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FORSCHUNG/2878: Stammzellen füllen Knochenlücken - Große Defekte heilen schneller (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Winter 2012
Ruhr-Universität Bochum

Große Defekte heilen schneller

Stammzellen füllen Knochenlücken



Wenn nach schweren Verletzungen oder bei Tumoroperationen mehrere Zentimeter Knochen aus dem Unterschenkel entfernt werden müssen, bedeutet das für den Patienten den Anfang eines langen Leidenswegs. Viele Operationen sind notwendig, um das Bein wiederherzustellen, und die Regeneration des Knochens - wenn sie denn funktioniert - dauert sehr lange. Die Heilung zu beschleunigen und zu verbessern, versprechen körpereigene Stammzellen.


Große Knochendefekte von mehreren Zentimetern bedeuteten vor rund 60 Jahren noch unweigerlich die Amputation des betroffenen Beins oder Arms. In den 1950er-Jahren gelang zunächst in Russland die Reparatur solcher Defekte am Unterschenkel mit einer Technik, die im Großen und Ganzen bis heute angewandt wird. Chirurgen des RUB-Klinikums Bergmannsheil haben sie perfektioniert: Zunächst werden der zerstörte Knochen, verletztes und infiziertes Gewebe entfernt und das Bein durch eine außen liegende Stütze (Fixateur) stabilisiert. Große Hautverletzungen decken die Chirurgen gegebenenfalls zunächst provisorisch mit Hautersatzmaterialien ab, um sie nach einer kurzen Heilungsphase mit körpereigenem Gewebe auf Dauer zu verschließen. Dabei kooperieren sie eng mit der Klinik für Plastische Chirurgie und Schwerbrandverletzte der RUB im Bergmannsheil.

Schon während dieses Eingriffs ziehen sie ein Transportseil durch das Knochenmark des verbleibenden Teils des verletzten Knochens. Erst nachdem die umgebenden Weichteile verheilt sind, folgt der nächste Schritt: Die Chirurgen trennen in einer weiteren Operation den betroffenen Knochen im gesunden Bereich, wobei sie versuchen, die umgebende Knochenhaut möglichst unbeschädigt zu erhalten. Das schon zuvor eingezogene Transportseil wird mit den Winden eines sogenannten Ringfixateurs verbunden, der das gesamte Bein umgibt (Abb. 2). Über ein ausgeklügeltes Seilzugsystem wird das abgetrennte Knochenstück dann langsam - etwa einen Millimeter pro Tag - entlang der Lücke im Knochen nach unten oder oben gezogen, bis es an deren anderem Ende angekommen ist (Abb. 3). In einer weiteren Operation wird dann der "Anschluss", das sogenannte Docking, vorbereitet: Das bewegte Knochenstück soll mit dem gegenüberliegenden verheilen. Der Knochen wird im Fixateur gesichert, das Transportseil entfernt. Während des Zugprozesses hat sich die Knochenhaut des auseinandergezogenen Knochens stetig verlängert. In der Lücke hinter dem verschobenen Knochenstück bildet sich auf diese Weise eine Art Knochenhautschlauch (Abb. 4). Nur in seinem Inneren kann sich neuer Knochen bilden und die Heilung so voranschreiten, bis die Lücke wieder fest verschlossen ist.

Das ist allerdings ein sehr langwieriger Prozess. Durchschnittlich dauert es 49 Tage, bis sich ein Zentimeter neuer Knochen gebildet hat. Bei großen Defekten - bis zu 20 Zentimeter lange Knochenlücken lassen sich auf diese Weise behandeln - kommen monate- oder jahrelange Heilungszeiten zusammen. Hinzu kommt noch, dass die Komplikationsrate hoch ist: In jedem fünften Fall bildet sich nicht ausreichend neuer Knochen, so dass die Behandlung scheitert.

Chirurgen des RUB-Klinikums Bergmannsheil versuchen seit 2009, die Heilung mit körpereigenen Stammzellen zu verbessern und zu beschleunigen. Zwei wesentliche Eigenschaften dieser Stammzellen sind dafür maßgeblich: Stammzellen haben die Möglichkeit, sich je nach Erfordernis zu verschiedenen Gewebezellen zu entwickeln - also auch zu sogenannten Knochen-bildenden Osteoblasten. Und sie beeinflussen durch die Freisetzung von löslichen biochemischen Signalen wie Wachstumsfaktoren die gesamte Geweberegeneration. Die verwendeten adulten Stammzellen kommen bei Erwachsenen auch im Knochenmark vor. "Wir entnehmen sie in einem kleinen Eingriff mit einer Hohlnadel aus dem Kamm des Beckenknochens", erklärt PD Dr. Dominik Seybold, Geschäftsführender Oberarzt der Klinik. "Das ist eine Sache von fünf Minuten." Eine vorherige Stimulation der Stammzellbildung wie bei einer Knochenmarkspende ist dafür nicht notwendig. Etwa 60 Milliliter Flüssigkeit werden aus dem Beckenkamm entnommen und gleich vor Ort für den Einsatz aufbereitet. Die entnommene Flüssigkeit wird nach dem sogenannten Harvest-Verfahren zentrifugiert und konzentriert, so dass bestimmte Bestandteile des Bluts entfernt werden können. Schließlich befinden sich im bone marrow aspirate concentrate (BMAC) weniger rote Blutkörperchen, dafür aber mehr Stammzellen und Wachstumsfaktoren. Die Prozedur der Konzentration dauert rund 15 Minuten. Das Verfahren kann direkt im Operationsraum durchgeführt werden und bedarf keines zertifizierten Reinraumlabors, wie es für aufwendige Stammzellzüchtungen notwendig ist. Acht bis zehn Milliliter Flüssigkeit bleiben nach der Konzentration übrig. Ihnen wird nun noch ein blutgerinnendes Enzym beigemischt, das die Ärzte aus dem eigenen Blut des Patienten gewinnen, welches sie ihm zuvor abgenommen haben. "Damit erreichen wir, dass das Ganze eine gallertartige Konsistenz erhält und später da bleibt, wo wir es haben wollen", erklärt Dominik Seybold.

Unter Röntgenkontrolle spritzen die Chirurgen etwa sechs bis acht Milliliter der Flüssigkeit in die Mitte des Knochenhautschlauchs hinein. Hier befindet sich ein Hohlraum, der Blut und Serum enthält (Abb. 5 und 1). "Wir wissen, dass in diesem Hohlraum Wachstumsfaktoren sind, aber keine Zellen", beschreibt Dominik Seybold. "Die geben wir mit der Injektion hinzu." Die Wachstumsfaktoren, die bereits im Konzentrat enthalten sind und dann noch zusätzlich von den Stammzellen freigesetzt werden, sind körpereigene Botenstoffe. Sie sorgen unter anderem für die Bildung neuer Blutgefäße, die den sich bildenden Knochen versorgen.

Regelmäßige Röntgenkontrollen müssen dann zeigen, wie die Heilung voranschreitet. Bislang haben die RUB-Mediziner 20 Patienten auf diese Weise behandelt; bei acht von ihnen konnten sie bisher über ein Jahr oder länger verfolgen, wie sich die Heilung entwickelt. "Das ist natürlich zu wenig, um statistisch aussagekräftig zu sein", schränkt Seybold ein. Dennoch freuen sich die Forscher über ermutigende Ergebnisse: Dauerte es ohne die Stammzellbehandlung durchschnittlich 49 Tage, bis sich ein Zentimeter neuer Knochen gebildet hatte, so lag der Durchschnittswert nach der Behandlung bei etwa 37 Tagen. Die Knochendefekte, die die RUB-Forscher bislang mit der Methode behandelt haben, waren im Durchschnitt acht Zentimeter groß - die Patienten konnten also im Mittel drei Monate schneller geheilt werden. "Um die Wirksamkeit der Behandlung belastbar nachzuweisen, müssen wir größere Patientenzahlen behandeln", sagt Dominik Seybold. "Der große Vorteil ist, dass dem Patienten ausschließlich körpereigene Zellen zurückgegeben werden."   md


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1, S. 34:
Körpereigene Stammzellen beschleunigen die Heilung von Verletzungen, die mit dem Verlust großer Teile des Knochens einhergehen. Die Chirurgen des Bergmannsheil, rechts Dr. Dominik Seybold, haben die Methode perfektioniert.

Abb. 2, S. 35:
Der sogenannte Ilizarov-Ringfixateur umgibt das Bein von allen Seiten. Er ist fest mit dem verbleibenden Knochen verbunden und stabilisiert das Bein während der Phase, in der kein durchgehender belastbarer Knochen vorhanden ist.

Abb. 3, S. 36 oben:
Die Röntgenaufnahme zeigt den Verlauf des Zugseils, das über externe Winden auf Spannung gehalten wird. Das abgetrennte Knochensegment wird dadurch etwa einen Millimeter pro Tag nach unten gezogen, bis es mit dem dortigen Knochen zusammenkommt.

Abb. 4, S. 36 unten:
Hinter dem bewegten Knochensegment bildet sich ein Schlauch aus Knochenhaut, in dessen Innerem von außen nach innen die Heilung beginnt. In der Mitte bleibt ein flüssigkeitsgefüllter Hohlraum.

Abb. 5, S. 37:
Nach der Konzentration des Stammzellen enthaltenden Beckenkammbluts wird das Konzentrat in den Hohlraum des Knochenhautschlauchs gespritzt. Eine leichte Andickung durch einen körpereigenen Blutgerinnungsfaktor sorgt dafür, dass es dort auch bleibt.


Den Artikel mit Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rubin-herbst-2012/pdf/beitrag5.pdf

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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Winter 2012, S. 34-37
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
in Verbindung mit der Stabsstelle Strategische PR
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2013