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ETHIK/1215: Das Klinische Ethikkomitee an der Lübecker Uni berät Ärzte bei schwierigen Entscheidungen (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2016

Ethik
Hilfe im Grenzfall

Von Dirk Schnack


Das Klinische Ethikkomitee an der Lübecker Universität steht Ärzten bei schwierigen Entscheidungen beratend zur Seite. Vielen Ärzten ist das Angebot aber noch unbekannt.


Eine Patientin infiziert sich nach einer schweren Herzoperation. Ob ein weiterer Eingriff ihr Leben retten kann, ist zweifelhaft. Niemand kann prognostizieren, ob sie die Operation überleben oder zu einem schweren Pflegefall wird. Ob die Patientin selbst in einer solchen Situation in den Eingriff eingewilligt hätte, lässt sich nicht mehr klären, weil sie nicht ansprechbar ist und keine Patientenverfügung vorliegt.

Der behandelnde Arzt steht damit vor einer schweren Entscheidung. Im verdichteten Klinikalltag muss er die weiteren Schritte zügig, aber dennoch sorgfältig abwägen. Soll er versuchen, das Leben trotz geringer Erfolgswahrscheinlichkeit und nicht erwünschter möglicher Folgen wie etwa schwere Pflegebedürftigkeit zu retten oder ist es besser, der Patientin einen würdigen Tod zu ermöglichen? In solchen Fällen bietet an einigen Krankenhäusern in Schleswig-Holstein ein klinisches Ethikkomitee Unterstützung. An der Universität Lübeck besteht dieses Gremium aus Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen sowie aus zwei Pflegekräften, zwei Juristen und zwei Krankenhausseelsorgern. Vorsitzender ist Prof. em. Eberhard Schwinger, früher Direktor des Instituts für Humangenetik und auch Dekan in der Hansestadt. Stellvertreter Schwingers sind Prof. Achim Rody, Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, sowie Dr. Doreen Richardt, Oberärztin in der Klinik für Herz- und thorakale Gefäßchirurgie. Das Komitee kommt ad hoc zusammen, weil die Entscheidungen schnell getroffen werden müssen. "Oft heißt es dann: Wir treffen uns morgen um 9:30 Uhr auf der Intensivstation", berichtet Schwinger.

Die Empfehlung, die das 2003 ins Leben gerufene Gremium dem Arzt am Ende gibt, ist bislang stets im Konsens erfolgt, auch wenn die Entscheidungsfindung oft schwierig war. Das Komitee informiert sich zunächst beim behandelnden Arzt selbst und geht direkt an das Krankenbett, bezieht anschließend den Rat aller für diesen Fall wichtigen Fachgebiete ein und bittet außerdem Angehörige um Stellungnahmen. "Es ist unser Ziel, stets die Angehörigen einzubeziehen. Sie kommen aber nicht immer, wenn wir sie darum bitten", berichtet Schwinger im Gespräch mit dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt von seinen Erfahrungen in Lübeck. Es kommt auch vor, dass die Angehörigen eine Entscheidung des Arztes nicht nachvollziehen können. "Wenn das Ethikkomitee in solchen Fällen zur gleichen Empfehlung wie der behandelnde Arzt kommt, kann das für ihn sehr entlastend im weiteren Umgang mit den Angehörigen sein", sagt Schwinger. Er hat schon erlebt, dass sich Meinungsverschiedenheiten zwischen dem behandelnden Arzt und Angehörigen über das weitere medizinische Vorgehen nach Einschaltung des Ethikkomitees komplett aufgelöst haben.

Als "sehr hilfreich" bezeichnet Schwinger klar verfasste Patientenverfügungen - die liegen aber längst nicht für jede Grenzsituation in der Universitätsklinik vor. Dann werden die Aussagen der Angehörigen umso wichtiger und das Komitee muss die Glaubwürdigkeit dieser zum Teil auch konträren Aussagen abwägen.

In der Vergangenheit wurde das Komitee in Lübeck im Durchschnitt einmal im Monat von den Ärzten beratend hinzugezogen. Allerdings steigt die Resonanz, was angesichts der erweiterten Möglichkeiten der modernen Medizin, den Verlauf des Lebens zu beeinflussen, nicht verwundert. Das Gremium kann jederzeit angerufen werden. Schwinger vermutet, dass die Resonanz noch größer wäre, wenn der oft hektische Klinikalltag Ärzte nicht davon abhalten würde.

Das Komitee, betont Schwinger, diene dem interdisziplinären Diskurs und könne Ärzten und Pflegekräften ein Forum zur Reflexion und Diskussion der von ihnen zu treffenden Entscheidungen im diagnostischen oder therapeutischen Einzelfall bieten, es maßt sich aber nicht an, den Arzt bei seiner Entscheidung zu bevormunden. Außer mit Einzelfällen kann sich das Komitee auf Eigeninitiative auch mit exemplarischen Fällen in grundsätzlicher Hinsicht befassen. Nicht zu seinen Aufgaben zählen Fälle in Zusammenhang mit klinischen Studien. Hierfür ist die Ethik-Kommission zuständig, der in Lübeck Prof. Alexander Katalinic vorsteht.

Jede Sitzung des Komitees wird protokolliert und das Ergebnis dem behandelnden Arzt in schriftlicher Form mitgeteilt, auch die Angehörigen und bei Bedarf öffentlich zuständige Stellen wie etwa das Jugendamt werden informiert. Schwinger bekommt von den Ärzten, die die Unterstützung suchen, positive Resonanz auf die Arbeit des Komitees. "Ich glaube nicht, dass es schon mal ein Arzt bereut hat, uns einzuschalten." Kontakt finden Ärzte zum Ethikkomitee über das von Janine Erdmann geleitet Büro in der Universität (Telefon 0451 500 4639; janine.erdmann@uni-luebeck.de).

Nach Schwingers Wahrnehmung nehmen ethische Fragestellungen in der Medizin einen zunehmend höheren Stellenwert ein. Er beobachtet auch einen Wandel in der Einstellung von Medizinern, die nach seinem Eindruck heute aufgeschlossener für ethische Fragen sind als früher, u. a. auch, weil Seminare zu diesem Themenbereich inzwischen schon in der Ausbildung angeboten werden.

Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2016 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2016/201606/h16054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
69. Jahrgang, Juni 2016, Seite 31
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2016

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