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UMWELT/636: Fukushima und Tschernobyl stellen Unabhängigkeit der WHO in Frage (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. April 2011

Gesundheit: Fukushima und Tschernobyl stellen Unabhängigkeit der WHO in Frage

Von Gustavo Capdevila


Genf, 27. April (IPS) - Die Atomkatastrophe im japanischen Fukushima und die Erinnerungen an den Reaktorunfall in Tschernobyl vor 25 Jahren haben Kritik an der Rolle der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Umgang mit den Strahlenopfern neue Nahrung gegeben. Seit Jahren werfen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) der UN-Agentur vor, beim Schutz der radioaktiv verseuchten Menschen schändlich zu versagen.

'IndependentWHO', eine internationale Koalition aus NGOs wie den Weißrussischen Kindern von Tschernobyl, den Internationalen Ärzten für die Verhütung eines Atomkriegs, der Bewegung Gesundheit für alle und der Kommission für unabhängige Information und Forschung über Radioaktivität, führen die "Inaktivität" der WHO auf ein Abkommen mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zurück.

Die Übereinkunft WHA 12-40 aus dem Jahre 1959 zwischen der IAEA, einer UN-Organisation zur Förderung der friedlichen und sicheren Nutzung der Atomkraft, und der WHO sei für die Fehlinformationen über die gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen des Reaktorunfalls von Tschernobyl verantwortlich, so IndependentWHO. "Die WHO muss unbedingt ihre Unabhängigkeit zurückgewinnen, damit sie den Zusammenhang zwischen radioaktiver Strahlung und Gesundheit untersuchen kann."

In ihrem Abkommen von 1959 einigten sich die beiden UN-Agenturen auf eine enge Zusammenarbeit in Bereichen, die von gegenseitigem Interesse sind. Darüber hinaus sieht die Übereinkunft zwischen den beiden äußerst ungleichen Vertragspartnern die Geheimhaltung bestimmter Dokumente vor. Die IAEA ist dem UN-Sicherheitsrat unterstellt, die WHO dem weniger einflussreichen UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC).


"Inzestuöse Beziehung"

Dem NGO-Bündnis zufolge hindert das Abkommen die WHO daran, ihre Aufgaben zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit wahrzunehmen. "Die WHO sollte die inzestuöse Beziehung mit der IAEA beenden", fordert der russisch-schweizerische Journalist Wladimir Tschertkoff, der sieben Fernsehdokumentarfilme über Tschernobyl produziert hat.

Nach Ansicht des prominenten Wissenschaftlers Jean Ziegler, der derzeit dem Beratungsausschuss des UN-Menschenrechtsrats angehört, ist es der Atomlobby gelungen, die WHO von ihrem Mandat abzubringen, für die Opfer nuklearer Katastrophen Sorge zu tragen.

Gemäß dem umstrittenen Abkommen ist allein die IAEA für die Opfer nuklearer Katastrophen zuständig, obwohl der Organisation das dafür notwendige UN-Mandat und das Knowhow fehlen. "Eine unerträgliche Situation, die tausende Menschen unnötig das Leben kostet und die unseren Verdacht erhärtet hat, dass sich die Atomlobby hier (in der WHO) bestens eingenistet hat", sagte Ziegler vor dem WHO-Gebäude in Genf gegenüber IPS.

Ziegler zufolge wurde die WHO von der Atom- und Pharmalobby "infiltriert". Er erinnerte an die unabhängige Untersuchung, die die ehemalige WHO-Generaldirektorin Gro Harlem Brundtland (1998-2003) veranlasst hatte. Die Studie fand heraus, dass einige WHO-Mitarbeiter während der Diskussion um das Rahmenabkommen zur Eindämmung des Tabakkonsums Zahlungen von der Tabakindustrie erhalten hatten. Das Übereinkommen wurde 2005 beschlossen.

WHO und IAEA hatten die Zahl der Tschernobyl-Opfer 2005 mit insgesamt 50 Toten und 4.000 Krebskranken angegeben. Doch IndependentWHO moniert, dass diese Zahlen nicht die vielen Kinder in den kontaminierten Gebieten berücksichtigten, die eine Erkrankungsrate von 80 Prozent vorweisen. Ebenso wenig werde das Schicksal der 600.000 bis 1.000.000 sogenannten Liquidatoren einbezogen, die die Rettungs- und Säuberungsaktivitäten in Tschernobyl durchführten und somit der größten Strahlenkonzentration ausgesetzt waren.

Eine russische Untersuchung ('Chernobyl: Consequences of the Catastrophe for People and the Environment'), die im Dezember 2009 von der Wissenschaftsgesellschaft 'New York Academy of Science' veröffentlicht wurde, gibt die Zahl der Tschernobyl-Strahlenopfer, die zwischen dem 26. April 1986 und 2004 ums Leben kamen, mit 985.000 an.


Rechtzeitige Hilfe ausgeblieben

Mehr als 80 Prozent der Kinder, die damals in der Ukraine, Weißrussland und Russland radioaktiv verseucht worden waren, hätten sich damals bei guter Gesundheit befunden, heißt es in der Studie. Heute hingegen gehe es nur noch weniger als 20 Prozent gut.

Seit dem 27. April 2007 halten die Mitgliedsorganisationen von IndependentWHO vor dem WHO-Gebäude in Genf an allen Werktagen Mahnwachen ab, um eine Revision des WHO-IAEA-Abkommens zu erreichen. Die WHO müsse endlich ihrem Verfassungsauftrag nachkommen, "allen Menschen das höchste Maß an Gesundheit zu verschaffen".

Doch Tschertkoff zufolge ist die WHO auf Reaktorunfälle nicht ausreichend vorbereitet und mit der Situation in Fukushima im Nordosten Japans vollständig überfordert. Sie verfüge gerade einmal über fünf Mitarbeiter, die sich in der Materie auskennen würden, so der Journalist. Zwei der Mitarbeiter kämen frisch von der Universität und hätten somit keinerlei praktische Erfahrung.

Wie der Experte erklärte, gibt es innerhalb der WHO zwei unterschiedliche Strömungen. Die eine sei der Meinung, dass die jüngsten Entwicklungen in Japan eine erneute Diskussion über die Atompolitik erforderlich machten. Die andere Gruppe fürchte sich vor einer Debatte, weil sie einem Eingeständnis gleichkäme, "in den vergangenen Monaten nichts zuwege gebracht zu haben".

IPS hatte sich vergeblich um eine Stellungnahme der WHO-Beauftragten für öffentliche Gesundheit und Umwelt, María Neira, bemüht.
(Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.independentwho.info/accueil_EN.php
http://www.independentwho.info/WHA_12_40_EN.php?sous_menu=onu
http://www.iaea.org/
http://www.enfants-tchernobyl-belarus.org/doku.php?id=notre_association
http://www.phmovement.org/
http://www.criirad.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=55403

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Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2011