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ARTIKEL/1474: Adipositas - keine Veränderungen bei der Versorgung von adipösen Patienten (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2018

Adipositas
"Wir drehen uns im Kreis."

von Dirk Schnack


Zum zehnten Mal trafen sich Experten zum Adipositas-Symposium in Norderstedt. Betroffene kritisieren Stagnation.


Die Versorgung adipöser Patienten in Deutschland wird von vielen Betroffenen und Behandlern als schlecht empfunden. Enttäuscht ist man auf Seiten der Betroffenen vorwiegend von Politik und Krankenkassen, aber auch die Einstellung vieler Ärzte halten viele schwergewichtige Patienten nicht für angemessen.

Deutlich wurde dies auf dem zehnten Adipositassymposium im Johnson & Johnson Institute Ende März in Norderstedt. Unter den mehr als 300 Teilnehmern der Veranstaltung waren neben Chirurgen, Ernährungsmedizinern und Diabetologen auch Vertreter der Selbsthilfe. Michael Wirtz von der Adipositas-Hilfe Nord etwa kritisierte in einem Pressegespräch während des Symposiums, dass schwer adipöse Patienten zu lange auf Operationen warten und zu weit fahren müssen, um eine für ihre Bedürfnisse geeignete Schwerpunktpraxis zu finden. Sein Verein will nun politisch aktiver werden, wie Wirtz in Norderstedt ankündigte. Mit Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit will der Verein erreichen, dass die Probleme der schweren Patienten ernster genommen werden. Viel erreicht wäre nach seiner Auffassung schon, wenn Ärzte auf die Probleme der Adipösen nicht mehr mit dem lapidaren Hinweis, sich mehr zu bewegen und einfach weniger zu essen, reagieren würden.

Nach Wahrnehmung von Wirtz hat sich in den vergangenen Jahren bei der Versorgung von adipösen Patienten zu wenig verbessert: "Wir drehen uns im Kreis." Mit Blick auf die aus seiner Sicht ausbleibende Hilfe sagte er: "Keine Therapie ist auch eine Art von Diskriminierung." Folgen der Adipositas und des Umgangs der Gesellschaft mit diesem Problem seien bei vielen Betroffenen Frustration, Depressionen, Arbeitslosigkeit, soziale Isolation und weitere Begleiterkrankungen wie etwa Diabetes, Hypertonie, Schlafapnoe oder erhöhtes Krebsrisiko.

Die von Wirtz kritisierte Situation nimmt auch Prof. Dieter Birk weitgehend so wahr. Der Vorsitzende des diesjährigen Symposiums in Norderstedt und erste Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Adipositas und metabolische Chirurgie sagte: "Für eine optimale Versorgung adipöser Patienten ist eine flächendeckende, sehr gut vernetzte und komplett finanzierte Versorgung der Patienten in Deutschland zwingend notwendig." In der modernen Adipositaschirurgie nimmt nach seiner Wahrnehmung die Patientenzentrierung inzwischen zwar eine entscheidende Rolle ein. Notwendig seien aber ganzheitliche Ansätze - von Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapien bis hin zu chirurgischen Therapien. Birk nannte mehrere Ursachen für die nach seiner Einschätzung unbefriedigende Situation:

- Informationsdefizite in der Gesellschaft und in der Ärzteschaft über Adipositas als Krankheit. Dies äußert sich nach seiner Beobachtung durch Vorurteile, Schuldzuweisungen und Stigmatisierung.

- Mangelhafte Versorgung: In ganz Deutschland gibt es nach seinen Angaben nur rund 80 Schwerpunktpraxen und kein flächendeckendes Angebot an Patientenschulungsprogrammen. Folge ist eine geringe Inanspruchnahme.

- Defizite in der hausärztlichen Versorgung: In Hausarztpraxen nimmt Birk zum Teil mangelndes Wissen über die bestehenden Therapiemöglichkeiten und eine Überforderung durch zeitintensive und komplexe Therapien wahr. "Adipöse Patienten können schwierige Patienten sein", räumte Birk ein.

- Fehlende Langzeitbetreuung: Birk vermisst Versorgungsangebote zur Umsetzung leitliniengerechter Nachsorge. Damit wird aus seiner Sicht der Langzeiterfolg der Therapieansätze gefährdet.

Um diese Mängel abzustellen, sieht Birk Politik, Gesellschaft und Ärzteschaft gefragt. Er hält u.a. Vergütungsanreize für Hausärzte und einen Leitfaden für das Gespräch mit adipösen Patienten für hilfreich. Er forderte aber auch Verständnis der Adipositas als Krankheit ein und damit auch für die Probleme der Betroffenen.

Eine veränderte Einstellung gegenüber adipösen Patienten und ihren Behandlern hält auch Prof. Arne Dietrich aus Leipzig für erforderlich. "Auch wir als Behandler werden diskriminiert", sagte Dietrich in Norderstedt. Das Geld für einen chirurgischen Eingriff - durchschnittlich kostet die Operation rund 5.000 Euro - sehen nach seiner Wahrnehmung viele Ärzte in anderen Bereichen besser angelegt.

Derzeit werden solche bariatrischen Operationen in Deutschland rund 10.000 Mal im Jahr vorgenommen - im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit, bezogen auf die Einwohnerzahl, weit hinter den meisten Nachbarländern. Oft lehnen die Medizinischen Dienste der Krankenkassen die Kostenübernahme für bariatrische Operationen ab. Birk bestätigte aber, dass immer mehr Krankenhäuser dennoch operieren und damit das Risiko eines Rechtsstreits eingehen, weil sie den Patienten im Recht sehen.

Der einseitige Fokus von Politik und Krankenkassen auf Prävention ist aus Sicht der Experten keine Hilfe für die Betroffenen. Denn selbst wenn Prävention wirkt und künftig keine Menschen mehr adipös werden, gab Dr. Dirk Ghadamgahi von Johnson & Johnson zu bedenken, bleiben schließlich die jetzt Betroffenen: "Für die Versorgung dieser Menschen brauchen wir Konzepte. Wir sind nicht optimal aufgestellt." Der bloße Verweis auf die Kosten der Operationen ist nach seiner Ansicht zu kurz gegriffen: "Die Eingriffe kosten ja nicht nur Geld, sondern sparen auch an anderer Stelle."

Hoffnung legten die Experten in Norderstedt in eine neue Leitlinie. Durch adipositaschirurgische bzw. metablische Eingriffe, so Dietrich in Norderstedt, soll mithilfe einer nachhaltigen Gewichtsreduktion und metabolischen Veränderungen eine Verbesserung der Lebensqualität, Remission, Besserung bzw. Prophylaxe von Begleiterkrankungen, längeres Überleben und Erhalt der Teilhabe etwa am Arbeitsleben ermöglicht werden. Feste Vorgaben etwa bezogen auf dem BMI hält Dietrich nicht für zielführend. "Die Definition des Therapieziels soll individuell erfolgen und bei Bedarf angepasst werden", sagte Dietrich. Er stellte auch klar: "Adipositas- bzw. metabolische Chirurgie ist keine "ultima ratio", sondern integraler Bestandteil der Behandlung, oft sogar an erster Stelle."


INFO 54 % der Deutschen sind übergewichtig oder adipös. 1,4 Millionen Erwachsene in Deutschland haben einen BMI von 40 oder höher. Männer sind deutlich häufiger betroffen als Frauen. Wegen Adipositas entstehen jährlich 29,39 Mrd. EUR an direkten Gesundheitskosten.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 2/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201804/h18044a.htm

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www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, April 2018, Seite 18
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2018

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