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AUSLAND/2614: Chile - Die Nachbarschaftsapotheke. Ein Stück soziale Gerechtigkeit (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile
Die Nachbarschaftsapotheke - ein Stück soziale Gerechtigkeit

Von Leonel Yáez Uribe und Ute Löhning


Medikamentenpreise werden nach marktwirtschaftlichen Kriterien festgelegt. Die kommunalen Apotheken steuern dagegen. Das Modell hat Erfolg.

(Berlin, 31. Dezember 2020, npla) - Medikamente sind teuer im privatisierten chilenischen Gesundheitssystem. Pharmaproduzenten und Apotheken setzen die Preise selbst fest und streichen satte Gewinne ein. Doch seit 2015 sind über 150 kommunale Apotheken entstanden. Ein Erfolgskonzept, denn sie bieten Medikamente zu fairen Preisen an, als wichtige Unterstützung für all jene, die sich dringend benötigte Heilmittel sonst nicht leisten könnten.


La Botica Vecinal - die Nachbarschaftsapotheke

Jorge Silva ist 60 Jahre alt und chronisch krank. Einen großen Anteil seines Monatsbudgets gibt er für die Medikamente aus, die er jeden Tag nehmen muss: wegen Diabetes, Bluthochdruck, wegen einer Thrombose, so berichtet er. Jorge und seine Frau Patricia Valenzuela wohnen in Ñuñoa im Großraum Santiago. Ihre Medikamente kaufen sie in der dortigen botica vecinal, der kommunalen Apotheke. "Wir schätzen sie sehr, für uns ist sie viel besser als herkömmliche Apotheken", meint Jorge. Wegen der Thrombose, die er am Bein hatte, muss er das Medikament Xarelto einnehmen. "In normalen Apotheken kostet das über 60.000 Pesos", sagt er. "In der Nachbarschaftsapotheke zahle ich dafür etwa 30.000, höchstens 40.000 Pesos. Da merkt man schon den Preisunterschied." Umgerechnet sind das etwa 40 statt 70 Euro, die Jorge für dieses wichtige Medikament zahlen muss. Ein Vitaminpräparat kostet ihn in der kommunalen Apotheke rund drei Euro, auf dem freien Markt würde er dafür das Dreifache zahlen.


Armut im ökonomischen Musterland Lateinamerikas

Ohne die kommunale Apotheke ginge es Jorge und seiner Frau Patricia inzwischen vermutlich ziemlich schlecht. Denn pandemienbedingt sind beide momentan arbeitslos. Patricia ist glücklich, dass sie in der Nachbarschaftsapotheke alle Medikamente kaufen kann, die sie braucht. "Sie werden hier viel günstiger angeboten als in den Apothekenketten, manchmal für ein Viertel des Preises", berichtet sie und meint: "Wenn die botica vecinal noch mehr genutzt wird, werden bald alle erkennen, was für eine gute Alternative sie darstellt."


Gesundheit als Ware

Der Bedarf ist allemal groß. Denn Chile hat zwar ein hohes Brutto-Sozial-Produkt. Vermögen und hohe Einkünfte konzentrieren sich aber auf einen kleinen Teil der Bevölkerung. Rund 70 Prozent aller Haushalte haben weniger als 450 Euro im Monat zur Verfügung. Die Kosten für Heilmittel übersteigen für viele Menschen ein Drittel ihrer Einkünfte. Vor allem Rentner*innen, die oft weniger als umgerechnet 300 Euro im Monat zur Verfügung haben, trifft es hart. Es gebe zwar nicht immer alle Medikamente in den kommunalen Apotheken, meint Jorge, dennoch seien die Menschen im Stadtteil sehr angetan. "Sie unterstützen die Apotheke. Das merkt man auch in Chats und in Gesprächen, vor allem bei den Älteren ist die Apotheke inzwischen sehr bekannt", so Jorge.


Marktwirtschaftliche Kriterien bestimmen Medikamentenpreise

In Chile gibt es keine festen Preise für Medikamente, die werden von jeder Apotheke selbst festgelegt - nach marktwirtschaftlichen Kriterien, also nach Angebot und Nachfrage. Die Gewinnspanne bei Apotheken und auch beim Hersteller ist enorm. Die Kunden müssen die Medikamente komplett selbst bezahlen, auch wenn sie ärztlich verordnet sind, und auch unabhängig davon, ob und wie sie krankenversichert sind.

Auf der Suche nach Altenativen wurden 2015 die ersten kommunalen Apotheken in zwei Gemeinden im Norden Santiagos eröffnet: von dem kommunistischen Bürgermeister Daniel Jadue in Recoleta und von Carlos Cuadrado Prats, Bürgermeister in Huechuraba. Der erklärt, der Marktpreis der Medikamente sei völlig losgelöst von den eigentlichen Produktionskosten. "Viele Menschen, die in der Lage gewesen wären, den Herstellungspreis zu zahlen, mussten weiter unter Krankheiten und Schmerzen leiden", so Cuadrado. "Denn den Marktpreis, diesen von transnationalen und chilenischen Apothekenketten willkürlich festgelegten Wucherpreis, konnten sie nicht zahlen."


Kampf um soziale Gerechtigkeit

Bürgermeister Carlos Cuadrado Prats ist der Enkel von Carlos Prats, dem früheren Heereschef und Innenminister in der Zeit der Unidad Popular unter der Regierung von Salvador Allende. Nach dem Putsch wurde Prats 1974 bei einem Attentat des chilenischen Geheimdiensts DINA in Buenos Aires ermordet. Sein Enkel war der Gründer einer der ersten kommunalen Apotheken. Er erklärt das Prinzip: "Als Stadtverwaltungen kaufen wir die Medikamente bei den Pharmaproduzenten zu einem angemessenen Preis, und zu demselben Preis verkaufen wir sie auch an die Bürgerinnen und Bürger weiter." Wichtig ist für den Bürgermeister: "Wir machen selbst keinen Gewinn oder Preisaufschlag beim Verkauf. Für uns ist das ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit in unserem Land." Die Gemeinden stellen die Räumlichkeiten der Apotheken und zahlen die Löhne für die Mitarbeitenden. Inzwischen sind in 150 Orten Chiles kommunale Apotheken entstanden. Sie handeln mit etwa 700 Medikamenten und medizinischem Zubehör und machen dabei einen Jahresumsatz von etwa 11 Millionen Euro. Gerade in Zeiten der Pandemie sieht Bürgermeister Cuadrado sehr positive Effekte für seine Gemeinde: "Von Januar bis September hatten wir einen Umsatz von 100 Millionen Pesos. Bei kommerziellen Apotheken hätten dieselben Medikamente 400 Millionen Pesos gekostet." Das bedeute, dass die 75.000 Bewohner*innen von Huechuraba in neun Monaten der Krise umgerechnet etwa 350.000 Euro gespart haben.


Gemeinsam stark

Über hundert kommunale Apotheken haben sich inzwischen in der Vereinigung der kommunalen Apotheken in Chile ACHIFAP (Asociación de Farmacias Populares de Chile) zusammengeschlossen. Sie wollen die Lebensbedingungen in den Gemeinden verbessern und außer Apotheken auch andere Projekte, z. B. Optiker-Niederlassungen, aufbauen. Vor allem aber hat der Verband genügend Gewicht, um bei den Pharmaproduzenten gute Preise aushandeln zu können. "Wir kaufen direkt bei den Pharmaproduzenten. Früher war es für uns schwer, mit ihnen einen fairen Preis auszumachen", erklärt Bürgermeister und ACHIFAP-Generalsekretär Cuadrado. Inzwischen könne ACHIFAP aber die Bedingungen festsetzen. "Denn wir kaufen große Mengen an Medikamenten auf dem chilenischen Markt und können sogar auch Produkte von ausländischen Pharmakonzernen kaufen und nach Chile importieren."


Kommunale Apotheken: Erfolgskonzept und Herausforderung

Die kommunalen Apotheken seien ein Erfolgskonzept, das zugleich die Schwächen des chilenischen Gesundheitssystems entlarve, meint Osvaldo Artaza. Er war in den 2000er Jahren Gesundheitsminister und berät heute als Experte für öffentliche Gesundheitsversorgung die Panamerikanische Gesundheitsorganisation: "Teilweise fangen die kommunalen Apotheken das ab, was eigentlich das allgemeine Gesundheitssystem lösen sollte. Wenn Chile es nicht schafft, seinen Bürger*innen lebenswichtige Medikamente zur Verfügung zu stellen, dann sind solche kleinen Lösungen unverzichtbar." Die Menschen schätzten das sehr, und er wolle die Bedeutung dieser Lösungen auch nicht kleinreden, so Artaza. "Aber wir sehen doch ganz klar, dass die chilenische Bevölkerung keinen gesicherten Zugang zu notwendigen Medikamenten hat."


Was hat das mit der Verfassung zu tun?

Seit der Zeit der Diktatur ab 1973 und der damit einhergehenden Einführung eines neoliberalen Wirtschaftsmodells wurden fast alle Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge und damit auch das chilenische Gesundheitssystem weitgehend privatisiert. Die aktuelle Verfassung von 1980 beschreibe das Recht auf Gesundheit als das Recht, zwischen einer öffentlichen und einer privaten Gesundheitsversorgung zu wählen, erklärt Artaza. Für viele Menschen biete das aber keine gute, rechtzeitige und bezahlbare Gesundheitsversorgung. Seit der Diktaturzeit würden Anreize für die Einrichtung privater Versicherungen, der sogenannten ISAPRES, gesetzt, erklärt Artaza. Doch nur etwa 20 Prozent der Chilen*innen könne sich eine private Gesundheitsvorsorge leisten. Die Mehrheit erhalte lediglich eine oft mangelhafte Grundversorgung über den Nationalen Gesundheitsfonds FONASA. "Wenn wir ein funktionierendes Gesundheitssystem hätten, das die Versorgung mit notwendigen Medikamenten einschließt", so Artaza, "wären kommunale Apotheken und solche Lösungen nicht notwendig".

Das Recht auf eine angemessene Gesundheitsversorgung für alle ist eine zentrale Forderung der Proteste, die Chile seit Oktober 2019 bewegen. Und es wird ein wichtiger Punkt sein in der Debatte rund um die neue Verfassung, die ein Verfassungskonvent bis 2022 schreiben wird.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2021

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