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KRIEGSMEDIZIN/032: Pakistan - Einsatz von Chemiewaffen, Taliban ändern Taktik (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. Januar 2012

Pakistan: Einsatz von Chemiewaffen - Taliban ändern Taktik

von Ashfaq Yusufzai

Bomben der Taliban enthalten Chemikalien - Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Bomben der Taliban enthalten Chemikalien
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Peshawar, 24. Januar (IPS) - Im Norden Pakistans setzen Taliban-Milizen im Rahmen ihrer Terrorkampagne zunehmend Chemiewaffen ein. Überlebende haben mit schwer heilenden Wunden zu kämpfen oder tragen eine Behinderung davon.

"Die neuen Techniken der Milizen sollen den Opfern komplizierte Wunden zufügen. Die Betroffenen entwickeln Kontrakturen und körperliche Missbildungen", sagte Muhammad Tahzeebullah, der als Chirurg im 'Lady Reading Hospital' in Peshawar arbeitet. Unter den Taliban seien Bombenexperten, die solche Sprengsätze bauen könnten. "Seit zwei Jahren beobachten wir, dass bei den Patienten mehr Komplikationen und Behinderungen auftreten als früher."

Khalid Khan gehört zu einem lokalen Bombenentschärfungskommando. Er hat erfahren, dass in den Schulen der Taliban in den Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA) Anleitungen zum Bau von Sprengsätzen kursieren.


Grundstoffe zum Bombenbau leicht erhältlich

"Diese Handbücher werden in den Lagern geschrieben, in denen Selbstmordbomber und andere Bombenleger ausgebildet werden. Erklärungen werden in Paschtu, Urdu, Persisch und Arabisch gegeben", berichtete Khan. Die Taliban kämen leicht an die Grundstoffe wie Magnesium, Kalium und Natrium heran. "Sie haben inzwischen die nötige Erfahrung, um ihre Bomben so zu bauen, dass sie schwere Verletzungen verursachen. Gerade einmal zehn Prozent der Verletzten überleben."

Bei Bombenanschlägen und Selbstmordattacken sind in Pakistan bislang etwa 35.000 Menschen getötet worden, darunter 5.000 Soldaten. Die Taliban hatten sich nach ihrer Vertreibung aus Afghanistan durch US-geführte Streitkräfte 2001 in die FATA abgesetzt.

Mitte 2005 waren die Taliban soweit. Sie attackierten pakistanische Regierungstruppen, jagten Marktplätze, CD-Läden, Internet-Cafés und Mädchenschulen in die Luft. In jüngster Zeit verüben sie außerdem Anschläge auf Moscheen und Beerdigungsgesellschaften, um möglichst viele Menschen auf einmal zu treffen.

Im vergangenen Jahr froren die USA Finanzhilfen an Pakistan in Höhe von 700 Millionen US-Dollar ein, um die Regierung zu gemeinsamen Aktionen gegen die Verbreitung selbstgebauter Bomben zu bewegen. Diese Sprengsätze waren die wirkungsvollsten Waffen der Extremisten gegen die US-geführten Truppen in Afghanistan.


Tod auf Raten nach Chemieanschlägen

Der Mediziner Nasir Shah vom 'Bannu Medical College' erklärte, dass ein Gemisch aus Kalium, Stickstoff, Zucker, Harnsäure und Glyzerin komplizierte Wunden verursacht. Der 15-jährige Omar Ali wurde im vergangenen August bei einem Selbstmordanschlag verletzt. Ihm droht nun ein Tod auf Raten.

"Erst sahen seine Wunden normal aus. Doch die Chemikalien führten zu einer Blutvergiftung, an der er wahrscheinlich sterben wird", sagte der behandelnde Arzt Jamal Anwar vom Hayatabad-Krankenhaus. Um die Gefahr einer ernsten Infektion zu mindern, müsse man Anschlagsopfer so schnell wie möglich in eine Klinik bringen und sicherstellen, dass die Wunden gründlich gereinigt würden.

Die meisten Opfer kommen aber viel zu spät in ärztliche Behandlung. Die toxischen Chemikalien sind dann schon tief in ihren Körper eingedrungen und haben gravierende Infektionen ausgelöst. Selbst schwere Schuss- und Unfallverletzungen seien einfacher zu behandeln, sagte Anwar.

Nach Ansicht von Tariq Khan, einem Chirurgen aus dem Khyber-Lehrkrankenhaus in Peshawar, sind selbstgebaute Sprengsätze auf Phosphor-Basis am schlimmsten. "Normale Brandwunden lassen sich mit Antibiotika behandeln", erklärte er. "Die Verletzungen durch selbstgebaute Bomben, die Stickstoff und Kalium enthalten, sind unheilbar. Die Opfer sterben."


Patienten fallen ins Koma

Wie der Mediziner Sirajuddin Syed aus Peshawar ausführte, produzieren Bomben Kohlenmonoxyd. "Der Qualm dieser Sprengsätze dringt in den Körper ein und verlangsamt die Fähigkeit des Blutes zur Sauerstoffbindung. Die Patienten fallen ins Koma und sterben."

Laut Syed sind seit 2005 in das Lady Reading Hospital 1.319 Menschen eingeliefert worden, die bei terroristischen Anschlägen verletzt wurden. Die Hälfte von ihnen hat nicht überlebt. "Nach unseren Erfahrungen sind durch Schießpulver und Granatsplitter verursachte Wunden heilbar - nicht jedoch die Verletzungen, die auf Taliban-Bomben zurückgehen."

Angesichts der gestiegenen Zahl der Anschlagsopfer wird nun im Hayatabad-Krankenhaus eine hochmoderne Fachabteilung mit 120 Betten eingerichtet. Die Kosten belaufen sich auf rund 11,5 Millionen Dollar. Dort sollen künftig Bombenopfer aus Afghanistan und Pakistan behandelt werden. Benannt wird die neue Abteilung nach der früheren Ministerpräsidentin Benazir Bhutto, die im Dezember 2007 bei einem Terroranschlag umkam. (Ende/IPS/ck/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Januar 2012