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AUSLAND/1423: Einsatz als Rettungssanitäter in Gaza - Nachtschicht des 5. Januar (Sharon, ISM)


Von Sharon aus Gaza - 5. Januar 2009

Nachtschicht des 5. Januar

Die UNRWA-Flüchtlingsschule wird angegriffen


20 Uhr: Ich werde um 20 Uhr im Al Quds-Krankenhaus zur Schicht beim Roten Halbmond erwartet, aber während ich mit dem Generatorstrom der am Meer gelegenen Wohnung zuendeschreibe, erreichen mich die seltsamsten Geräusche von See her. Es ist ein zischender Laut wie der von einem Raketengeschoß, das sehr nah herankommt, V und ich sehen einander an, blicken zum Fenster, das auf's Meer zeigt - er zieht seine Kappe tiefer und beugt sich vom Fenster fort, ich ziehe die Jacke über den Kopf, damit ich nicht sehe, was passiert. Aber statt mit einer Detonation zu enden, wird das Geräusch schwächer und entfernt sich.

Es wiederholt sich dann mehrmals, und ich erkenne, daß das, was wir hören, keine Raketen sind, sondern Flugzeuge - sehr laut und unglaublich schnell, die mich an den Begriff Überschall denken lassen, wenn dies außerhalb von Comics überhaupt etwas bedeutet. Ich mache mich auf den halbstündigen Weg die dunkle Strecke zum Al Quds-Krankenhaus entlang, aber bin erst halb den Hügel hinaufgekommen, als noch mehr Flugzeuge über meinen Kopf rasen und Detonationen zwischen mir und dem Krankenhaus einsetzen. Ich verliere absolut die Nerven, bleibe reglos unter einem Baum stehen und informiere Eva, daß ich die Strecke nicht allein schaffe. Die Flugzeuge haben auch sie in Panik versetzt. Ich laufe schnell zur Wohnung zurück und versuche zu überlegen, was zu tun ist. V schlägt mir vor, in die andere Richtung zum Al Shifa-Krankenhaus zu gehen und auf einen der Rettungswagen aufzusteigen, die nach Al Quds pendeln.

Was sollen diese Flugzeuge? Dieses kleine Stückchen Land hat nicht einmal eine richtige Armee! Der Begriff "Overkill" war nie passender. Ich brauche eine Weile, den Mut zusammenzubringen, mich wieder auf den Weg zu machen, glücklicherweise sind die unheimlichen Flugzeuge fort.

22.45: Ich bin noch immer in Al Shifa, weil ich von einem Press TV-Reporter abgefangen wurde, der ein Interview mit mir machen wollte, aber bin in einen Rettungswagen gestiegen, der sich gleich auf den Weg machen wird. Gerade, als er losfahren will, fallen an jeder Seite des Krankenhauses Bomben, und wir hasten zurück unter den schützenden Eingang.

Als wir dann endlich in Al Quds angekommen sind, ist die Atmosphäre hektisch. Drei Männer sind gerade eingeliefert worden, die sich vor einem bombardierten Haus in einem Auto befunden hatten, mir ist nicht klar, ob einer von ihnen bereits tot ist oder im Sterben liegt. Wir bringen einen anderen von ihnen schnell nach Al Shifa zur Neurochirurgie. Dann werden wir mit Höchstgeschwindigkeit zu Notrufenden losgeschickt, durch eine dunkle Stadt voller Qualm. Israelische Doppelangriffe geschehen jetzt so oft, daß der Streß für die Rettungskräfte enorm ist; die Sanitäter tun alles in Höchstgeschwindigkeit und schreien dabei in voller Lautstärke. Der wohlbekannte Geruch von Raketenfeuer füllt die Luft, der gleiche Geruch, der den grauen, toten Männern entströmt, die wir in den letzten Tagen geborgen haben.

Wir spähen in die Dunkelheit, um zu sehen, ob jemand nach uns Ausschau hält; wir entdecken einen Jungen, der zurück um die Ecke läuft. Er kehrt mit seiner Familie zurück, es sind 25, die meisten davon sind zu Tode geängstigte Kinder. Ein Junge hüpft. Die Sanitäter laufen los, um ihn zu packen und rufen etwas in der Art wie: "Bewegt euch, wir müssen hier raus!" Alle werden in Rettungswagen geschoben; ein Mädchen von etwa sechs Jahren drückt man mir durch das halbgeöffnete Fenster in die Arme. Wir jagen zurück zum Krankenhaus, laden sie ab an einem relativ geschützten Ort, rasen zurück, um einen Vater mit seiner etwa achtjährigen Tochter im Arm abzuholen, eine Kopfverletzung.

Später besuche ich die 25köpfige Familie die in einem Raum versammelt ist, wo man ihnen Decken und etwas zu essen gegeben hat. Sie scheinen keine ernsten Verletzungen zu haben, obwohl dies, als ich mehr erfahre, wie ein Wunder erscheint. Ich frage zwei sehr artikuliert englischsprechende, wunderbare Teenager aus der Familie, R und S, nach ihrer Geschichte. Sie erklären mir, daß die eine Hälfte der Familie aus ihrer Tante und deren Kindern besteht, die in ihr Haus gekommen sind, weil ihr eigenes zerstört wurde. R sagt: "In den vergangenen drei Nächten wurden wir dreizehnmal in der ersten, dreimal in der zweiten und heute nacht zehnmal getroffen. Der dritte Stock war fort, dann der zweite, wir hatten gerademal noch den ersten, jetzt gibt es fast nichts mehr." Sie übersetzen mir die Worte der Tante: "Welche Lösung gibt es für uns? Welche?" Die Mädchen fügen hinzu: "Wir hatten keine Lösung von Fatah. Keine Lösung von Hamas. Wir wollen einfach nur Frieden! Nur Frieden!"

"Wohin werdet ihr gehen", frage ich sie.

"Das wissen wir nicht", antworten sie. "Wir haben noch andere Familienangehörige, aber sie haben auch ihr Haus verlassen, weil die Israelis gedroht haben, es zu bombardieren. Wir wissen es nicht."

Ich höre von E, daß sie heute abend gerade dabei war, den Internetzugang im Scharuch-Gebäude zu nutzen, das Russia TV, Fox, wahrscheinlich auch Reuters, und andere Pressebüros beherbergt, als dieses siebenmal in Folge getroffen wurde. Sie gelangte mit allen anderen sicher aus dem zehnten Stock zum Erdgeschoß, aber sie sagt, daß sie glaubt, daß das ganze Gebäude einstürzen wird.

Es gibt die Nacht hindurch verworrene Meldungen über weitere Angriffe auf Moscheen und Wohnhäuser in ganz Gaza. Nach den hektischen ersten Stunden sind wir in der Mitte der Schicht damit beschäftigt, fünf Frauen in den Wehen abzuholen; beim 5. Anruf denkt S, daß ihr Fahrdienstkoordinator einen Scherz macht. Ich freue mich darüber, unsere Patienten anlächeln zu können. Dann erzählt mir S von einer 17jährigen Frau, die gestern in die Wehen gekommen ist. Der einjährige Säugling ihrer Schwägerin war in den vorangegangenen Tagen in deren Armen getötet worden, während die Kugel weiter eindrang und die Mutter verletzte. Und ihr Schwiegervater ist tot, aber man hat seinen Körper nicht bergen können.

4 Uhr: Hinter den zwei Schreibtischen der Rezeption, die einander gegenüberstehen sitzen zwei Familien auf Plastikstühlen, die im Kreis stehen. Sie sind still. Ein Mediziner erklärt, daß das Wohngebäude hinter uns hier in Al Quds eine Bombenwarnung erhalten hat. Diese Familien haben sich zu uns geflüchtet. Andere bleiben im Gebäude.

6 Uhr: Ich spreche über das Telephon des Büros mit EJ in Dschabalja. Ich habe vergessen zu erwähnen, daß die Ambulanz des Roten Halbmonds wieder ihre Zentrale verlegt hat, weil es Befürchtungen gab, daß das Karmel Adwan-Krankenhaus als Regierungseinrichtung ein Ziel darstellen könnte. So haben EJ, Mo und ich also die Nachtschicht von der neuen Zentrale im Al Awda-Krankenhaus aus erledigt. EJ sagt, daß um etwa 5 Uhr früh vier Ambulanzen losgefahren sind, um weitere Verwundete zu bergen, die durch den Angriff auf ein Haus verletzt wurden. Die Rettungswagen kehrten noch einmal zurück, um weitere Verwundete abzuholen, wieder in einem Viererkonvoi, und die israelische Armee bombardierte das Haus genau in dem Moment, als sie ankamen zum zweiten Mal. Die Sanitäter außerhalb des Fahrzeugs wurden von umherfliegendem Schutt verwundet. EJ war drinnen.

S erzählt mir, daß es einen Angriff auf die UNWRA-Schule in Schatr gegeben hat mit Apache-Hubschraubern, wie er meint, bei dem drei UNWRA-Freiwillige getötet wurden, die sich um die Flüchtlinge kümmerten. Er soll mit dem Rettungswagen los, um die Körperteile zu bergen, da sie sich in der Nähe der Sanitäranlagen befinden, was für die Menschen furchtbar ist. Aber der RH-Chef sagt, daß dies der einzige Rettungswagen in Bereitschaft ist und deshalb warten muß, bis andere zurückgekehrt sind.

17 Uhr: Wir haben gerade in der vergangenen Stunde gehört, daß die Al Fakhoura-Schule des UNWRA bombardiert worden ist, von Panzern, denken wir, und es wurde bestätigt, daß 43 Mitglieder einer einzigen weitverzweigten Familie getötet wurden. UNWRA-Schulen beherbergen Flüchtlinge, deren Wohnungen Israel bereits bombardiert hat oder wo man damit gedroht hat, es zu tun. Wir haben auch gehört, daß davor eine dritte UNWRA-Schule angegriffen wurde, aber wir haben noch keine weiteren Einzelheiten. Ich kann den Zorn nicht beschreiben, den ich gerade empfinde.

Unsere Gruppe hält zusammen, aber wir fühlen die zunehmende Belastung durch den ungenügenden Zugang zum Internet, Mangel an Essen, Schlaf oder an Hoffnung auf ein Ende dieses Wahnsinns. Die Zahl der Toten hat 570 überschritten und die Verletzten belaufen sich auf über 2.600.



Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

Originalfassung des Berichts:
http://talestotell.wordpress.com/2009/01/06/jan-5-night-shift-unrwa-refuge-schools-attacked/#more-375


Sharon ist eine australische Menschenrechtsverteidigerin und Aktivistin des ISM (International Solidarity Movement), die sich zur Zeit in Gaza aufhält. In ihrem Blog dokumentiert sie laufend die israelischen Angriffe auf Gaza.
www.talestotell.wordpress.com


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Quelle: www.talestotell.wordpress.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2009