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ETHIK/767: Menschenbilder in der Medizin heute und gestern (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2009

Ethik-Tagung in Berlin
Menschenbilder in der Medizin heute und gestern

Von Horst Kreussler


Die Göttinger Akademie für Ethik in der Medizin diskutierte über den Einfluss von Menschenbildern auf die ärztliche Behandlung.


Alte und neue, vielfach unreflektierte Menschenbilder spielen eine erhebliche Rolle bei der ärztlichen Behandlung, legen aber nicht notwendig eine bestimmte medizinethische Richtung fest. So lässt sich eine der Kernaussagen der Jahrestagung 2009 der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM, Sitz in Göttingen) vom 24.-26. September in Berlin formulieren.

Mit Blick auf ein verbreitetes Bild vom menschlichen Körper als verwertbares Objekt zeigte Prof. Valentin Groebner, dass dieser seit je auch als "Ware" speziell für medizinische Zwecke genutzt wurde. Bis zurück ins Mittelalter sei das Geschäft Körper gegen Geld medizinhistorisch nachweisbar, Beispiele: Haut, Menschenfett, Haare und andere Teile von Hingerichteten; bis ins 18./19. Jahrhundert begehrte Medikamente aus "Mumia" (Mumienteilen); die Verpfändung von Körperteilen für einen Kredit (ein Ohr oder auch "ein Pfund Menschenfleisch" in Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig"). Stets habe sich die kommerzielle Verwertung des menschlichen Körpers zwischen den Polen legitim illegitim (res extra commercium) bewegt, bis hin zur gegenwärtigen Transplantationsmedizin mit ihren problematischen Bezügen wie dem illegalen Organhandel. Bemerkenswert sei die Aufforderung zur Organspende mit dem Zweck, den "grauen Organmarkt" einzudämmen. Dabei falle auf, dass nur der Spender uneigennützig agiere, während alle anderen Beteiligten an der wertvollen Spende verdienten bzw. von ihr profitierten: Ethik für Spender, "Monetik" für die anderen?

Heute zugrundeliegende Menschenbilder seien, so hieß es bei mehreren Referenten, z.B. in der Humangenetik der rational handelnde Mensch in freier Entscheidung, in der "Anti-Aging-Medizin" ein idealer Mensch als Träger eines dauerhaft funktionstüchtigen Körpers, in der Intensivmedizin der hilflose Patient, in der Palliativmedizin der ausweglos Kranke, in der Neurobiologie vielleicht der neuronal gesteuerte Patient. Dagegen steht die ethisch bedeutende medizinische Anthropologie Viktor von Weizsäckers (1886-1957) mit dem Bild vom Menschen als eines von Anfang an unfertigen, unzulänglichen und ergänzungsbedürftigen Wesens, gekennzeichnet durch elementare Erfahrungen der Schwäche, des Schmerzes und der Not.

Der Philosophieprofessor Marcus Düwell stellte historisch relevante Menschenbilder nebeneinander, vom christlichen über das ökonomische Bild des Utilitarismus bis zum freiheitlichen Menschenbild des Grundgesetzes. Die neuere Diskussion, sagte er, ziele auf eine Pluralität von Menschenbildern, nicht auf ein "richtiges". Menschenwürde und Menschenrechte seien zentrale Begriffe im engen Zusammenhang mit Menschenbildern. Unterschiedliche ethische Auffassungen seien mit unterschiedlichen Menschenbildern verbunden: mit einem eher perfektionistischen Menschenbild eine Ethik des gelingenden Lebens, dagegen aus Sicht des kranken, behinderten Lebens eher eine Ethik von noch vorhandenen moralisch relevanten Fähigkeiten. Die Philosophin PD Dr. phil. Theda Rehbock erinnerte die Naturwissenschaftler und Mediziner daran, dass sie bei allen staunenswerten medizinisch-technischen Fortschritten der letzten 100 Jahre nur mithilfe der Geisteswissenschaften Aussagen über die Bedeutung dieser Erkenntnisse für den Menschen machen könnten. So könne auch eine Hirntoddefinition die Frage des ethischen Umgangs mit dem potentiellen Organspender nicht ohne Weiteres beantworten. Sie plädierte dafür, den Menschen unter allen Umständen zu achten, ob lebend, sterbend oder tot, mit jeweils unterschiedlichen Rechten des Menschen bzw. Pflichten ihm gegenüber. Auch die Soziologin Prof. Gesa Lindemann und Prof. Stoecker vertraten normative Positionen gegenüber der Medizin, speziell der Hirnforschung.

Fazit der AEM-Präsidentin Prof. Claudia Wiesemann: Wir brauchen in der Medizin und in der Ethik die weitere Reflexion über die Frage impliziter und neuer Menschenbilder - "und wir sind mitten in diesem selbstaufklärerischen Prozess."


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200911/h091104a.htm

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www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt November 2009
62. Jahrgang, Seite 43
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2009