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ARTIKEL/1462: Krankenhaus 4.0 - digital vernetzt (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2017

Innovationsforum
Krankenhaus 4.0 - digital vernetzt

von Uwe Groenewold


Neue technologische Entwicklungen im Krankenhaus standen im Mittelpunkt des Innovationsforums "Krankenhaus 4.0" in Lübeck.


Digitalisierung und Vernetzung waren die zentralen Stichworte bei den Diskussionen der 300 Teilnehmer aus Klinik, Universität und Industrie zur klinischen Versorgung der Zukunft.

"Informationstechnische Innovationen in der klinischen Versorgung sind notwendig, um eine umfassende Versorgung der Patienten langfristig zu sichern und die Stabilität des Gesundheitswesens auch in Zukunft gewährleisten zu können", betonte Prof. Jens Scholz, Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH), in seinem Eröffnungsvortrag. Das UKSH stelle sich dem Wandel und setze bereits in einigen Bereichen auf die Digitalisierung, etwa mit dem OP-Roboter Da Vinci oder der Telematikplattform med.netz.nord. Mit dem Neubau des "Klinikums der Zukunft", so Scholz, rücken die einzelnen Disziplinen enger zusammen. "Das digitale Krankenhaus in Planung, Bau, Technik und Betrieb findet bei uns bereits Umsetzung."

Über den "Digitalisierungstreiber Radiologie" sprach Prof. Jörg Barkhausen, Leiter der Radiologie am UKSH, Campus Lübeck. Die Radiologie habe die Digitalisierung früh als Chance entdeckt und konsequent umgesetzt. Digitale Technik habe zu einer "dramatischen Steigerung von Qualität und Effizienz" geführt und "Prozesse besser und schneller gemacht", so der Klinikleiter. Vor 20 Jahren habe es im Krankenhaus von der Verordnung einer Röntgenaufnahme bis zur schriftlichen Befundung mitunter bis zu einer Woche gedauert; jede Röntgenaufnahme sei ein Unikat gewesen. Heute dagegen seien digitale CTs oder MRTs immer und überall verfügbar. "Ich habe seit 15 Jahren kein herkömmliches Röntgenbild mehr in der Hand gehabt. Sie sind komplett aus unserem Berufsleben verschwunden." In den Radiologieinformationssystemen (RIS) der Kliniken sei alles komplett digitalisiert, es gebe keine analogen Schnittstellen mehr, erläuterte Barkhausen.

Also alles gut? Mitnichten, klagt der Radiologe, denn "im Kernprozess der Radiologie, in der Befundung", habe sich in Sachen Digitalisierung in den vergangenen Jahren nichts verändert. "Hier herrscht Stillstand!" Zwischen der großen Menge vorhandener digitaler Daten und der Diagnosefindung gebe es eine große Lücke; verschiedene Systeme, bei denen der Radiologe jeweils einzelne Parameter anklicken könne, seien nicht effizient und für die tägliche Arbeit absolut ungeeignet. Technische Spielereien, etwa eine "begradigte" Darstellung der Wirbelsäule im CT, hätten diagnostisch keinerlei Bedeutung. Ein Oberarzt einer Radiologischen Uniklinik müsse sich pro Tag etwa 30 CT-Untersuchungen mit jeweils 1.000 Einzelbildern ansehen, da bleiben nur wenige Sekunden pro Bild, so Barkhausen. Für die Auswertung dieser Bilddaten werden effiziente Unterstützungssysteme benötigt, die es derzeit nicht gebe. Ziel müsse es darüber hinaus sein, bei der Befundung noch bestehende Umwege wie die Sprache zu vermeiden; auf langatmige Bildbeschreibungen könne man verzichten, wenn nützliche Zusatzinformationen etwa als Piktogramm direkt mit den Aufnahmen zur Verfügung gestellt werden. Barkhausen: "Ein solches Programm gibt es aber nicht. Ich weiß nicht, warum das bis heute keiner entwickelt hat." Insgesamt, so der Radiologe, habe die Digitalisierung in seinem Fachgebiet extrem großes Potenzial, nur "die Umsetzung dauert viel zu lange".

Integrierte klinische Prozesse sorgen in einem Krankenhaus für effektivere Behandlungsabläufe. Voraussetzung für eine durchgehende kompetente Versorgung der Patienten ohne Informationslücken könne die Verwendung einer elektronischen Patientenakte (EPA) sein, wie Prof. Salvatore Grisanti, Leiter der UKSH-Augenklinik in Lübeck, betonte. "Die EPA hat sich in den letzten Jahren zu einer der wichtigsten und einflussreichsten technologischen Innovationen im Gesundheitswesen entwickelt. Während in den Praxen niedergelassener Augenärzte eine EPA schon vor vielen Jahren eingeführt wurde, ist die herkömmliche Krankenakte auf Papier in fast allen Universitäts-Augenkliniken noch immer Standard." Grisanti erläuterte, wie die Lübecker Augenklinik eine EPA im bestehenden Krankenhausinformationssystem implementierte, wo in Sachen Effizienz die Vorteile gegenüber der Papierakte liegen, welche Informationen für den Arzt wichtig sind und welche Schwierigkeiten es bei der Umsetzung gab.

Die Wege des Patienten über Kreis-, Landes- und Sektorengrenzen hinaus können bisher nur selten nachvollzogen werden, die tatsächliche Inanspruchnahme medizinischer Infrastruktur ist aus der Perspektive der Versorgungsforschung oft nicht eindeutig. "Durch die Digitalisierung existiert nun die große Chance, Patientenkarrieren im Versorgungssystem nachvollziehen zu können", erläuterte Prof. Jost Steinhäuser, Versorgungsforscher und Leiter der UKSH-Allgemeinmedizin in Lübeck. So wisse man inzwischen, dass Patienten aus einer Hausarztpraxis in 500 weiteren Praxen behandelt werden oder dass von 1.000 befragten Menschen 800 über Symptome klagen, 100 bis 150 davon zum Hausarzt gehen, zehn in einem Krankenhaus und einer in einer Klinik der Maximalversorgung landen. Für den einzelnen Patienten haben diese statistischen Daten jedoch keine Aussagekraft, wie Steinhäuser am Modell einer multimorbiden 79-jährigen Patientin unter anderem mit Diabetes, Osteoporose und Bluthochdruck erläuterte. Würde diese Patientin von den verschiedenen Fachärzten leitliniengerecht versorgt werden, müsste sie zwölf verschiedene Medikamente in 19 Einzeldosen zu fünf verschiedenen Tageszeiten einnehmen; das Risiko unerwünschter Arzneimittelwirkungen sei extrem hoch. Eine solche Behandlung sei realitätsfern. "Multimorbide Patienten lassen sich nicht leitliniengerecht behandeln", so Steinhäuser.

Strukturverbesserungen erhofft er sich vom im Aufbau befindlichen Deutschen Forschungspraxennetz (DFPN), das systematisch Daten aus der ambulanten Versorgung erheben und Wege des Patienten verfolgen und analysieren will. In einer ersten Ausbaustufe des DFPN sollen etwa bei Multimorbidität Fragen zum Therapieverlauf und zur Polypharmazie beantwortet werden. Aber auch die Kooperation und Kommunikation der Beteiligten sowie die Effektivität und Effizienz der ambulanten Versorgung sollen genauer untersucht werden. Rund 200 Praxen in sieben Regionen in Deutschland - darunter auch Lübeck - sollen für das Projekt gewonnen werden; jährlich rechnen die Organisatoren aus dem Zentralinstitut der kassenärztlichen Versorgung in Berlin mit rund 200.000 teilnehmenden Patienten, deren Primär- und Sekundärdaten unter Einhaltung aller datenschutzrechtlichen Vorschriften analysiert werden sollen. "Untersuchungen wie diese können maßgeblich dabei helfen, die Wege des Patienten zu verstehen und damit auch langfristig zu verbessern", so Steinhäuser.

Fortschritt im Krankenhaus, so der Tenor der zweitägigen Veranstaltung im Audimax des Lübecker Hochschulcampus, werden maßgeblich durch innovative Lösungen in der Informationstechnologie bestimmt. So werden zukünftig Informationen abteilungs- und einrichtungsübergreifend zugänglich sein, die Telemedizin wird großes Potenzial für eine vom Standort unabhängigere medizinische Versorgung bieten und vernetzte medizinische Geräte werden das Personal bei Diagnose und Therapie umfassend unterstützen. Die Digitalisierung, der Fortschritt in der Medizintechnik und komplexe klinische Prozesse müssen so verknüpft werden, dass dadurch eine bestmögliche Patientenversorgung gewährleistet werden kann. Das Beispiel aus der Radiologie - Barkhausen beklagte die offensichtlich mangelhafte Kommunikation zwischen Klinikern und Softwareentwicklern - unterstreicht jedoch, dass neue Entwicklungen möglichst im Zusammenspiel mit Medizintechnikherstellern und Dienstleistern gestaltet werden sollten. "Dazu sind allerdings nachhaltige Innovationspartnerschaften zwischen Klinik, Wissenschaft und Wirtschaft dringend notwendig, um den Fortschritt im Gesundheitswesen weiter voranzubringen", betonte Prof. Stefan Fischer, Vizepräsi dent der Universität Lübeck.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201711/h17114a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, November 2017, Seite 10 - 11
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2017

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