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VORSORGE/555: Forschung - Ernährung und Lebensstil im Kindesalter (Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 1/2011

Aus der Forschung

Ernährung und Lebensstil im Kindesalter
Wie wirksam sind Gesundheitsprogramme wirklich?

von Antje Hebestreit und Richard Verhoeven


Sitzende Tätigkeit, nachlässige Ernährung und Stress - eine Lebensweise, die viele Erwachsene aus ihren täglichen Gewohnheiten kennen, wird auch für Kinder immer mehr zum Alltag. Die Folgen sind Übergewicht und sogar Fettleibigkeit schon bei Zwei- bis Zehnjährigen und wirken als gesundheitliche Belastung bis ins Erwachsenenalter hinein. Die europaweite IDEFICS Studie, koordiniert vom Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS), entwickelt Programme, wie bessere Ernährung, mehr Bewegung und ausreichend Entspannung in den Alltag der Kinder an Schulen, in Kindergärten und zuhause integriert werden können.


In den vergangenen Jahren ist ein deutlicher Anstieg von Übergewicht und Fettleibigkeit (Adipositas) gerade bei Kindern und Jugendlichen zu beobachten. Studien belegen: Bereits neun Prozent der Drei- bis Sechsjährigen sind übergewichtig und sogar 15 Prozent der Sieben- bis Zehnjährigen. Viele der Kinder müssen als fettleibig bezeichnet werden. Adipositas im Kindesalter ist besonders kritisch, weil Kinder, die bereits vor der Pubertät fettleibig sind, mit großer Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsene Übergewicht und damit einhergehende Folgeerkrankungen haben.

Die geänderte Lebensumwelt von Kindern in Europa spiegelt sich unter anderem in einem zunehmend ungesunden Ernährungsverhalten und einer weitgehend sitzenden Lebensweise wider. Unausgewogene Ernährung und fehlende körperliche Aktivität spielen eine entscheidende Rolle in der Entwicklung kindlichen Übergewichts, kindlicher Fettleibigkeit und damit zusammenhängender Stoffwechselstörungen, wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Beeinträchtigungen des Bewegungsapparates.

Um die lebensstilbedingten Erkrankungen zu stoppen, sind leistungsfähige Interventions-Ansätze erforderlich. Diese stehen im Fokus von IDEFICS (Identification and prevention of dietary- and lifestyle-induced health effects in children and infants), eines Projekts, das im 6. Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union gefördert wird.


Vorher - nachher: Der große Gesundheitscheck

Um sich ein genaues Bild über Ursachen und Entstehung von Übergewicht im Kindesalter machen zu können, startete das BIPS im September 2006 die auf fünf Jahre angelegte IDEFICS-Studie, an der elf EU-Mitgliedsstaaten teilnehmen: Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, Schweden, Ungarn und Zypern.

Die IDEFICS-Studie geht gezielt der Frage nach wie wirksam Programme zur Vermeidung von Übergewicht wirklich sind. Um diese Frage beantworten zu können, wird viel verglichen: Zunächst, von September 2007 bis Mai 2008, untersucht IDEFICS, wie es um die Gesundheit der Kinder und ihre Lebensumwelt steht. Der Gesundheitscheck umfasst neben Bioproben (Urin, Blut, Speichel) und medizinischen Standarduntersuchungen (Körpermaße, Blutdruck, Knochensteifigkeit) auch zahlreiche Fitnesstests, Aktivitätsmessungen sowie Fragebögen zur gesundheitlichen Vorgeschichte der Familie, zum Lebensumfeld und zur Ernährung. Schulen und Kindergärten geben Auskunft über Speisepläne und Bewegungsangebote.

Nachdem die Programme für ein besseres Ernährungs- und Bewegungsverhalten eingeführt sind und ein Jahr lang laufen, werden dieselben Kinder erneut untersucht, um zu sehen, welche Programme wirksam sind. Gleichzeitig untersucht IDEFICS in einer Vergleichsregion, wie sich das Verhalten der Kinder auch ohne diese Programme verändert: Die Kinder wachsen heran, die Interaktion mit Familie und Schule verändert sich und das Lebensumfeld vergrößert sich.


Ernährung, Bewegung, Entspannung

Im Anschluss an die Basisuntersuchung starten die IDEFICS Programme. Über ein Jahr lang beteiligen sich 396 Schulen und Kindergärten in den Partnerländern, in Deutschland sind es 62 Einrichtungen. Ernährung, Bewegung und Entspannung sind die Schlüsselbotschaften, zu denen es standardisierte Programme gibt. Verschiedene Gesundheitswochen füllen nun den Kita- und Schul-Alltag nicht nur theoretisch, sondern motivieren Kinder, Erzieher, Lehrer und Eltern durch praktische Aktionen gleichermaßen.

Die besondere Stärke von IDEFICS liegt in der Vernetzung der beteiligten Kindergärten und Schulen, auch mit den Eltern und Gemeinden. Damit schufen die Einrichtungen ein Forum, in dem sie Strukturänderungen fördern und, einzeln oder kooperativ, Sponsorenmittel einwerben können. Die so erlangte Unabhängigkeit der Einrichtungen sichert die Nachhaltigkeit der Programme ebenso, wie die Möglichkeit der Einrichtungen, sich die Programme und Materialien gezielt auszuwählen und auf sich zugeschnitten in den Alltag zu integrieren.

Die Studie nimmt auch die bauliche Umwelt der Kinder unter die Lupe, denn eine Umgebung, die zu Bewegung einlädt, ist ein wichtiger Antrieb für einen gesünderen Lebensstil. Spielwiesen, und Bolzplätze werden akribisch verortet. Sogar die Verführungen am Wegesrand, etwa der Süßigkeitenladen an der Ecke, gehen in die Analyse der Schulwege ein. Neu entwickelte Methoden und deren Ergebnisse können die städteplanerische Politik unterstützen.


Hinsetzen bei Tisch

Einige Ergebnisse der IDEFICS Studie zeichnen sich schon jetzt ab. Eine der bisher wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie ist die enge Verbindung von Schlafdauer und Übergewicht. Kinder, die zu wenig schlafen haben ein höheres Risiko für Übergewicht und Adipositas.

Ebenso wichtig ist es, die Eltern in die Betrachtungen einzubeziehen. Ernährungsbedingte Krankheiten sind nicht nur genetisch bestimmt, sondern hängen auch wesentlich vom Verhalten ab. Die Ergebnisse der IDEFICS Studie zeigen, dass Bildung und Einkommen der Eltern einen hohen Einfluss sowohl auf die Qualität der Ernährung als auch auf das Körpergewicht der Kinder haben.

Eltern beeinflussen das Ernährungs- und Bewegungsverhalten ihrer Kinder vorwiegend auf drei Ebenen: Sie sind Vorbild, sie setzen und kontrollieren Regeln und sie schaffen ausreichend Angebote und spornen die Kinder an. In der Praxis scheint dies nicht immer zu funktionieren. In allen untersuchten Ländern der Studie gaben die Eltern an, nur selten Regeln durchzusetzten. Befragte Kinder können Regeln nur selten überhaupt benennen und müssen meist auch keine Sanktionen fürchten.


Risiken für Diabetes und Osteoporose

Übergewichtige und fettleibige Kinder zeigen schon vor der Pubertät häufig eine Insulinresistenz und leben mit einem erhöhten Risiko für Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Untersuchungen über das Diabetes-Risiko bei über 9000 Kindern in ganz Europa schafft auch eine Grundlage, um bisher fehlende Referenzwerte für die Insulin- und Glukosekonzentration im Blut von Kindern zu definieren.

Viele weitere Daten im Projekt IDEFICS geben Auskunft über die Risiken, die ein Mangel an Bewegung im Kindesalter für die Gesundheit im späteren Lebenslauf hat. So erweisen sich körperliche Aktivität und Muskelkraft als wichtige Kenngrößen für die Knochenfestigkeit im Kindesalter, die in enger Verbindung mit dem Osteoporoserisiko im Erwachsenenalter steht.


Erfolgreiche Programme zur Prävention

Für das länderübergreifende Projekt entwickelten die Forscher standardisierte Erhebungsmethoden über Ernährung, Lebensstil, psychologische, biochemische und genetische Faktoren für Übergewicht und Adipositas, das Metabolische Syndrom und Knochengesundheit bei Kindern. Solche Standards erlauben die Vergleichbarkeit von Daten verschiedenster Untersuchungen und sind für Forschung und Monitoring in der Zukunft von großem Wert.

Mit den Ergebnissen der IDEFICS Studie erhalten Gesundheitsforschung und Politik erstmals gesicherte und vergleichbare Daten über den Erfolg von Programmen zur Prävention von kindlichem Übergewicht. Darüber hinaus werden in der Studie Empfehlungen auf Basis der Ergebnisse entwickelt, die europaweit einsetzbar sind. Die Empfehlungen zielen auf einen gesunden Lebensstil im Bereich Ernährung und Bewegung und werden ethische und kulturelle Aspekte berücksichtigen. Zielgruppen für diese Richtlinien sind neben Politikern, Wissenschaftlern und Multiplikatoren auch die Krankenversicherungen und andere Interessengruppen.

Auch nach der Studie bleibt der Kontakt zu den Eltern, Kindergärten und Schulen bestehen. IDEFICS bietet Chats zu den Kernthemen der Studie auf Facebook an und versendet Newsletter zu aktuellen Ergebnissen der Studie. In einem Folgeprojekt, I.Family genannt, wollen die Forscher noch weiter gehen und den Focus auf gesundheitliche Einflussfaktoren in den Familien verstärken.


BIPS
Weitere Informationen:
www.bips.uni-bremen.de
www.idefics.eu


Antje Hebestreit
leitet die Fachgruppe Lebensstilbedingte Erkrankungen am Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin. Nach Ihrem Studium und der Promotion an der Uni Gießen leitete sie als Postdoc für die Harvard Universität eine klinische Interventionsstudie in Tansania; es folgte eine Beratungstätigkeit für das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen in Guinea Bissau, nach der sie dann 2006 am BIPS die Leitung des deutschen IDEFICS Surveys und der Intervention übernahm.

Richard Verhoeven
arbeitet seit 2003 als Freier in der Wissenschaftskommunikation und betreut seit 2008 die Öffentlichkeitsarbeit am Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin. Er studierte und promovierte am Zentrum für Umweltforschung und nachhaltige Technologien der Universität Bremen bevor er eine Ausbildung zum Fachjournalisten in Hamburg begann. Seither bietet er Text, Grafik und Konzepte zur Öffentlichkeitsarbeit an.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildreihe auf Seite 10-11:
Zu Beginn und am Ende der Studie wurden die Kinder gründlich untersucht, um die Wirkung der Aktionen zur Prävention zu testen.

Seite 12:
Die IDEFICS-Handpuppe als Sympathieträger. Eine Puppe aus Stoff gab es für jedes teilnehmende Kind.

Seite 12:
Himmel und Hölle in der Pause. Bei einer Malaktion konnten die Kinder den Schulhof verschönern und ihre Hüpfspiele erneuern.

Seite 12:
Spiele wie "Koffermann" sorgen für ausreichend Bewegung auf dem Schulhof.

Seite 13:
Das IDEFICS Projekt erfreute sich großer Aufmerksamkeit in den Medien. Hier dreht ein Team für die Sendung "Faszination Wissen" des Bayerischen Rundfunk.

Seite 13:
Ein Accelerometer zeichnet die Intensität der Bewegung auf.


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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 1/2011, S. 10-13
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
Universitäts-Pressestelle
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2011