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FORSCHUNG/2381: Kognitionsforschung - Auch Blinde besitzen Gennari-Streifen im Gehirn (MPG)


Max-Planck-Gesellschaft - 22. Februar 2011

Auch Blinde besitzen Gennari-Streifen im Gehirn

Nervenbündel im Sehzentrum des Gehirns könnte bei blinden Menschen Berührungen verarbeiten


Auch im Gehirn von Geburt an blinder Menschen bildet sich in der Sehrinde der so genannte Gennari-Streifen und degeneriert trotz fehlender Sehinformation nicht. Das stellten Forscher um Robert Trampel vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften mit Hilfe der Magnetresonanztomografie fest. Der etwa 0,3 Millimeter dicke Strang von Nervenfasern ist demnach nicht nur für optische Informationen zuständig. Bei Blinden verarbeitet er möglicherweise in erhöhtem Maße taktile Reize. Das könnte zu einer Schärfung des Berührungssinns beitragen und etwa das schnelle Lesen von Braille-Schrift unterstützen.

Mit Hilfe eines Hochleistungs-Magnetresonanztomografen kann der Gennari-Streifen bei sehenden Probanden und bei blinden sichtbar gemacht werden. - © MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften

Der Gennari-Streifen (rechts bei sehenden Probanden, links bei
blinden) zeigt sich im MRT als feine dunkle Linie in der um den Sulcus
calcarinus (weiß) angeordneten primären Sehrinde. Zur eingriffslosen
Untersuchung solcher extrem dünnen Strukturen am lebenden Menschen
nutzen die Forscher einen Hochleistungs-Magnetresonanztomografen mit
einer Feldstärke von 7 Tesla.
© MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften

Der Gennari-Streifen durchzieht als gut sichtbare Linie die graue Substanz in der primären Sehrinde im visuellen Kortex des Gehirns. "Obwohl der visuelle Kortex zu den am meisten untersuchten Gebieten im Gehirn zählt, und der Gennari-Streifen eine recht auffällige Struktur ist, wurde bisher nie genauer erforscht, warum er sich bildet und was seine Funktion ist", sagt Robert Trampel, Mitarbeiter der Abteilung Neurophysik am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften. "Vermutet wurde naheliegenderweise ein Zusammenhang mit dem Sehen".

Das kann jedoch, wie sich nun zeigte, nicht die einzige Funktion des Gennari-Streifens sein: Bei einer Magnetresonanztomografie-Studie mit extrem hoher Auflösung fanden ihn die MPI-Forscher im Gehirn geburtsblinder Menschen. "Die Hirnstruktur verarbeitet also zumindest nicht ausschließlich visuelle Reize, sondern muss in der Lage sein, auch andere Aufgaben zu übernehmen", sagt Derek Ott, einer der Ko-Autoren der Studie. Einiges spreche dafür, dass der Gennari-Streifen zu einer Schärfung des Berührungssinns beitragen könnte. Denn gerade die Region, in der sich der Streifen befindet, weist bei Blinden während des Braille-Lesens eine erhöhte Aktivität auf. Alle Probanden der Studie waren erfahren im Lesen der Blindenschrift und hatten sich auf eine in Braille geschriebene Anzeige in einer Zeitung für Blinde gemeldet.

Eine wichtige Funktion hat der Gennari-Streifen möglicherweise bereits in den ersten Lebensjahren, vermutet Robert Turner, der Leiter der Abteilung Neurophysik. Bei blinden Menschen nutzt das Gehirn taktile und akustische Reize, um auch ohne visuelle Informationen eine ungefähre räumliche Vorstellung von der Umwelt zu erzeugen. Der Gennari-Streifen könnte dafür eine Rolle spielen und später die Feinwahrnehmung von Berührungsreizen unterstützen, die beim Braille-Lesen besonders gefordert ist. Studien mit funktioneller Magnetresonanztomografie sollen demnächst genauere Informationen über die Arbeit des vielseitigen Nervenbündels liefern.
PZ/HR

Originalveröffentlichung
Robert Trampel, Derek V. M. Ott, Robert Turner
Do the Congenitally Blind Have a Stria of Gennari? First Intracortical Insights In Vivo.
Cerebral Cortex, Online, 10. 02. 2011 (doi: 10.1093/cercor/bhq282)

Ansprechpartner

Peter Zekert
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig
E-Mail: zekert@cbs.mpg.de

Dr. Robert Trampel
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig


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Quelle:
MPG - Presseinformation vom 22. Februar 2011
Herausgeber:
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2011