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ARTIKEL/1476: Deutscher Krebskongress in Berlin zur Zukunft der Krebsmedizin (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2018

Onkologie
Höhere Lebensqualität für Krebspatienten

von Uwe Groenewold


Die Zahl der langzeiterkrankten Krebspatienten steigt - und damit die Angebote, wie man das Leben mit der Krebserkrankung meistert.


Das Interesse an onkologischen Themen ist in und außerhalb von Fachkreisen ungebrochen. Zum 33. Deutschen Krebskongress in Berlin kamen in diesem Jahr rund 12.000 Besucher, die sich über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten, Versorgungsstrukturen und das Leben mit der Krebserkrankung informierten. Den Grund für das große Interesse macht eine andere Zahl deutlich: Allein in diesem Jahr, so schätzen Experten, werden eine halbe Million Menschen in Deutschland neu an Krebs erkranken. Und der Anteil an Langzeitüberlebenden steigt: Krebs wird immer mehr zu einer chronischen Krankheit, mit der Patienten länger leben.

Diese Entwicklung verändert auch die psychische Belastung der Patienten: Es geht zunehmend darum, Hilfestellungen für ein Leben mit oder nach der Krebserkrankung zu geben und Folgen wie chronische Schmerzen, Ängste oder Depressionen zu verringern. In Berlin wurde auch darüber diskutiert, wie die Nebenwirkungen der Therapien die Patienten weniger belasten - zum Beispiel mit einer gezielten Bewegungstherapie beim Fatigue-Syndrom oder bei der durch Chemotherapie induzierten Polyneuropathie. Solche gezielten Angebote für Krebspatienten gibt es auch im Norden, etwa die auf die individuellen Bedürfnisse und auf das Leistungsvermögen der Patienten zugeschnittene sporttherapeutische und sportmedizinische Betreuung im Kieler Krebszentrum Nord. Es bleiben aber offene Fragen wie die nach der Finanzierung zielgerichteter Therapien oder die Frage der Patientenorientierung am Lebensende. In diesem Zusammenhang wurde von einer "Übertherapie" gesprochen, die im Gegensatz zur erwünschten Lebensqualität steht.

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Deutscher Krebskongress
Veränderte Perspektiven

Krebs wird zur chronischen Erkrankung, die Zahl der Langzeitüberlebenden steigt. Fast 12.000 Teilnehmer diskutierten in Berlin die Zukunft der Krebsmedizin.

"Perspektiven verändern Krebs - Krebs verändert Perspektiven": Wohl selten hat ein Kongressmotto den Nerv aller Beteiligten so gut getroffen wie beim 33. Deutschen Krebskongress in Berlin. Die Schwerpunkte der größten deutschsprachigen onkologischen Fortbildungsveranstaltung haben sich in den vergangenen Jahren maßgeblich verschoben. Im Mittelpunkt des Interesses standen weniger State-of-the-Art-Symposien zur chirurgischen oder medikamentösen Therapie. Viel mehr drängten sich Zuhörer in die Säle, in denen es um Lebensqualität und Langzeitüberleben, aber auch um Prävention und Palliation ging. Bei Veranstaltungen etwa zu den Themen "Ernährung - was ist gesichert?" oder "Was leistet die onkologische Pflege in der Versorgung?" mussten wegen Überfüllung alle Türen geöffnet werden und Hunderte Interessierte verfolgten noch auf den Fluren die Vorträge und Diskussionen.

Das hat auch Kongresspräsident Prof. Thomas Wiegel aus Ulm registriert. "Die Diskussionen haben gezeigt: Es sind nicht nur neue Behandlungs- und Diagnosemethoden, sondern auch die Versorgungsstrukturen insgesamt, die über das Überleben und die Lebensqualität eines Patienten entscheiden. Für eine optimale Versorgung dürfen wir uns nicht auf Strukturmaßnahmen der Vergangenheit ausruhen", lautete seine Bilanz.

Den aktuellen Auswertungen des Robert Koch-Instituts zufolge sind 2014 insgesamt 476.120 Menschen an Krebs neu erkrankt; für 2018 prognostizieren die Experten knapp 500.000 Neuerkrankungen. Die häufigsten Krankheitsbilder sind Brust- und Prostatakrebs mit 69.220 bzw. 57.370 (2014). 222.972 Patienten sind 2014 gestorben, die relative Überlebensrate nach fünf Jahren beträgt bei Frauen 65, bei Männern 59 Prozent. Nach zehn Jahren leben noch 60 Prozent der weiblichen und 55 Prozent der männlichen Patienten. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass es 2014 rund 1,55 Millionen Menschen in Deutschland gab, die in den fünf Jahren zuvor an Krebs erkrankt sind; insgesamt leben in Deutschland rund vier Millionen aktuelle oder ehemalige Krebspatienten. Fazit: Die Inzidenz steigt, die Mortalität sinkt; Krebs wird zur chronischen Krankheit, mit der Patienten immer länger leben.

Psychische Belastung von Langzeitüberlebenden

Dieser wachsende Anteil an Langzeitüberlebenden ("Krebs-Survivors") prägt derzeit einen weiteren Bereich der Krebsmedizin, die Psychoonkologie. "Wir haben viel mehr onkologische Erkrankungen, die heilbar sind oder über lange Zeit behandelt und versorgt werden können. Damit ist auch die psychische Belastung unserer Patienten eine andere geworden. Während es früher häufiger darum ging, mit der Bedrohlichkeit des unmittelbar bevorstehenden Todes zurechtzukommen, ist nun in den Vordergrund gerückt, Hilfestellungen für ein Leben mit oder nach einer Krebserkrankung zu geben", erklärte Prof. Anja Mehnert, Medizinpsychologin aus Leipzig. Einer Studie mit 724 Teilnehmern zufolge sind 52 Prozent der Patienten stark von der Erkrankung und ihren Folgen belastet; viele der Beschwerden wie chronische Schmerzen und Fatigue sind langanhaltend.

Eine weitere Studie mit 4.000 Patienten zwischen 18 und 75 Jahren hat nach Angaben Mehnerts ergeben, dass jeder dritte Krebspatient neben seiner Erkrankung auch mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Angst, Anpassungsschwierigkeiten und Depressivität sind besonders weit verbreitet; die Wahrscheinlichkeit, an einer Depression zu erkranken, ist bei Krebspatienten fünf Mal höher als in der Allgemeinbevölkerung Frauen, so Mehnert, sind insgesamt stärker belastet als Männer; die Schwere der Erkrankung gehe aber nicht mit der Stärke der Belastung einher. Besonders gefährdet für psychische Begleiterkrankungen waren Brustkrebspatientinnen (42 Prozent) sowie Patienten mit Kopf-Hals-Tumoren (41 Prozent) oder Schwarzem Hautkrebs (39 Prozent).

Jeder Patient, so die Schlussfolgerung der Wissenschaftlerin, benötige auch auf seelischer Ebene eine auf ihn zugeschnittene Behandlung, die entsprechend der S3-Leitlinie Psychosoziale Onkologie von Information über Beratung bis hin zu Psychotherapie reichen kann. Die psychologische Versorgung sei weit mehr als nur "nice to have"; sie wirke sich positiv auf Lebensqualität, Morbidität und Mortalität aus, erklärte Mehnert. "Der Versorgungsbedarf insgesamt ist hoch, die psychoonkologische Versorgung in Deutschland jedoch noch längst nicht für alle Patienten sichergestellt." Ziel müsse es sein, die Versorgungssituation zu verbessern und die Patienten mit dem größten Bedarf herauszufiltern, denn noch blieben viele Patienten mit psychoonkologischem Interventionsbedarf unerkannt, so Mehnert.

Fortschritte in Bildgebung und Pathologie

Wie kommt es nun zum gesteigerten Langzeitüberleben vieler Patienten? Fortschritte in der radiologischen Bildgebung, der PET-Hybridbildgebung und der molekularen Pathologie seien hierfür ein Schlüssel, sagte Kongresspräsident Wiegel. Sie bilden die Grundlage für eine präzise Krebstherapie und haben die Therapieplanung in den letzten Jahren erheblich verbessert. "Ohne Innovationen in der Diagnostik ist die moderne Präzisionsmedizin in der Onkologie nicht denkbar", so Wiegel. Von diesen Verbesserungen profitiere unter anderem die Strahlentherapie, bestätigte Prof. Wilfried Budach, Radioonkologe am Universitätsklinikum Düsseldorf: "Dank der Integration moderner Bildgebungsverfahren in die Planung der strahlentherapeutischen Behandlung und dank der Möglichkeit, die Position von Tumoren und Risikoorganen während der Bestrahlung aufs Genaueste zu verifizieren, können wir die Nebenwirkungen deutlich reduzieren und die Erfolgsrate der Strahlentherapie erhöhen."

Die multiparametrische Magnetresonanztomografie (MRT) gilt als das derzeit empfindlichste Verfahren, um anatomische Veränderungen aufzuspüren, die auf ein Prostatakarzinom hinweisen; zudem liefert sie wichtige funktionelle Informationen über die Aggressivität des Tumors. Dort, wo die Empfindlichkeit dieses Verfahrens nicht ausreicht, etwa beim Nachweis befallener Lymphknoten, sei die Hybridbildgebung gefragt, erklärte Prof. Heinz-Peter Schlemmer vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Dabei werden Schichtbildverfahren wie CT oder MRT mit der Positronenemissionstomografie (PET) kombiniert, um Informationen über Stoffwechselvorgänge im Krankheitsherd anatomisch genau zuordnen zu können. Vor allem die PET-MRT eröffne neue diagnostische Möglichkeiten, so Schlemmer.

Eine wertvolle Ergänzung im Hinblick auf die Therapieentscheidung liefert die molekulare Pathologie. Sie erfasst die Veränderungen im Tumor, die sich auf einzelne Mutationen in seiner Erbsubstanz zurückführen lassen, erläuterte Prof. Christoph Röcken, Pathologe am UKSH in Kiel. Mittlerweile gebe es bei einigen Tumorarten, etwa beim Lungenkarzinom oder beim Darmkrebs, gute Beispiele dafür, wie eine Analyse der Erbsubstanz im Tumor diejenigen Patienten identifizieren kann, die auf ein zielgerichtetes Medikament voraussichtlich gut ansprechen werden. Studien weisen außerdem daraufhin, dass die Mutationslast im Tumor ein prädiktiver Marker für das Ansprechen auf die neuen Immuntherapien sein könnte. Hier seien allerdings noch weitere Untersuchungen nötig, so Rücken. "In den letzten beiden Jahren waren es vor allem die Immun-Checkpoint-Inhibitoren, die in der medikamentösen Tumortherapie für Aufsehen gesorgt haben. Diese Medikamente lösen quasi die Bremse bei den körpereigenen T-Zellen, die vom Tumor an der erfolgreichen Bekämpfung der Krebszellen gehindert werden, und regen so das Immunsystem an, den Krebs zu attackieren." Besonders beim nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom und beim schwarzen Hautkrebs wurden damit länger anhaltende Behandlungserfolge beobachtet. Es deute sich an, dass die Immun-Checkpoint-Inhibitoren der zweiten Generation bei einer Vielzahl von Tumorerkrankungen wirken könnten, so Röcken. "Dennoch sprechen längst nicht alle Patienten auf Checkpoint-Inhibitoren an." Forscher arbeiten mit Hochdruck daran, Biomarker zu finden, mit denen sich das Ansprechen auf eine Immuntherapie vorhersagen lässt.

Bewegung hilft Krebspatienten

Viele Patienten leiden unter den Nebenwirkungen ihrer Therapie. Eine gezielte Bewegungstherapie hilft, die zum Teil starken Einschränkungen zu reduzieren und die Lebensqualität der Betroffenen zu steigern, wie aktuelle Studienergebnisse belegen. "Körperliche Aktivität vermindert die Beschwerden erfolgreicher als eine medizinische oder eine psychologische Therapie. Bewegung ist das am besten geeignete 'Medikament' etwa zur Reduzierung des Fatigue-Syndroms", erklärte Dr. Freerk Baumann aus Köln. "Auch bei der durch Chemotherapie induzierten Polyneuropathie zeigen Studien, dass Bewegungstherapie hilft. Für die Polyneuropathie gibt es keine andere Behandlungsmethode, deren nachhaltige Wirkung bewiesen werden konnte." Sensomotorisches Training und womöglich auch Vibrationstraining würden die besten Effekte bei der Therapie von Nervenschäden erzielen, so Baumann.

Bei Prostatakrebspatienten unter Hormontherapie, die vom permanenten Abbau der Knochendichte bedroht sind, wurden in einer Studie Krankengymnastik, Kraft- und Ausdauertraining und ein sogenanntes Impact-Training verglichen. Ergebnis: Nur mit dem Impact-Training sei es gelungen, die Knochendichte über sechs Monate konstant zu halten, so Baumann. Impact-Training ist ein intensives Training mit ruckartigen Bewegungen, die die Knochen stark fordern. Baumann zeigte Videosequenzen, in denen Patienten Sprünge mit beiden Beinen über Hürden unterschiedlicher Höhe oder Seilspringen mit hoher Intensität durchführten. "Natürlich ist nicht jeder ältere Mensch dafür geeignet", räumte der Sportwissenschaftler ein.

Auch Dr. Thorsten Schmidt aus dem UKSH-Campus Kiel hob die positiven Effekte von Bewegung hervor; dies gelte auch für die Palliation, wie eine Analyse der aktuellen Studienlage ergeben habe. So konnten zahlreiche Untersuchungen gestiegene Leistungsfähigkeit, geringere Fatigue-Symptomatik und höhere Lebensqualität belegen, auch wenn es noch an großen randomisierten, kontrollierten Studien mangele, so Schmidt. Im Kieler Krebszentrum Nord (CCC) gebe es eine auf die individuellen Bedürfnisse und das Leistungsvermögen der Patienten zugeschnittene sporttherapeutische und sportmedizinische Betreuung. Forschungsschwerpunkt des Bereiches ist die Evaluation der Sport- und Bewegungstherapie in den verschiedenen Behandlungsphasen (kurativ und palliativ) mit dem Ziel, jedem Patienten eine individualisierte Bewegungstherapie anbieten zu können.

Krebsregister: "Gesetz ist ein Fortschritt"

Die Bereiche Epidemiologie und Versorgungsforschung wurden in Berlin ebenfalls intensiv diskutiert, aus Schleswig-Holstein waren hier vor allem Experten aus dem Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie der Universität Lübeck und dem Institut für Krebsepidemiologie (Krebsregister Schleswig-Holstein) eingebunden.

Im April 2013 ist das Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz (KFRG), in Kraft getreten. In dem Gesetz wurden Empfehlungen aus dem Nationalen Krebsplan umgesetzt. So sollen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Krebsfrüherkennung mehr Menschen erreicht und die Krebsbehandlung so erfolgreich wie möglich gestaltet wird. Mit einer flächendeckenden Früherkennung soll Krebs besser behandelbar oder sogar vermeidbar werden. Die Versicherten werden seitdem regelmäßig angeschrieben und zu Untersuchungen eingeladen; der Gang zur Vorsorge bleibt freiwillig.

In vielen Bundesländern bereits bestehende Register werden seitdem ergänzt und bundesweit vereinheitlicht. Sie sind ein Instrument zur Erfassung der Patientendaten, einschließlich Diagnose, Behandlungen, Nachsorge und Rückfällen. "Das Gesetz ist ein Fortschritt, es wurde einiges erreicht in den vergangenen Jahren", erklärte Institutsleiter Prof. Alexander Katalinic. Gleichwohl sind noch lange nicht alle Erwartungen erfüllt. Aus Sicht der Epidemiologen etwa sei der Austausch zwischen den behandelnden Ärzten und dem Krebsregister ausbaufähig, so Katalinic. Er mahnte eine bessere Datenqualität an, auf den Meldebögen fehle häufig die Stadieneinteilung oder sie sei unvollständig. "Pro Jahr gibt es etwa 20.000 neue Patienten in Schleswig-Holstein, deren Daten ans Krebsregister gemeldet werden. In rund 10.000 Fällen haben wir Rückfragen an die Ärzte, weil die übermittelten Daten unvollständig sind. Das ist viel zu viel, da erwarten wir von den Klinikern eine bessere Datenqualität!"

In Schleswig-Holstein gibt es bereits seit 1998 eine gesetzliche Meldepflicht für alle Krebsneuerkrankungen; für die Diagnosejahre 2012 bis 2014 hat das Krebsregister kürzlich aktuelle Daten veröffentlicht. Demzufolge kommt es zu 19.500 Neuerkrankungen jährlich in Schleswig-Holstein, betroffen sind etwas mehr Männer (10.200) als Frauen. Brustkrebs (2.900 Neuerkrankungen) und Prostatakrebs (2.500) sind die häufigsten Krebserkrankungen bei Frauen und Männern. Bei den Frauen folgen Darm- und Lungenkrebs (1.130 bzw. 860), bei den Männern Lungen- und Darmkrebs (1.400 bzw. 1.200). 8.200 Patienten sterben jährlich, gleichzeitig steigt die Zahl der Langzeitüberlebenden deutlich an. In Schleswig-Holstein leben rund 100.000 Krebspatienten, 70 Prozent der Frauen und 65 Prozent der Männer leben fünf Jahre nach der Diagnose noch.

Die Lübecker Experten haben inzwischen auch Daten einzelner Screeningmaßnahmen ausgewertet. Dr. Joachim Hübner befasste sich mit der Wirksamkeit der Früherkennungskoloskopie. Das Darmkrebsscreening wird seit 2002 allen gesetzlich versicherten Frauen und Männern ab 55 Jahre angeboten. "Wir wollten wissen, ob die positiven Effekte der Screeningkoloskopie, die in zahlreichen klinischen Studien gezeigt wurden, auch in der.Versorgungswirklichkeit nachweisbar sind. Dazu haben wir eine ökologische Studie mit Daten aus 358 Kreisen und kreisfreien Städten durchgeführt", erläuterte Hübner. Die Hypothese der Wissenschaftler: "Je höher die Teilnahmerate an der Früherkennungskoloskopie in einem Kreis ist, desto stärker ist die Darmkrebssterblichkeit in diesem Kreis zurückgegangen" konnte in der vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) geförderten Studie untermauert werden. Hübner: "Der Zusammenhang ließ sich auch quantifizieren: Eine um 1 Prozent höhere Teilnahme an der Früherkennung war mit einem um 0,5 Prozent stärkeren jährlichen Rückgang der Darmkrebssterblichkeit zwischen 2002 und 2012 assoziiert." Der Beitrag, den die Screeningkoloskopie zum allgemeinen Rückgang der Darmkrebssterblichkeit leistet, liegt bei etwa 30 Prozent, so Hübner. In absoluten Zahlen bedeutet dies, in den ersten zehn Jahren des Screenings konnten in Deutschland 15.500 Darmkrebstodesfälle vermieden werden.

Eine ähnliche Analyse präsentierte Katalinic zum Mammakarzinom. Seit 2005 besteht in Deutschland ein systematisches Mammografie-Screening. Um den Effekt der ersten zehn Jahre abzuschätzen, haben die Lübecker Experten die veröffentlichten Daten von Teilnehmerinnen und Tumorbefunde aus dem epidemiologischen Krebsregister und der Kooperationsgemeinschaft Mammografie-Screening analysiert. 8,3 Millionen Frauen haben zwischen 2005 und 2014 an der Früherkennung teilgenommen, beider 125.000 bis 145.000 Mammakarzinome entdeckt wurden; 9 bis 10 Prozent der Teilnehmerinnen erhielten mindestens einmal einen falsch-positiven Befund. Verschiedenen Rechenmodellen zufolge wurden zwischen 4.100 und 10.800 Frauen vor dem Brustkrebstod bewahrt. Katalinic: "Die Hochrechnung vermittelt einen vorläufigen Eindruck davon, welchen Einfluss das Brustkrebsscreening haben könnte. Auf eine weitergehende Bewertung des Screenings haben wir jedoch bewusst verzichtet." Katalinic geht davon aus, dass es bundesweit zu einem screeningbedingten Rückgang der Mortalität kommen müsste; erste Ergebnisse hierzu liegen seinen Angaben zufolge jedoch nicht vor 2020 vor.

Weitere Vorträge der Lübecker Epidemiologen befassten sich etwa mit der Pilotphase einer Studie, die sich mit Inzidenz und Mortalität fortgeschrittener Melanome beschäftigt (Alicia Brunßen, Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie), oder mit der kleinräumigen Krebsberichterstattung, die unter anderem die Frage beantworten will, ob und wie das Behandlungsergebnis mit dem Wohnort zusammenhängt (Dr. Ron Pritzkuleit, Institut für Krebsepidemiologie).

Am Ende noch viele Fragen offen

Am Ende des Kongresses blieben dennoch intensiv diskutierte Fragen etwa zur Finanzierung zielgerichteter Therapien oder zur Patientenorientierung am Lebensende offen. Sechsstellige Behandlungskosten pro Jahr und Patient für immuntherapeutische Ansätze, von denen derzeit nur jeder vierte Patient profitiert und deren langfristiger Nutzen noch nicht belegt ist, stellen eine Belastung für das Gesundheitssystem dar. Hier muss die hoch gelobte individualisierte Präzisionsmedizin noch viel Arbeit leisten, um einerseits diejenigen Patienten exakter zu identifizieren, die von der Behandlung tatsächlich profitieren, und um andererseits den Beweis zu erbringen, dass in Studien gewonnene Daten zum Überlebensvorteil sich im klinischen Alltag auch tatsächlich bewahrheiten. Viele Patienten werden am Ende ihres Lebens eher übertherapiert; ihr Wunsch, im häuslichen Umfeld zu sterben, wird häufig nicht berücksichtigt. Prof. Birgitt van Oorschot aus Würzburg beklagte, dass in Deutschland neun Prozent aller an Krebs Verstorbenen in ihrem letzten Lebensmonat noch eine Chemotherapie erhielten; eine "tumorspezifische Therapie" erhielten gar 38 Prozent, wie eine Analyse der Uniklinik in München ergab. Das widerspreche eindeutig der S3-Leitlinie Palliativmedizin, deren Qualitätsziel es sei, den Anteil tumorspezifischer Therapien in den letzten Lebenstagen so niedrig wie möglich zu halten und keine falschen Hoffnungen zu wecken, so van Oorschot. Weniger ist dann oft mehr.


INFO

- 11.900 Kongressteilnehmer kamen in diesem Jahr zum 33. Deutschen Krebskongress nach Berlin. Allein 1.600 Besucher zählten die Organisatoren am Krebsaktionstag, einem Infotag für Betroffene, Angehörige und Interessierte.

- Die Industrie war beim 33. Deutschen Krebskongress mit einer begleitenden Ausstellung vertreten.

- Das Betroffenen-Cafe der Ärztekammer Schleswig-Holstein für Krebspatienten und Angehörige findet alle vier Wochen im Bildungszentrum der Ärztekammer statt: Jeden ersten Dienstag im Monat in der Esmarchstraße in Bad Segeberg. Weitere Info unter:
https://www.aeksh.de/patient/patientenberatung

19.02.20 - An diesem Tag wird der 34. Deutsche Krebskongress in Berlin stattfinden. Er wird sich über vier Tage erstrecken und bis zum 22. Februar dauern.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Will geeignete Patienten für Immuntherapien frühzeitig identifizieren: Prof. Christoph Röcken.
- Fordert von den Ärzten bei der Meldung fürs Krebsregister eine bessere Datenqualität ein: Prof. Alexander Katulinic.
- Nehmen mehr Menschen am Darmkrebsscreening teil, sinkt die Sterblichkeit, hat Dr. Joachim Hübner festgestellt.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201804/h18044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, April 2018, Seite 1 und 6 - 9
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2018

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