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TRANSPLANTATION/442: Lebensfragmente (2) - Immuntoleranz, eine Gratwanderung (research*eu)


research*eu - Nr. 62, Februar 2010
Magazin des Europäischen Forschungsraums

TRANSPLANTATION - Lebensfragmente (2)
Immuntoleranz - eine Gratwanderung

Von Mikhaïl Stein


Allzu viele Transplantationen scheitern immer noch, weil das Spenderorgan vom Immunsystem des Empfängers abgestoßen wird. Die zugrunde liegenden molekularen Mechanismen werden inzwischen sehr gut beschrieben. Sie müssen nur noch abgestimmt werden, um eine Toleranz zu erreichen, die es erlaubt, auf eine Behandlung mit immunosuppressiven Medikamenten mit ihren schwerwiegenden Nebenwirkungen zu verzichten.


Heute leben in Europa etwa 250.000 Menschen, denen eine Niere, eine Leber, ein Lungenflügel oder ein Herz transplantiert wurde. Um zu verhindern, dass ihr Immunsystem das transplantierte Organ als körperfremdes Organ erkennt und abstößt, müssen sie lebenslang mit Immunosuppressiva behandelt werden. Diese Behandlung ist teuer (15.000 EUR pro Jahr) und zieht zahlreiche schwere Nebenwirkungen nach sich: Nierenvergiftung, erhöhte Infektionsanfälligkeit, Anstieg des Krebsrisikos, um nur einige zu nennen. Die Kontrolle der Abwehrreaktionen des Immunsystems ist daher eine entscheidende Voraussetzung, um den Erfolg von Transplantationen zu verbessern.

Transplantationen sind überhaupt erst möglich geworden, nachdem in den 1960er Jahren das HLA-System entdeckt wurde (Humane Leukozyten-Antigene). Diese Ansammlung von Proteinen auf der Zelloberfläche ermöglicht es den Leukozyten (eine Kategorie der weißen Blutkörperchen), zwischen körpereigenen und körperfremden Zellen zu unterscheiden. Das HLA-System stellt so etwas wie unseren biochemischen Steckbrief dar. Nachdem beim Menschen sechs große HLA-Familien entdeckt worden waren, war es erstmals möglich, Organtransplantationen zwischen nicht verwandten Personen vorzunehmen, so wie in den 1920er Jahren durch die Entdeckung der Blutgruppen erstmals Bluttransfusionen möglich wurden.

Aber mit der zunehmenden Zahl von Transplantationen hat sich herausgestellt, dass die HLA-Kompatibilität zwar eine Voraussetzung für die Transplantation ist, dass sie jedoch nicht ausreicht, um langfristig den Erfolg der Transplantation zu garantieren. Die akute Abstoßung des Spenderorgans in den Tagen oder Wochen nach der Operation kann zwar heute dank der Medikamente in der Regel verhindert werden. Ein Problem bleibt jedoch die chronische Abstoßung des transplantierten Organs Jahre nach der Operation. Nach 15 Jahren funktioniert die Hälfte der transplantierten Nieren nicht mehr. Die einzige Lösung ist in diesem Fall eine erneute Transplantation. Und das ist nicht ungefährlich.


Das Gedächtnis der Lymphozyten

"Auch heute kann man noch nicht vorhersagen, ob das Immunsystem eines Patienten das Spenderorgan annimmt oder eine hypersensitive Reaktion entwickelt, die schließlich zur chronischen Abstoßung des Organs führt. Ebenso weiß man nicht, ob der Patient jemals in seinem Leben die Behandlung mit Immunosuppressiva absetzen kann", erklärt Michel Goldman vom Institut d'Immunologie Médicale in Charleroi (BE). Eine der Ursachen für diese Probleme ist, dass unser Immunsystem über ein phänomenales Gedächtnis verfügt. Jede körperfremde Substanz oder jeder Fremdkörper (Bakterie, Virus, Parasit), mit dem das Immunsystem jemals in Kontakt kam, hinterlässt eine Spur im Immunsystem in Form eines Antikörpers oder von T-Lymphozyten (diese heißen so, weil sie in der Thymusdrüse produziert werden). Und diese Antikörper sind in der Lage, jede fremde Zelle zu erkennen und sie zu zerstören. Diese Abwehrreaktionen gegen körperfremde Substanzen sind a priori sehr spezifisch - aber eben nicht ganz. Es genügt schon, wenn ein molekulares Motiv auf der Oberfläche des implantierten Gewebes eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Fremdkörper hat, den das Immunsystem in der Vergangenheit einmal identifiziert hat, um eine sogenannte heterologe Reaktion auszulösen. Die T-Lymphozyten attackieren das Transplantat, das fibrös wird und nach und nach seine biologische Funktion verliert.

Dieses Phänomen der heterologen Reaktion lässt sich nur schwer untersuchen, denn es gibt bisher noch kein geeignetes Tiermodell, das diese Reaktion vollständig darstellt. Bei Mäusen kann man mit verschiedenen chemischen Behandlungen eine sehr hohe Toleranz des Immunsystems gegenüber Transplantaten aus Fremdgewebe erzielen. Aber eben keine vollständige Toleranz. Beim Menschen sind diese Behandlungen sehr viel weniger wirksam. "Die Umgebung, in der wir leben, ist sehr viel weniger kontrolliert als die der Labormäuse", erklärt Dieter Volk vom Institut für medizinische Immunologie der Charité in Berlin. "Dadurch haben wir natürlich sehr viel mehr T-Lymphozyten-Gedächtniszellen und folglich ein weitaus höheres Risiko einer heterologen Reaktion bei einer Transplantation."


Erziehung zur Toleranz

Dank der Arbeiten mit Mäusen eröffnen sich für die Zukunft zwei mögliche Wege, die das Projekt Reprogramming the Immune System for the Establishment of Tolerance (RISET) im Rahmen von Pilotstudien beim Menschen jetzt erforscht. Es geht darum, Behandlungen mit selektiven Immunosuppressiva zu entwickeln, die nur die T-Lymphozyten neutralisieren, die für die Abstoßung des Organs verantwortlich sind, und nicht das gesamte Immunsystem ausschalten, wie dies bei den derzeitigen Medikamenten der Fall ist. Dank der Fortschritte in der Biotechnologie konnten Moleküle entwickelt werden, die auf die Aktivierung der T-Lymphozyten einwirken und sie in regulierende Zellen verwandeln, die die Abstoßreaktion verhindern.

Eine andere Möglichkeit für die Zukunft ist eine begleitende Verpflanzung von Spenderzellen. Diese sollen bewirken, dass das Immunsystem des Empfängers das Spenderorgan als körpereigenes Organ erkennt. Bei Tierversuchen hat sich dieser Ansatz als sehr vielversprechend herausgestellt. Beim Menschen dagegen sind solche Zelltherapien schwierig, und es gibt nur eine Handvoll Zentren, in denen sie durchgeführt werden können. Ein Problem ist auch, dass es keine standardisierte industrielle Produktion für diese wertvollen Zellmedikamente gibt.


Biomarker dringend gesucht

Bis diese neuen Therapien einsatzfähig sind, müssen jedoch erst noch Biomarker bestimmt werden, die eine Prognose ermöglichen, ob es zu einer Abstoßungsreaktion kommt oder nicht. Im Rahmen des 6. Forschungsrahmenprogramms konnten mithilfe der Projekte RISET und AlloStem etwa zehn dieser Biomarker identifiziert werden. Bei einigen dieser Biomarker, wie dem Vorhandensein von Anti-HLA-Antikörpern oder der Dosierung einer Batterie von Zytokinen (die Moleküle, die die Kommunikation zwischen den Zellen des Immunsystems ermöglichen), handelt es sich um Biomarker die als Prognose-Tool vor der Transplantation bestimmt werden. Wenn sie beim Empfänger nachgewiesen werden, bedeutet dies, dass ein hohes Abstoßungsrisiko vorhanden ist. Andere Marker, die charakteristisch für die Aktivierung von T-Lymphozyten sind, wie die messenger-Ribonukleinsäure (mRNS), werden in der Phase der Posttransplantation genutzt. Sie zeigen an, dass eine Abstoßungsreaktion eingesetzt hat oder dass im Gegenteil der Empfänger eine verminderte Reaktivität gegenüber den Antigenen des Spenders entwickelt hat. Sie können heute in den Körperflüssigkeiten des Empfängers nachgewiesen werden und morgen vielleicht durch molekulare Bildgebungsmethoden am Spenderorgan. In Zukunft könnte durch eine kontinuierliche Überwachung der Biomarker die Behandlung mit Immunosuppressiva, die von dem Transplantationsteam verabreicht werden, besser gesteuert werden.

Allerdings hat jedes Transplantationszentrum seine eigenen Biomarker und seine eigenen Tests entwickelt. Und das erschwert natürlich eine Vergleichbarkeit der Resultate und manchmal auch die Reproduzierbarkeit. "Es gibt heute keinen einzigen Biomarker für die Abstoßung oder das Abstoßungsrisiko, der von allen akzeptiert wird", stellt Michel Goldman fest. "Hier müsste man genauso vorgehen wie in der Krebsforschung, um zu einer Vereinheitlichung von Tests zu gelangen." Die Initiative Transplant Research Integration in Europe (TRIE), die von Michel Goldman koordiniert wird, hat sich daher vorgenommen, zusammen mit der Industrie und den Regulierungsbehörden die besten Biomarker als Prognose-Tools für eine Abstoßung zu bestimmen. Damit will man erreichen, dass die Behandlung mit Immunosuppressiva reduziert und langfristig die Erfolgsquote bei Transplantationen erhöht wird. Zum Nutzen der großen Zahl von Patienten in Europa, die mit einem transplantierten Organ leben, aber auch für die Zehntausende von Menschen, die auf ein Spenderorgan warten.


MEHR EINZELHEITEN

Leukämie und Knochenmarkspenden

Bestimmte Leukämie- und Krebsarten werden mit hämatopoetischen Stammzellen behandelt. Diese Zellen bilden die unterschiedlichen Arten von Blutzellen. Die Zellen stammen aus dem Knochenmark des Spenders oder aus einer Nabelschnurblutbank. Der therapeutische Effekt ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die T-Lymphozyten der Spenderzellen die Krebszellen angreifen und abtöten. In einigen Fällen artet die Reaktion jedoch aus, und die transplantierten Zellen greifen auch die Knochenmarkzellen des Empfängers an. Aufgrund der Behandlung mit Immunosuppressiva kann der Empfänger sich nicht gegen diesen Angriff wehren. Hier haben wir es mit der Transplantat-gegen-Wirt-Reaktion zu tun (Graft-versus-Host-Reaktion). Es ist eine ähnliche Reaktion wie die, die bei einer Leber- oder Nierentransplantation einsetzt. Nur dass es in diesem Fall nicht das Immunsystem des Empfängers ist, sondern die Immunzellen der Spende, die verrückt spielen. Die biochemischen Mechanismen sind jedoch in beiden Fällen weitgehend identisch.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Charakterisierung von HLA-Zellen durch Immunoblot. Färbung der Elektrophorese-Banden durch monoklonale Peroxidasemarkierte Antikörper.

Modellierung des menschlichen HLA-Klasse-1-Proteinkomplexes. Dargestellt sind die HLA B57-Moleküle sowie bestimmte Verankerungsbereiche, die eine Anbindung des Antigen-Peptids erlauben.


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Quelle:
research*eu - Nr. 6, Februar 2010, Seite 10 - 11
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2010