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FORSCHUNG/2616: Neue Analysemethode erstellt Beziehungsnetzwerk von Organen (idw)


Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg - 28.02.2012

Neue Analysemethode erstellt Beziehungsnetzwerk von Organen


Herz, Lunge, Gehirn und Co. arbeiten meistens zuverlässig und miteinander. Ihr Netzwerk verändert sich aber nahezu minütlich. Welche Zusammenhänge wann bestehen, lässt sich mithilfe einer neuen Analysemethode erstmals systematisch darstellen. Für die Intensivmedizin könnte das wichtige Erkenntnisse bringen, zum Beispiel im Hinblick auf das Multiorganversagen. Maßgeblich an der Entwicklung der Methode beteiligt war Dr. Jan Kantelhardt von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zusammen mit Forschern der Harvard Medical School (USA), der Bar-Ilan Universität (Israel) und der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften hat der er sie im Fachmagazin "Nature Communications" beschrieben.

TV-Arzt Dr. Gregory House wartet oft mit unorthodoxen diagnostischen Ansätzen auf. Nach Art eines Detektivs betrachtet er eine Vielzahl von Wechselwirkungen zwischen mehreren physiologischen Variablen, um die Ursache der Symptome zu verstehen und die richtige Diagnose zu finden. In der Realität konzentrieren sich Spezialisten hingegen üblicherweise auf ein Organ: Kardiologen prüfen vor allem EKG-Signale, Pneumologen Atemmuster und Lungenfunktion, Neurologen das EEG des Gehirns.

"Der menschliche Organismus ist allerdings ein integriertes Netzwerk von miteinander verbundenen und wechselwirkenden physiologischen Organ-Systemen, bei dem das Verhalten eines Systems durch Veränderungen in der Dynamik anderer Systeme betroffen sein kann", erläutert der statistische Physiker Jan Kantelhardt. Aufgrund dieser Wechselwirkungen könne der Ausfall eines Systems den Zusammenbruch des gesamten Netzwerks auslösen. "Um die physiologische Funktion zu verstehen, ist es daher entscheidend, das Netzwerk der Wechselwirkungen zu identifizieren und seine Entwicklung unter verschiedenen physiologischen Zuständen und pathologischen Bedingungen zu verfolgen. Mit unserer Methode ist das machbar."

Kantelhardt und seine internationalen Mitstreiter nutzen dafür Messungen der entsprechenden Körper-Signale zum Beispiel von Herz, Lunge, Augen und Gehirn während des Schlafes. "Diese Messungen sind schon lange möglich. Es handelt sich aber um sehr verschiedene Arten von Signalen, und es war bisher nicht möglich, eine Beziehung zwischen ihnen systematisch darzustellen." Nun könne man deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen physiologischen Zuständen erkennen, insbesondere verschiedenen Schlafstadien. "Jeder Zustand zeichnet sich durch eine spezifische Netzwerk-Topographie aus, die an die jeweilige physiologische Funktion angepasst ist", erklärt der Koautor Dr. Ronny Bartsch, deutscher Wissenschaftler an der Harvard Medical School in Boston. Im Tiefschlaf sei das Netzwerk der Wechselwirkungen beispielsweise im Wesentlichen auf das Gehirn beschränkt. "Im Traumschlaf kommen viele weitere Zusammenhänge hinzu." Die Veränderungen im Organ-Netzwerk verlaufen laut Kantelhardt und Bartsch recht schnell, innerhalb weniger Minuten. Sie wiederholen sich zudem mehrfach im Laufe einer Nacht.

"Der in unserer aktuellen Publikation entwickelte Organ-übergreifende, integrative Ansatz könnte die Entwicklung eines neuen Fachgebietes, der Netzwerk-Physiologie, auslösen", sagt Kantelhardt. "Und da in der klinischen Intensivmedizin ein Multiorganversagen oft ein Grund für den Tod eines Patienten ist, kann unser Ansatz praktischen Nutzen bei der Beurteilung haben, ob dynamische Verbindungen zwischen physiologischen Systemen wesentlich verändert bleiben, auch wenn die Funktion der einzelnen Systeme nach der Behandlung wieder hergestellt ist." Darüber hinaus könne die Methode auf ein breites Spektrum von komplexen Systemen angewendet werden, "um die Dynamik und Funktion heterogener und voneinander abhängiger Netzwerke zu verstehen".


Veröffentlichung in "Nature Communications":
"Network Physiology reveals relations between network topology and physiologic function"
Autoren: Amir Bashan, Ronny P. Bartsch, Jan W. Kantelhardt, Shlomo Havlin und Plamen Ch. Ivanov
DOI: 10.1038/ncomms1705

Ansprechpartner:
Dr. Jan W. Kantelhardt
E-Mail: jan.kantelhardt@physik.uni-halle.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution167


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Dipl.-Journ. Carsten Heckmann, 28.02.2012
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2012