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STELLUNGNAHME/006: Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie zur Entscheidungslösung bei der Organspende (dggö)


dggö - Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie - 7. November 2011

Organspende und Entscheidungslösung: ein erster Schritt, aber nicht ausreichend

Stellungnahme der dggö vom 2.11.2011


Der neue Anlauf von Gesundheitsminister Bahr für mehr Organspenden über eine Entscheidungslösung wird von der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie begrüßt. In einer Stellungnahme, die sie am 4. November in Berlin der Presse vorstellte, schlägt sie zwei Erweiterungen vor.

1. Einführung eines bundesweiten Spenderregisters

Im Gegensatz zum von Bahr favorisierten Spenderausweis oder zu einem entsprechenden Eintrag auf der Gesundheitskarte leistet das Register dem Misstrauen in der Bevölkerung keinen Vorschub, ein potentieller Spender könnte keine optimale Therapie bekommen, da eine Abfrage beim Organspenderegister auf eingetragene Spendebereitschaft nur nach der Feststellung des Hirntods möglich wäre.

2. Berücksichtigung der Spendebereitschaft durch einen Bonus bei der Organallokation ("Reziprozitätslösung").

Dies würde nicht nur die Anreize zur Organspende stärken, sondern auch dazu beitragen, kontroverse Diskussionen über die Bedeutung des Hirntodes in Zukunft zu vermeiden.

Quelle:
aus dem Begleitschreiben zur Stellungnahme von Stefan Felder, Generalsekretär der dggö


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Es folgt der Wortlaut der Stellungnahme.


Stellungnahme der dggö vom 2. November 2011

Organspende und Entscheidungslösung: ein erster Schritt, aber nicht ausreichend

Endlich wendet sich die Politik dem schwerwiegenden Problem zu, dass in Deutschland jedes Jahr mehr als 1000 Menschen sterben müssen, weil sie vergeblich auf ein Spenderorgan warten. Diesmal beschränkt man sich nicht auf den moralischen Appell zur Spende. Eine zu geringe postmortale Spendenbereitschaft der Bevölkerung spielt als Ursache des Mangels ohnehin eine kleinere Rolle als die zu geringe Erklärungsbereitschaft. Fehlt eine dokumentierte ausdrückliche Erklärung des Spendenwillens, erschwert dies das Angehörigengespräch, das einer Entnahme von Organen beim hirntoten Patienten vorausgehen muss. Die Belastungen der Angehörigengespräche beeinträchtigen die Mitwirkungsbereitschaft von Ärzten, Pflegepersonal und Kliniken an der Organentnahme und reduzieren wesentlich die in Deutschland realisierbaren Transplantationen.

Die sog. "Entscheidungslösung", auf die sich die Gesundheitsminister der Bundesländer geeinigt haben, soll die Bürger mit sanftem Druck dazu bewegen, eine ausdrückliche Erklärung entweder für oder gegen eine Organspende abzugeben. Kontakte mit Behörden, etwa beim Abholen des Führerscheins, sollen benutzt werden, um den Bürger zu einer entsprechenden Erklärung aufzufordern.

Die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie begrüßt den Willen des Gesetzgebers, das gescheiterte Transplantationsgesetz endlich zu reformieren. Die Einführung der "Entscheidungslösung" wird allein allerdings kaum zu einem wesentlich höheren Organaufkommen in Deutschland führen. Zunächst einmal ist es weder wünschenswert noch von den Initiatoren der Gesetzesnovelle beabsichtigt, die Bürger - etwa unter Androhung eines Bußgelds - zur Abgabe einer Erklärung zu zwingen. Zudem ist geplant, als dritte anzukreuzende Option neben "Zustimmung" und "Ablehnung" auch die Nicht-Entscheidung zuzulassen. Den Bürgern fehlt damit weiterhin jeder Anreiz, sich mit den betreffenden Entscheidungen zu befassen, zumal es den meisten unangenehm ist, Vorkehrungen für den eigenen Tod zu treffen. Sofern keine flankierenden Maßnahmen ergriffen werden, wird die Initiative der Gesundheitsminister daher verpuffen.

Die DGGÖ hält zwei Ergänzungen für notwendig, um das Ziel der Reform, ein höheres Aufkommen an Organspenden, zu erreichen:

1. Es sollte ein bundesweites Register angelegt werden, in dem sowohl positive als auch negative Erklärungen zur Spendebereitschaft dokumentiert werden. Wenn ein Krankenhaus nach Feststellung des Hirntods eines Patienten dessen ausdrückliche Willenserklärung unmittelbar erfährt, erspart das allen Beteiligten die Belastungen des Angehörigengesprächs. Die Angehörigen werden informiert, müssen aber keine Entscheidungen treffen oder Gespräche in dieser Sache führen. Da die Abfrage erst nach der Hirntodfeststellung erfolgen darf - und ihr Zeitpunkt festgehalten wird -, werden Sorgen, man könnte als potentieller Spender schlechtere Überlebenschancen haben, zerstreut.

2. Zur Organspende bereite Personen sollten auf der Warteliste einen Bonus erhalten und Personen, die ihren Widerspruch erklärt haben, einen Malus. Diese Regel der Gegenseitigkeit (Reziprozität) wird dazu führen, dass die Bürger sich in ihrer Spendenentscheidung auch in die Rolle eines potentiellen Empfängers versetzen werden. Wenn sie nicht nur über ihren Tod, sondern auch ihr Weiterleben nachdenken, wird das die Einstellung zur Organspende in einen positiven Bezugsrahmen stellen und damit fördern. Zugleich wird die heute herrschende Ungerechtigkeit ausgeräumt, dass von zwei gleich geeigneten und gleich bedürftigen potentiellen Empfängern ausgerechnet derjenige ein verfügbares Organ bekommen kann, der einer Organentnahme für den eigenen Todesfall ausdrücklich widersprochen hat, und nicht der Inhaber eines Organspenderausweises.

Viele große Weltreligionen kennen die "Goldene Regel", die besagt, dass man von anderen nicht verlangen darf, was man selbst nicht zu geben bereit ist. Die Prinzipien der solidarischen Krankenversicherung verlangen ebenfalls, dass jeder nach seinen Fähigkeiten beiträgt, um nach seinen Bedürfnissen Leistungen zu erhalten. Überraschenderweise werden aber gegen das Prinzip der Reziprozität bei der Organverteilung, das in Israel und Singapur bereits Gesetz ist, in der politischen Debatte hierzulande immer wieder Bedenken laut.

So wird behauptet, die Gegenseitigkeitsregel vermittle den Menschen einen Anreiz, zunächst einmal ihren Widerspruch zu erklären und erst bei Organversagen diese Erklärung zu widerrufen, um in den Genuss bevorrechtigter Organzuteilung zu kommen. Ein solches Verhalten kann jedoch durch Wartezeiten nach einem Übergang vom Widerspruch zur Spendenbereitschaft verhindert werden. Auch wird argumentiert (so auch 2007 vom Nationalen Ethikrat), die Reziprozität wäre ein Bruch mit der lange geübten Tradition, nämlich dem Prinzip des gleichen Zugangs zu Gesundheitsressourcen, unabhängig vom eigenen Vorverhalten. Wir halten diesen Hinweis nicht für stichhaltig. Zum einen sieht õ 52 SGB V bereits Leistungsbeschränkungen bei Selbstverschulden vor. Zum anderen ist das genannte Prinzip (der Nichtberücksichtigung des Vorverhaltens) auch dem Umstand geschuldet, dass das Vorverhalten (z.B. Alkoholkonsum) selbst bereits Symptom einer Krankheit sein kann und man andernfalls das "Opfer" noch weiter bestrafen würde. Insoweit lässt sich das Prinzip aber nicht auf den Fall ausweiten, in dem das Vorverhalten eine bewusste Willenserklärung ist, nämlich die Knappheit von Spenderorganen durch die eigene Spendenbereitschaft zu dämpfen oder sie durch einen Widerspruch gegen die Organentnahme zu verschärfen.

Eine um den Reziprozitäts-Gedanken ergänzte Institution der Organspende scheint auch aus einem weiteren Grund wichtig: In der öffentlichen Debatte werden immer wieder Zweifel geäußert, ob der Hirntod wirklich das Ende des Lebens bedeutet. Auch wenn die medizinische Wissenschaft diese Zweifel ganz überwiegend für unbegründet hält, kann man doch nicht ausschließen, dass viele Bürger aus diesem Grund - oder auch aus anderen begreiflichen Überlegungen wie der Furcht vor einem "unwürdigen" Sterben an der Herz-Lungen-Maschine - einer Organentnahme widersprechen. Die Gesellschaft hat diese sehr persönlichen Sichtweisen jedes einzelnen zu respektieren. Sie sind legitime Privatangelegenheit, solange der Nicht-Teilnehmer nicht erwartet, Organe im Bedarfsfall gleichberechtigt mit Teilnehmern zu erhalten. Die Spendenbereiten innerhalb unserer Gesellschaft bilden eine Solidargemeinschaft zur gegenseitigen Lebensrettung. Aber auch für die anderen, die selbst nicht spendenbereit sind, könnte diese Regelung vorteilhaft sein, wenn nämlich der Anreiz zur Teilnahme an der Solidargemeinschaft so groß wird, dass das Knappheitsproblem beseitigt wird und damit alle Transplantationskandidaten profitieren.

Die Reziprozitäts-Regel kann darüber hinaus friedensstiftend wirken, weil sie der Gesellschaft kontroverse Debatten darüber erspart, ob der Hirntod wirklich unumkehrbar ist. Wer nämlich als Spendenbereiter die Anwendung des Hirntodkriteriums bei sich selbst akzeptiert, tut dies in dem Bewusstsein, dass er nur dadurch davon profitiert, dass auch andere bereit sind, den Hirntod bei sich anzuerkennen. Wer dagegen Bedenken hat, kann dem widersprechen, ohne dass ihm moralische Vorhaltungen gemacht werden können, denn er profitiert ja auch weniger von der Spendenbereitschaft anderer.

Wenn sich die Gesellschaft grundsätzlich auf die Reziprozität verständigt, sind wichtige Detailfragen zu klären: Wie stark sollen Bonus und Malus bei der Organallokation in Relation zu den übrigen Vergabekriterien gewichtet werden? Wie lang muss die Wartezeit bei der Rücknahme eines Widerspruchs sein, damit ein Missbrauch der Regeln verhindert wird? Diese Fragen berühren auch Gerechtigkeitsaspekte und müssen letztlich politisch entschieden werden.

In der jetzigen Fassung des Gesetzentwurfs wird die erhoffte Wirkung der Reform als einer isolierten Maßnahme ausbleiben. Mit den vorgeschlagenen Ergänzungen besteht dagegen Grund zur Annahme, dass das Aufkommen an Spenderorganen nachhaltig steigt und die Zahl der Todesfälle auf der Warteliste deutlich verringert werden kann.


Vorstand
Prof. Dr. Volker Ulrich, Vorsitzender, Bayreuth
Prof. Dr. Friedrich Breyer, Designierter Vorsitzender, Konstanz
Prof. Dr. Jürgen Wasem, Stellvertretender Vorsitzender, Essen
Prof. Dr. Stefan Felder, Generalsekretär, Essen


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Quelle:
Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie - dggö e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2011