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AUSLAND/1915: Pakistan - Kampf gegen Polio, Impfhelfer wollen sich Islamisten nicht beugen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. Januar 2013

Pakistan: Impfhelfer wollen sich Islamisten nicht beugen - Kampf gegen Polio soll weitergehen

von Ashfaq Yusufzai und Zofeen Ebrahim


Bild: © Adil Siddiqi/IPS

Familien trauern um ermordete Gesundheitsarbeiter
Bild: © Adil Siddiqi/IPS

Peshawar/Karachi, 2. Januar (IPS) - Die Ermordung von neun Gesundheitsarbeitern, die an einer Impfkampagne gegen Kinderlähmung im Nordwesten Pakistans und in der südlichen Hafenstadt Karachi beteiligt waren, hat landesweit zu Entsetzen und Empörung geführt. Den Behörden zufolge wird man sich dem Terror der Islamisten aber nicht beugen, sondern alles daransetzen, um das südasiatische Land endlich poliofrei zu machen.

"Heute stoppen sie die Impfkampagne in Karachi, morgen werden sie die landesweiten Programme unterbinden", warnte ein Gesundheitsarbeiter der Regierung, der sich Anonymität ausbat. "Doch wollen wir ein Land von Behinderten?"

Wie der Arzt Imtiaz Ali Shah, der wichtigste Ansprechpartner für Impfkampagnen in der nordwestlichen Provinz Khyber Pakhtunkhwa, versicherte, arbeiten die Helfer bereits an einer neuen Strategie, um die Kampagne mit Hilfe gewählter Vertreter wieder in Gang zu bringen. "Wir wollen die Impfungen im vollen Umfang durchführen, um die Krankheit zu beseitigen, bevor sie das Ausmaß einer Epidemie annehmen kann", sagte er.

Vier Helferinnen waren im letzten Monat in Karachi von maskierten Männern auf Motorrädern erschossen worden. Die anderen fünf Opfer starben in den Städten Peshawar und Charsadda in der an Afghanistan angrenzenden Provinz Khyber Pakhtunkhwa eines gewaltsamen Todes. Zuvor war in dem Karachi-Viertel Sohrab Goth am ersten Tag einer auf drei Tage angelegten Impfkampagne ein Helfer ermordet worden.

Shahnaz Wazir Ali, die den pakistanischen Ministerpräsidenten Raja Pervez Asharf im Zusammenhang mit Polio berät, kam aus Islamabad nach Karachi, um den Familien der vier ermordeten Helferinnen ihr Beileid auszusprechen und die bei den Angriffen Verletzten zu besuchen. "Die Regierung von Sindh muss eine ernsthafte Bestandsaufnahme vornehmen und ihre derzeitigen Vorgehensweisen überprüfen. Wir müssen jedes Kind erreichen", erklärte sie.


Impfungen ausgesetzt

In den Provinzen Sindh, Belutschistan und Teilen von Khyber Pakhtunkhwa wurden die Impfungen inzwischen ausgesetzt. Aktivisten und Gesundheitsarbeiter, die mit der politischen Lage in den Gebieten vertraut sind, sehen die Angriffe als Teil eines von den Taliban angeführten Feldzuges, der auch dann weitergehen wird, wenn das Interesse internationaler Medien an den jüngsten Vorfällen erloschen sein wird.

Seit 2005 zieht Maulana Fazlullah, der Anführer der islamistischen Gruppe Tehreek-e-Nafaz-e-Shariat-e-Mohammadi (TNSM), mit Hilfe eines lokalen Radiosenders im Bezirk Swat gegen die Polioimpfungen zu Felde. "Die Kampagne begann lange vor der Ankunft der Extremisten in Swat. Fazlullah predigte in Moscheen und forderte die Menschen auf, sich von den Impfungen fernzuhalten, da sie angeblich gegen den Islam verstießen", berichtet Rasool Khan vom Erweiterten Immunisierungsprogramm (EPI) der Aga-Khan-Universität in Karachi.

Als die Islamisten ihre Macht in den pakistanischen Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA) ausdehnen konnten, trat Fazlullah an die Spitze von TNSM in Swat. Sein Kampf gegen die Impfungen wurde damit zu einem offiziellen Anliegen der Taliban.

"Überall in Khyber Pakhtunkhwa und in den FATA leisteten die Taliban Widerstand gegen die Immunisierungen", erläuterte Khan. "Die Fundamentalisten verunglimpften die Schluckimpfung gegen Polio als eine List der USA und ihrer westlichen Verbündeten im Kampf gegen den Terrorismus, um Muslime unfruchtbar zu machen."

Bei den Einwohnern der Provinzen fand die Kampagne der Taliban rasch Zuspruch. Das Misstrauen war bereits groß, als die Mitarbeiter von UN und anderen Hilfsorganisationen in ihren Fahrzeugen durch das Land fuhren, um Kindern die Schluckimpfung zu verabreichen.

2011 waren weltweit nur in drei Staaten Polio-Fälle bekannt: in Pakistan, Afghanistan und Nigeria. 2005, als in ganz Pakistan lediglich 28 Fälle registriert wurden, galt die Krankheit in Pakistan als nahezu besiegt. 2008 wurde jedoch ein rascher Anstieg auf 117 Erkrankungen verzeichnet, denen 2010 weitere 27 folgten. 2011 lag die Gesamtzahl der bekannten Fälle bei 198.

Nach Angaben des pakistanischen Gesundheitsministeriums kam es seit 2007 in Khyber Pakhtunkhwa und den FATA bei Impfungen zu etwa 50.000 Zwischenfällen, da zahlreiche Eltern Widerstand leisteten. Jahrelang mussten die Impfhelfer bei der Arbeit um ihr Leben fürchten. Viele weigerten sich, an Einsätzen in Pakistan teilzunehmen.

Wie Tahseenullah Khan berichtete, Koordinator der Nationalen Forschungs- und Entwicklungsstiftung (NRDF), die die vom Weltkinderhilfswerk UNICEF finanzierte Impfkampagne seit 2009 unterstützt, konnte die Stiftung die Bevölkerung mit Hilfe von Religionsgelehrten zunehmend vom Nutzen der Immunisierungen überzeugen.


Als Arzt getarnter CIA-Agent spielte Taliban in die Hände

Die Stimmung schlug jedoch um, als sich der CIA-Agent Shakil Afridi als Arzt ausgab und ein falsches Impfzentrum in der nordpakistanischen Stadt Abbottabad eröffnete, um Informationen über Terroristenführer Osama bin Laden zu sammeln. Die Taliban profitierten von dem Skandal. "Die meisten Menschen glauben jetzt den Taliban, wenn sie sagen, dass die USA Spione in die Rückzugsgebiete der Islamisten einschleusen wollen", erklärte Rasool Khan.

Dennoch konnte Pakistan mit nur 56 bekannten Fällen im letzten Jahr große Fortschritte im Kampf gegen Polio machen. Weltweit ist die Zahl der Erkrankungen von rund 350.000 in 1998 auf weniger als 1.000 im Jahr 2011 zurückgegangen. (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.unicef.org/immunization/index_polio.html
http://www.polioeradication.org/Infectedcountries.aspx
http://www.ipsnews.net/2012/12/the-politics-of-polio-in-pakistan/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2013