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TRANSPLANTATION/449: Immer ältere Organe für immer kränkere Patienten (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2010

Transplantationsmedizin
Immer ältere Organe für immer kränkere Patienten

Von Uwe Groenewold


Transplantationsmediziner fordern neue Richtlinien zur Organverteilung. Dramatischer Spendermangel und schlechte Funktionsraten bereiten Sorgen.


Deutschlands Transplantationsmediziner fordern Änderungen im bestehenden Transplantationsgesetz, um die Zahl der Organspender zu erhöhen und die Erfolgsaussichten nach einer Transplantation zu verbessern. Aufgrund des Spendermangels werden derzeit immer ältere Organe in immer kränkere Patienten transplantiert, beklagte Prof. Björn Nashan vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) beim Kongress der Transplantationsmediziner Mitte Oktober in der Hansestadt.

Dies führt zu einer absurden Situation: Die Überlebensraten nach einer Transplantation sinken in Deutschland dramatisch ab. Haben bis vor wenigen Jahren neun von zehn Lebertransplantierte zumindest das erste Jahr nach der Übertragung überlebt, sind es heute nach Angaben von Nashan nur noch etwas mehr als sieben (72 Prozent). Ähnliche Tendenzen beobachten die Transplantationsmediziner auch bei den beiden anderen häufiger verpflanzten Organen Herz und Niere. "Grundsätzlich haben alle transplantierten Organe in Deutschland schlechtere Funktionsraten als in vergleichbaren europäischen Ländern", beklagte Prof. Uwe Heemann von der TU München, Präsident der Deutschen Transplantationsgesellschaft.

12.000 Menschen in Deutschland warten auf ein neues Organ, nur 4.709 erhielten 2009 eines. Jeden Tag sterben in Deutschland drei Menschen, die auf der Warteliste stehen. Die Kriterien, wer wann ein Spenderorgan bekommt, sind unterschiedlich und werden von der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), der Bundesärztekammer und der europäischen Vermittlungsstelle Eurotransplant in Leiden (Niederlande) koordiniert. Eine neue Leber (2009: 1.179 Transplantationen) erhalten die schwerstkranken Patienten, bei Herz (363) und Niere (2.772) entscheidet neben Größe und Gewebeverträglichkeit die Wartezeit über die Vergabe. "In Deutschland wartet ein Herzpatient, der mit hoher Dringlichkeit für eine Transplantation angemeldet ist, drei bis fünf Monate mit einem Kunstherz im Bett liegend auf der Intensivstation auf ein neues Organ. In Österreich wartet der gleiche Patient drei bis fünf Tage. Dass dieser Patient die besseren Überlebenschancen hat, liegt auf der Hand", sagte Prof. Hermann Reichenspurner vom UKE.

Die Ärzte sehen die Politik in der Pflicht: "Wir benötigen dringend eine Gesetzesänderung, die die Erfolgsaussichten einer Transplantation mehr in den Vordergrund stellt", forderte Prof. Heemann. Er spricht sich wie viele seiner Kollegen dafür aus, dass nicht mehr zwingend der Patient, der am schwersten erkrankt ist oder am längsten wartet, eines der raren Organe bekommt, sondern derjenige, der mit größter Wahrscheinlichkeit davon profitiert. Gesucht werden müsse eine ethisch vertretbare Lösung, die die Interessen Schwerstkranker berücksichtigt, forderte Heemann in Hamburg.

Dies wird unter anderem am Beispiel Leber deutlich: Im Dezember 2006 wurden die Verteilungsregeln für Spenderlebern in Deutschland nach amerikanischem Vorbild auf den sogenannten MELDScore (Model for Endstage Liver Disease) umgestellt. Dieser berechnet anhand verschiedener Laborwerte die Überlebenschancen des Patienten. Je höher der Wert auf der von 6 bis 40 reichenden Skala, desto schwerer ist der Patient erkrankt und desto dringlicher ist sein Bedarf nach einem Spenderorgan. In den USA, wo nach Angaben Nashans doppelt so viele Spenderlebern zur Verfügung stehen, haben transplantierte Patienten im Mittel einen Krankheitsscore von 22, in Deutschland beläuft sich dieser dagegen auf 35. Laut Definition beträgt bei einem solchen Patienten die Sterblichkeit in den nächsten drei Monaten 60 Prozent. Ob in diesen Fällen aus medizinischer Sicht eine Transplantation noch sinnvoll ist, sei oft fraglich, so Nashan.

In Österreich oder Spanien gibt es auch deshalb mehr Spenderorgane, weil dort die Widerspruchslösung gilt, die jeden zu einem potenziellen Organspender macht, der sich zu Lebzeiten nicht ausdrücklich dagegen ausgesprochen hat. In Deutschland dürfen Organe nur entnommen werden, wenn der Verstorbene einen Organspenderausweis führt oder die Angehörigen einverstanden sind ("erweiterte Zustimmungslösung"). Doch nur jeder vierte Bundesbürger hat einen solchen Ausweis. Dies führt zu beinahe unendlichen Leidenszeiten: Nierenpatienten etwa warten derzeit im Durchschnitt sechseinhalb Jahre auf ein neues Organ, Jahre, in denen sie meist auf eine Dialyse angewiesen sind. Wer dies überlebt, kann sich oft nicht lange über die Transplantation freuen, weil der Organismus insgesamt stark angegriffen ist. Nashan: "Nach fünf Jahren Dialyse leben nur noch 38,5 Prozent der Patienten. Je länger Dialysepatienten auf die Transplantation warten müssen, desto schlechter sind deren Erfolgsaussichten." Herzchirurg Reichenspurner warf Politik und Bundesärztekammer eine zögerliche Haltung bei der Einführung der Widerspruchslösung vor. "Der Deutsche Ethikrat und der Deutsche Ärztetag haben Empfehlungen für die Widerspruchslösung ausgesprochen und wir Transplantationsmediziner begrüßen sie. Aber an der Umsetzung hapert es bis heute."

Auch organisatorische Mängel auf den Intensivstationen sowie die nach Ärzteangaben nicht kostendeckende Vergütung, die die Krankenhäuser für die Organentnahme erhalten, sind weitere Gründe für die niedrige Zahl an gespendeten Organen in Deutschland. Die Transplantationsmediziner fordern für jede Intensivstation einen besonders geschulten Transplantationsbeauftragten (In-House-Koordinator), der potenzielle Organspender identifiziert und das Gespräch mit den Angehörigen sucht. In Deutschland kommen derzeit auf eine Millionen Einwohner 14,5 Organspender, in Spanien sind es dagegen mehr als doppelt so viele (34).

Hinzu kommt, dass die Qualität der gespendeten Organe aufgrund des Rückgangs tödlicher Verkehrsunfälle seit Jahren nachlässt. Ein Drittel der in Deutschland transplantierten Organe stammt von Menschen, die älter als 65 Jahre sind. Herzen dürfen von Spendern dieses Alters gar nicht mehr verpflanzt werden, weil die Kranzgefäße in aller Regel bereits verkalkt sind; eine Leber mit entsprechender Lebensdauer weist häufig bereits eine Verfettung auf. Schwerstkranken Patienten kann mit einem solchen Organ oft nicht dauerhaft geholfen werden.

Die Transplantationsmediziner werben auch aus diesem Grund für mehr Lebendspenden. Nieren und Teile der Leber können bei entsprechender Gesundheit ohne größere Gefahr an Angehörige oder enge Freunde gespendet werden. Die Spendenbereitschaft ist auch hier noch ausbaufähig: In Deutschland wurden im vergangenen Jahr 60 Lebern (Anteil an allen Lebertransplantationen: Fünf Prozent) und 600 Nieren (21,6 Prozent) lebend gespendet. Zum Vergleich: In Skandinavien beträgt der Anteil der Nierenlebendspenden über 80 Prozent.

Wenige Tage nach dem Kongress in Hamburg hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) eine neue Kampagne gestartet, die rund um das Thema Organ- und Gewebespende informieren will. Um Menschen dort zu erreichen, wo sie sich täglich aufhalten, wandert die Kampagne mit einer Informationstour ab 2011 quer durch Deutschland und macht Station in Einkaufszentren und bei Großveranstaltungen. Ob auch Orte in Schleswig-Holstein dabei sein werden, konnte die BZgA auf Anfrage noch nicht mitteilen.

Aktuell zum Kampagnenstart stellte die BZgA Ergebnisse einer neuen Repräsentativerhebung zu Einstellung und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organspende vor. Die Befragung zeigte, dass die Spendenbereitschaft zugenommen hat. Stimmten vor zwei Jahren 67 Prozent der Befragten zwischen 14 und 75 Jahren einer Organ- und Gewebespende nach ihrem Tod zu, so stieg ihr Anteil im Jahr 2010 auf 74 Prozent.

Auch der Besitz des Organspenderausweises ist in den letzten zwei Jahren deutlich von 17 auf 25 Prozent gestiegen. Als Gründe nannten diejenigen, die über einen Ausweis verfügen, zu 97 Prozent, dass sie anderen helfen möchten, und zu 72 Prozent, dass sie ihre Angehörigen mit dieser Entscheidung nicht belasten möchten. Auch wären 95 Prozent der Ausweisbesitzer froh, selbst ein Organ zu erhalten, wenn sie eines bräuchten.

Demgegenüber sagten 62 Prozent derjenigen, die bislang keinen Organspenderausweis haben, dass sie sich jetzt noch nicht entscheiden können und wollen, 47 Prozent fürchten einen Missbrauch durch Organhandel und 33 Prozent haben Angst, dass im Ernstfall nicht mehr alles medizinisch Notwendige von den Ärzten für sie getan wird.

Weitere Informationen zum Thema: www.organspende-info.de


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2010 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2010/201011/h10114a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt November 2010
63. Jahrgang, Seite 48 - 49
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Dezember 2010