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ARTIKEL/1525: Fachkräfte - Berufliche Integration von ausländischen Kräften hürdenreich (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 2/2020, Februar 2020

Fachkräfte
Noch reichlich Luft nach oben

von Martin Geist


Das Gesundheitswesen sucht Fachkräfte, auch unter zugezogenen Menschen. Bis die aber in der Versorgung landen, müssen viele Hürden überwunden werden. Tagung im Kieler Landeshaus.


Ein "ebenso attraktives wie herausforderndes Berufsfeld" ist aus Sicht des Netzwerks Integration durch Qualifizierung (IQ) das Gesundheitswesen. Das gilt auch für Menschen, die infolge von Flucht oder aus anderen Gründen nach Deutschland gekommen sind. Eine Tagung im Kieler Landeshaus zeigte: Fachkräfte im ärztlichen und pflegerischen Bereich sind Mangelware, sodass Zugewanderte gute Perspektiven haben. Andererseits hapert es an der Anerkennung der beruflichen Qualifikation.

"Fachkräftemangel ist das brennende Thema in der Gesundheitsversorgung und Pflege", betonte Farzaneh Vagdy-Voß vom IQ Netzwerk, das unter dem organisatorischen Dach des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein angesiedelt ist und sich als Koordinationsstelle für die Anerkennung von im Ausland erworbenen beruflichen Qualifikationen einsetzt. Zuwanderung kann dabei aus ihrer Sicht zwar etwas zur Entspannung des Problems beitragen, es aber keineswegs lösen. Zweifellos gibt es nach Überzeugung von Vagdy-Voß bei diesem Thema aber noch sehr viel Luft nach oben. Bis zum Jahr 2035 klaffe im Gesundheitsbereich allein in Schleswig-Holstein eine Lücke von 20.000 bis 30.000 Fachkräften. Im März 2019 waren nach amtlichen Statistiken im Land allerdings erst 2.874 Ausländer im Gesundheitswesen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Integration stelle die Branche und die Politik offenbar vor erhebliche Herausforderungen, merkte die Koordinatorin des IQ Netzwerks Schleswig-Holstein an.

Barbara Schmidt vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales erläuterte in Kiel, welche Chancen bestehen und wo Fallstricke liegen. Aus ihrer Sicht haben es Zugewanderte auf dem deutschen Arbeitsmarkt heute leichter als je zuvor. Ein Recht auf Feststellung von im Ausland erworbenen Qualifikationen gebe es unabhängig von einem bestimmten Aufenthaltstitel, zudem sei inzwischen ein dichtes Netz von entsprechenden Beratungs- und Anerkennungsstellen aufgebaut worden. Deren Arbeit zeigt offenbar Erfolge. So fanden in Schleswig-Holstein in den ersten neun Monaten des Jahres 2019 etwa 100 ärztliche Fachkräfte einen Arbeitsplatz und weitere rund 80 Zuwanderer mit Pflegeausbildung. Dass dies auf Anhieb gelingt, ist allerdings keineswegs die Regel. Oft gibt es laut Schmidt zunächst einen Bescheid über "teilweise Gleichwertigkeit" des jeweiligen Abschlusses, die geforderten Zusatzqualifikationen würden dann "in der Regel individuell" vermittelt. Gerade im stark spezialisierten Gesundheitswesen stehen nach Angaben der Expertin oft "keine Angebote von der Stange" zur Verfügung.

Die geforderten Nachqualifizierungen bedeuten allerdings meist nicht, dass die Betroffenen so lange einkommenslos in Kursen sitzen. Oft werden die nötigen Lektionen parallel zu einer Beschäftigung in einer Klinik oder Pflegeeinrichtung erlernt, was unter anderem dank innovativer Angebote wie dem von der Volkshochschule Main-Taunus-Kreis entwickelten Online-Kurs KiK (Kommunikation im Krankenhaus) möglich ist. Diese Initiative sei "dringend zur Nachahmung empfohlen", weil sie sehr praxisnah und flexibel den Erwerb von berufsbezogenen Deutschkenntnissen fördert, betonte Schmidt.

Ansonsten leidet die berufliche Integration im Heil- und Pflegebereich nach ihrer Erfahrung darunter, dass Verantwortliche in Ämtern und Verwaltungen trotz guten Willens unterschiedlich agieren und es zu Reibungsverlusten kommt. Auch gibt es häufig Klagen darüber, dass ausländische Kräfte aus Zeitmangel beim Stammpersonal zu wenig Anleitung aus der Praxis bekommen und sich entsprechend schwer mit der Nachqualifizierung tun. Die Folgen könnten für die regionale Versorgung verheerend sein, warnte Schmidt. Wenn es mit der Anerkennung und Nachqualifizierung in anderen Bundesländern schneller geht, wandert das begehrte Personal nach ihren Worten im Nu ab: "Das sind Leute, die unter abenteuerlichen Umständen aus Syrien oder Afghanistan geflüchtet sind - für die ist es kein Problem, auch noch nach Hessen umzuziehen." Ihre Warnung gen Schleswig-Holstein: "Die Länder stehen in Konkurrenz zueinander, das muss man im Hinterkopf behalten."

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1,2 % beträgt die Arbeitslosigkeit bei ärztlichem und pflegerischem Personal in Schleswig-Holstein.
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3,6 % der Beschäftigten im deutschen Gesundheitswesen haben keinen deutschen Pass. In der Gastronomie beträgt dieser Anteil rund 25 %.
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Wenig spricht indes dafür, dass sich am Konkurrenzkampf absehbar etwas ändern wird. "Der Markt ist leergefegt", verwies Dr. Carola Burkert vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) auf eine mit Quoten von 1,2 bis 1,3 Prozent in Schleswig-Holstein praktisch nicht vorhandene Arbeitslosigkeit bei ärztlichem wie pflegerischem Fachpersonal. Wie kritisch es aussieht, zeigt auch eine andere Zahl: Demnach dauerte es im Jahr 2014 im Durchschnitt 89 Tage, bis eine offene Arztstelle besetzt werden konnte, im Jahr 2019 waren schon 114 Tage erforderlich. Luft nach oben ist auch aus den Zahlen der Sozialforscherin ableitbar. Während in Schleswig-Holstein knapp 25 Prozent der Beschäftigten in der Gastronomie keinen deutschen Pass haben, sind es im Gesundheitswesen 3,6 Prozent. Mehr Potenzial bieten aus Sicht von Burkert Drittstaaten, also Länder, die nicht zur EU gehören. Zwar stieg deren Anteil an den ausländischen Beschäftigten zwischen 2013 und 2018 von 47,6 auf 53,5 Prozent, doch immer wieder scheitern ihr zufolge berufliche Engagements daran, dass Interessierte zum Beispiel aus Serbien, Kroatien oder Bosnien-Herzegowina bis zu einem Jahr auf ihr Visum warten müssen.

Dieses Problem ist nach Einschätzung von Sven Hinrichsen von der Bundesagentur für Arbeit nicht zu unterschätzen. "Wir müssen die Rahmenbedingungen so gestalten, dass jeder gern nach Schleswig-Holstein kommt", betonte er. Aufenthaltsrechtliche Barrieren, aber auch Bezahlung, Wohnungssuche, sprachliche Qualifizierung und Hilfestellung bei Problemen im Alltag müssten ins Visier genommen werden. Mehr als ärgerlich sind in Schleswig-Holstein offenbar lange zeitliche Abstände zwischen Vorbereitungskursen zur Nachqualifizierung und den entsprechenden Prüfungen. Wenn es ein Jahr und mehr dauert, macht das den Betroffenen erheblichen Stress und verbreitet sich laut Hinrichsen obendrein "in Windeseile". Folge: Potenzielle Pflegekräfte ziehen vermehrt in Bundesländer, in denen es ihnen leichter gemacht wird.

Dass längst nicht alles rund läuft im Land bestätigte auch PD Dr. Ivo Markus Heer, engagiert im Arbeitskreis Migration und Gesundheit Schleswig-Holstein und Ärztlicher Direktor im Friedrich-Ebert-Krankenhaus Neumünster. Das FEK sei vom Fachkräftemangel "stark betroffen", Geflüchtete und anders Zugewanderte können nach seiner Erfahrung nicht so stark zur Entlastung beitragen wie es möglich wäre, weil die Bausteine des beruflichen Integrationsverfahrens unzureichend synchronisiert sind. So gehe es "im Moment sehr schnell" mit der Feststellung beruflicher Qualifikationen, aber umso länger bei der Nachqualifizierung und der Prüfung. Persönlich bringt Heer bei diesem Thema nach eigenen Worten zwar "Herzblut" ein, doch für ausreichend hält er das nicht - nötig sei eine bessere Verzahnung von Abläufen.

Dr. Thomas Gurr vom Landesamt für Soziale Dienste verwies auf die Tücken des Berufsalltags. Dass Zugewanderte vor formeller Anerkennung ihrer Qualifikation in Kliniken oder Pflegeeinrichtungen arbeiten können, hält er für begrüßenswert, aber auch für gefährlich. Oft lässt nach seiner Erfahrung der Job kaum Zeit zur Vorbereitung auf die Prüfung, sodass die Anerkennung zur endlosen Geschichte wird.

Dass einiges möglich ist, wenn der Rahmen stimmt, beweist die Diakonie Altholstein, die seit 2013 im Kieler Wohnquartier Gustav-Schatz-Hof mit einer betreuten Wohnanlage, einer Tagespflege, einer Demenz-Wohngruppe, einem Mietertreff und einem ambulanten Pflegedienst Präsenz zeigt. Rund ein Viertel der 1.200 Bewohner des Quartiers im Multikulti-Stadtteil Gaarden hat einen Migrationshintergrund. Ziel der Arbeit vor Ort ist es daher, kultursensible und bedarfsgerechte Hilfen zu bieten, die es auch Menschen mit Handicap ermöglichen, am Leben im Stadtteil teilzuhaben.

Laut Semra Basoglu, die dieses Konzept für die Diakonie wesentlich mitentwickelt hat, läuft die Sache "recht erfolgreich". Ein Viertel der betreuten Menschen hat nach ihren Angaben ausländische Wurzeln, und auch das Personal ist gemischt. Spanien, Polen, Russland, die Türkei, der arabische Raum und etliche weitere Regionen sind unter den rund 55 Beschäftigten vertreten. "Wir decken zwölf verschiedene Sprachen ab", berichtet Pflegedienstleiter Thorben Maack. Er freut sich, dass dieses Konzept breite Anerkennung findet. Nicht nur, dass die Interkulturelle Pflege im Jahr 2015 den Altenpflegepreis Schleswig-Holstein gewann, zwei Jahre später adelte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel das Dauerprojekt, das freilich kein Selbstläufer ist. "Toleranz im Team" sei das A und O, sagt Maack, darum müsse immer wieder neu gerungen werden.

Bis aber speziell die Geflüchteten angekommen sind in der Pflege, dauert es. Die Diakonie im Gustav-Schatz-Hof beschäftigt Menschen aus dieser Zielgruppe als Praktikanten. "Das sind zu 80 bis 90 Prozent richtig gute Leute", betont die in stellvertretende Pflegedienstleiterin Ertagrul Ceylani. Nach dem Praktikum jedoch geht es in der Regel erstmal wieder zurück in die Schule, sodass eine dauerhafte Beschäftigung erst am Ende der Ausbildung zum Thema wird.

Eher ungewöhnlich ist, dass sich Einrichtungen in der Pflege bemühen, motivierte Praktikanten früh zu binden. Der Syrer Bader Mobayed, 2015 nach Deutschland gekommen, war als Kriegsverletzter selbst auf Pflege angewiesen und hat beschlossen: "Mir ist so toll geholfen worden, ich will davon etwas zurückgeben." Bei der Diakonie im Gustav-Schatz-Hof punktete er mit seiner herzlichen und einfühlsamen Art und fand sich bestens aufgenommen. Folge: Wenn Mobayed in anderthalb Jahren seinen Abschluss als Pfleger in der Tasche hat, wird er dauerhaft im Gustav-Schatz-Hof anzutreffen sein.

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55 % der ausländischen Beschäftigten in Deutschland kommen aus Drittländern, sind also keine EU-Bürger.
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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2020 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2020/202002/h20024a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
73. Jahrgang, Nr. 2/2020, Februar 2020, Seite 20 - 21
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2020

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