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AUSLAND/1913: Israel - Gegen Schmerzen und Zittern, Cannabis erfolgreich als Medikament verwendet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Dezember 2012

Israel: Gegen Schmerzen und Zittern - Cannabis erfolgreich als Medikament verwendet

von Pierre Klochendler



Kibbutz Na'an, Israel, 19. Dezember (IPS) - Mit seinen zuckenden Händen schafft es der 80-jährige Mosche Roth kaum, das grüne Pulver in seine Pfeife zu füllen. "Sogar der Duft ist gut", sagt der alte Mann, der im Rollstuhl sitzt, mit zittriger Stimme.

Als Kind hat Roth den Holocaust überlebt, und vor zwei Jahren erlitt er einen Schlaganfall. Seitdem kann er seine Hände kaum noch bewegen. Im vergangenen Jahr folgte ein weiterer Schicksalsschlag: der Tod seiner Frau. Das Marihuana, das er raucht, macht ihm das Leben etwas erträglicher. "Es fällt leichter, um einen geliebten Menschen zu trauern, wenn man eine gute Pfeife im Mund hat", meint der ehemalige Armeeoffizier. "Haschisch hat mein Leben verändert."

Roth hat immer schon gern gezeichnet und geschrieben. Wenn er einen Zug aus der Pfeife nimmt, kommen seine Hände zur Ruhe und er kann wieder einen Stift führen. Er ist einer von rund 10.000 Patienten, die in Israel legal Cannabis konsumieren dürfen. Im Pflegeheim Hadarim außerhalb von Tel Aviv ist die Verabreichung von Marihuana Teil der regulären medizinischen Behandlung. 19 von 36 Patienten profitieren davon.

"Wir können zwar Leben verlängern, doch die Schmerzen sind groß. In der Geriatrie hat die Zukunft keine Bedeutung mehr. Es zählt nur das Jetzt und die Frage, wie sich die verbleibende Lebenszeit durch Lebensqualität bereichern lässt", erklärt Oberschwester Inbal Sikorin, als sie den Safe öffnet, in dem sich in Tüten abgepacktes Cannabis befindet.

Der Wirkstoff kann gespritzt oder über einen Joghurt eingenommen werden. Dreimal täglich erhalten die Patienten jeweils ein halbes Gramm der Substanz. Nach den Erfahrungen der Ärzte, Pfleger und Kranken konnten die herkömmlichen Medikamente dadurch reduziert werden. "Warum soll ich Schmerzmittel einnehmen? Mit Cannabis fühle ich mich sehr gut", sagt die 85-jährige Rivka Haloup, die an akuter Arthritis leidet.

Parkinson-Kranke inhalieren sechs Mal täglich Cannabis-Dampf. Die Pfleger und Krankenschwestern tragen dann Masken. Die größte Wirkung zeigt jedoch ein Joint. "Cannabis verändert zwar nicht die Realität, macht es aber leichter, sie zu akzeptieren", sagt Sikorin. Für die älteren Patienten sei dies ein Segen.


Verwendung in der Medizin legal

Dieser Segen kommt aus dem Hirtendorf Birya, das mitten in den Hügeln von Galiläa liegt. Die lokale Produktion läuft auf Hochtouren. Auf einer Fläche von etwa 1,2 Hektar wird Marihuana angebaut. Das Gewächshaus der Firma 'Tikkun Olam' (zu deutsch: 'die Welt in Ordnung bringen') ist das größte von acht, in denen die Pflanzen mit Genehmigung des israelischen Gesundheitsministeriums gezüchtet werden. So werden ganz legal Hunderte Kilo medizinisches Cannabis im Jahr hergestellt. "Wir verkaufen Cannabis an Patienten und über unsere Ladenkette", erklärt der Unternehmensmanager Zach Klein.

Etwa 200 Millionen Menschen nehmen weltweit illegal Marihuana. Israel erlaubt die Herstellung für medizinische Zwecke. Durch die von der Regierung überwachte Forschung ist Israel eines der Cannabis-freundlichsten Länder der Welt geworden.

Tikkun Olam besitzt ein weiteres Grundstück in der Ibn-Gvirol-Straße in Tel Aviv. Es wird von einem Wächter und Kameras überwacht. Am Haus, dessen Rollläden heruntergelassen sind, befindet sich kein Schild. Im Gebäude erwartet den Besucher jedoch eine grüne Welt. Auf dem Firmenlogo, das mit einem Blattmotiv geschmückt ist, ist der Bibelpsalm 118:23 zu lesen: "Das ist vom Herrn geschehen und ein Wunder vor unsern Augen."

Patienten mit chronischen Nervenschmerzen würdigen Cannabis als einzigen Stoff mit willkommenen Nebenwirkungen. "Ich habe alle anderen Mittel ausprobiert", sagt ein Kunde. "Das ist das erste, das wirklich hilft."


Marihuana in Kuchen, Honig und Cremes

Man könnte denken, dass Tel Aviv inzwischen ein zweites Amsterdam geworden ist, wo der Marihuana-Konsum toleriert wird, auch wenn der Verkauf 'weicher' Drogen eigentlich nicht erlaubt ist. Die Kunden zeigen ihre Rezepte vor und können Cannabis erwerben. Das 'Gras' wird in allen Farben und Kombinationen angeboten, in Schokolade, Kuchen, Kaugummi, Bonbons, Honig und Balsam. An der Kasse erfahren die Kunden, wie die Produkte am besten wirken.

Menachem Barabi hat schon vier Schlaganfälle hinter sich. Jeden Monat konsumiert er 60 Gramm Haschisch zum Preis von umgerechnet 100 US- Dollar. "Ich hatte furchtbare Schmerzen und konnte nicht mehr schlafen", erzählt er. "Gott sei Dank nehme ich jetzt Cannabis."

"Ich habe einen bösartigen Lymphtumor", sagt Guy Bar-Yosef. "Da ich keinen Hunger mehr hatte, nahm ich zehn Kilo ab. Als ich anfing, Joints zu rauchen, kam der Appetit jedoch zurück. Marihuana ist ein Zaubermittel." Die zwölf Cannabis-Sorten, die derzeit von der Firma entwickelt werden, tragen häufig die Namen verstorbener Patienten.

Der Sprecher von Tikkun Olam, Shay Amir, zeigt Proben in den Regalen. "Das ist unser Vorzeigeprodukt, 'Eres', ein wirkungsvolles Schmerzmittel, das auch den Appetit anregt und beim Einschlafen hilft." Andere Präparate eignen sich besonders für Patienten mit multipler Sklerose oder Osteoporose.

Eines der Erzeugnisse trägt den Vornamen von Chemieprofessor Raphael Mechoulam von der Hebräischen Universität in Jerusalem, der auch der 'Großvater des Cannabis' genannt wird. "In manchen Fällen ist es ein großartiges Medikament", sagt er. "Nichts eignet sich jedoch für alles."


Neues Präparat für krebskranke Kinder entwickelt

Tetrahydrocannanbinol (THC), der wichtigste aktive Bestandteil von Cannabis, wurde von Mechoulam 1964 isoliert. Seit diesem Jahr ist ein Produkt auf dem Markt, das Cannabidiol (CBD), nicht aber THC, enthält und unter anderem für krebskranke Kinder entwickelt wurde. Studien zeigen, dass CBD Entzündungen, Krämpfe, Angstzustände, Depressionen, posttraumatischem Stress und Übelkeit entgegenwirkt und das Wachstum von Tumorzellen hemmt. 500 der rund 2.000 Kunden von Tikkun Olam nehmen das neue Erzeugnis bereits ein. (Ende/IPS/ck/2012)


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http://www.ipsnews.net/2012/12/some-take-cannabis-illicitly-israelis-take-it-seriously/

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IPS-Tagesdienst vom 20. Dezember 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2012