partner in Palästina und in Israel sind Zeichen dieser paradoxen Hoffung.


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Quelle:
medico international - Website
Der Jerusalem-Blog von Tsafrir Cohen - Beitrag vom 29. Januar 2009
http://www.medico.de/themen/vernetztes-handeln/blogs/paradoxe-hoffnung/2009/01/29/24/
mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Herausgebers
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2009