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ETHIK/826: Forschungsfeld "Synthetische Biologie" (IWE-Brief)


IWE Brief Nr. 1/2010
IWE - Institut für Wissenschaft und Ethik der Universität Bonn

Synthetische Biologie

Von Dietmar Hübner


Die Synthetische Biologie ist ein disziplinenübergreifender Forschungsansatz, dessen Kernvorhaben darin besteht, von bloß manipulierenden Eingriffen in biologische Systeme zu deren gezielter Herstellung überzugehen. Diese Konzeption erfährt gegenwärtig verstärkte wissenschaftstheoretische und wissenschaftsethische Beachtung. Entsprechende Stellungnahmen haben kürzlich u.a. die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zusammen mit der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, aber auch die Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) und die European Group on Ethics in Science and New Technologies (EGE) vorgelegt. Dabei deutet sich an, dass tiefergehende normative Aspekte der Synthetischen Biologie von der genaueren epistemologischen Deutung ihrer Forschungskonzeption abhängen dürften.


In der Synthetischen Biologie werden zellbiologische, gentechnologische, chemische, physikalische und informationswissenschaftliche Ansätze unter einem ingenieurwissenschaftlichen Paradigma vereint. In der derzeitigen Entwicklungsphase ist dieses Forschungsfeld naturgemäß vorrangig auf Grundlagenforschung ausgerichtet. Sein definierender Horizont, die gezielte Konstruktion lebender Systeme, ist indessen hochgradig anwendungsoriennert und bildet ein prägnantes Beispiel dafür, dass moderne Forschungszweige sich weniger durch ihre Gegenstandsbereiche als vielmehr durch ihre Handlungsperspektiven bestimmen. Konkrete Umsetzungsszenarien betreffen etwa die Substanzproduktion durch biologische "Fabriken" oder die Prozessregulation über biologische "Schaltkreise".

Für gewöhnlich werden in der Synthetischen Biologie ein top-down- und ein bottom-up-Ansatz unterschieden: Im ersteren versucht man, durch Reduktion bestehender Strukturen zu kleinsten biologischen Funktionseinheiten vorzustoßen ("Minimalzelle" oder "Minimalgenom"). Im letzteren wird umgekehrt die Neukonstruktion biologischer Einheiten aus unbelebtem chemischem Material angestrebt (Schaffung einer "künstlichen Zelle" oder eines "künstlichen Genoms"). Dieser bottom-up-Ansatz entspricht am direktesten dem Vorsatz der Synthetischen Biologie, lebendige Systeme zielgenau herzustellen (etwa "Protozellen"). Aber auch der top-down-Ansatz soll biologische Basiseinheiten liefern, die dann wieder zu komplexeren Konstrukten ausgebaut werden könnten (im Sinne eines "Chassis").

Die Gegenüberstellung von top-down und bottom-up erinnert an eine vergleichbare Unterscheidung in der Nanotechnologie: Dort geht es zum einen um die Größenreduktion bestehender Materialien, die im nanoskaligen Bereich neuartige Eigenschaften entwickeln, zum anderen um die Vision eines Materieaufbaus "atom by atom", möglicherweise sogar einer Schaffung nanoskaliger Maschinen (vgl. IWE-Brief 2009 Nr. 1). Mithin fließen nicht nur nanotechnologische Verfahrensweisen in die Synthetische Biologie mit ein. Vielmehr gibt es zudem eine tiefere konzeptuelle Parallele zwischen beiden Forschungszweigen, indem sie in ihrem "konservativen" Pol als eher gradlinige Erweiterungen von Materialkunde bzw Gentechnologie erscheinen, in ihren "ambitionierteren" Szenarien hingegen eine qualitativ neue Form des Umgangs mit unbelebter bzw. belebter Materie in Aussicht stellen. Die "NanoBots" der Nanotechnologie sind das Pendant zu den "BioBricks" der Synthetischen Biologie, insofern beide das Ziel eines kontrollierten Designs aus elementaren Bausteinen repräsentieren.

Auch in der ethischen Diskussion zeigen sich Parallelen zwischen beiden Forschungszweigen. Insbesondere wird vielfach dafürgehalten, dass sie keine eigenständigen ethischen Aspekte eröffnen und sich stattdessen weitgehend auf vertraute Sicherheits- und Gerechtigkeitsfragen beschränken.

In der ethischen Debatte um die Synthetische Biologie stehen derzeit Fragen von biosafety (Gefahr der ungewollten Freisetzung von gefährlichen Substanzen) und biosecurity (Gefahr des terroristischen Missbrauchs) im Vordergrund. Die gelungene Labor-Rekonstruktion des Virus der Spanischen Grippe hat entsprechenden Sorgfaltsmahnungen starken Auftrieb gegeben. Ein neuerer Report der American Association for the Advancement of Science (AAAS) mit dem Titel "Competing Responsibilities?" dokumentiert eindrücklich, dass die Abwägung von Sicherheits- und Forschungsinteressen in den USA gegenwärtig alles andere als unkontrovers ist.

Gerechtigkeitsfragen stellen sich vor allem mit Blick auf temporale und regionale Ungleichheiten, die durch die Einführung kostspieliger Hochtechnologien entstehen können, sowie hinsichtlich der Nichtidentität von potentiellen Nutznießern und möglichen Benachteiligten. Dabei fällt auf, dass unter dem Stichwort des Nutzens die ökonomischen Potentiale der Synthetischen Biologie besonders stark hervorgehoben werden. Die eingangs erwähnte Stellungnahme von DFG, acatech und Leopoldina nennt unter "Aktuelle Herausforderungen" der Synthetischen Biologie an erster Stelle nicht etwa grundlagenwissenschaftliche, medizinische oder ökologische Perspektiven, sondern Marktpotentiale und Patentierungsfragen.

Umstritten ist, inwieweit das kennzeichnende Programm der Synthetischen Biologie, von der Manipulation zur Kreation von Leben überzugehen, einen eigenständigen ethischen Aspekt jenseits von Sicherheits- und Gerechtigkeitsfragen eröffnet. Zum einen deutet sich hier eine sehr viel spezifischere und fundamentalere ethische Dimension dieses Forschungsansatzes an. Zum anderen erweist es sich als schwierig, diese Dimension in ihren naturphilosophischen und anthropologischen Grundlagen sowie in ihren normativen Konsequenzen allgemeinverbindlich zu erschließen. In der Stellungnahme von DFG, acatech und Leopoldina werden dergleichen Bedenken weitgehend zurückgewiesen, da sie von weltanschaulichen bzw. metaphysischen Prämissen abhingen oder auf spekulativen slippery-slope-Argumenten beruhten.

Es ist indessen eine vertraute Erscheinung, dass neue Forschungszweige ihrerseits von weltanschaulichen bzw. metaphysischen Prämissen geleitet werden oder von spekulativen Szenarien abhängen. Dies ist kein Mangel, sondern ein normaler Bestandteil ihrer Konstitution und Dynamik, und es gilt auch für die Synthetische Biologie. Ihre Zentralbegriffe wie "lebende Maschinen" oder "künstliche Zellen" machen deutlich, wie stark sie biologische Objekte einem ingenieurwissenschaftlichen Paradigma unterstellt. Inwieweit dies epistemologisch adäquat ist, bedarf genauerer Untersuchung (u.a. wird es zu einer vertieften Auseinandersetzung über die Abgrenzungen von Leben und Nichtleben, von Natürlichem und Künstlichem führen). Zudem deutet sich an, dass die Synthetische Biologie, ähnlich wie die Nanotechnologie, sich von hergebrachten, klassisch-industriellen Technikstereotypen wie Kraft und Größe abhebt und an ihre Stelle Visionen der Feinheit, Gezieltheit und Präzision setzt. Auch hier wird sich erweisen müssen, inwiefern diese neuen Stereotype sachangemessen sind (und welche Gegenmythen sie in Kraft setzen; vgl. Hübner, Verständnisse der Technik: Stereotype und Mythen).

Möglicherweise können diese wissenschaftstheoretischen Beobachtungen der Synthetischen Biologie Grundlagen für eine wissenschaftsethische Einschätzung liefern, die über Fragen der Sicherheit und Gerechtigkeit hinausführt. Freilich dürfte es sich hierbei um ethische Perspektiven handeln, die primär nicht auf rechtliche Normierung, sondern auf die konsensuale Gestaltung und Anwendung einer Technik ausgerichtet sind, deren grundsätzliches evaluatives Gefüge bewusster wahrgenommen wird.


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Quelle:
IWE Brief Nr. 1/2010, Seite 1 - 2
Herausgeber: Institut für Wissenschaft und Ethik e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2010