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ETHIK/1187: "Forum Bioethik" am 25.2.15 in Berlin - Krankheitsmoden auf dem Prüfstand (Infobrief - Dt. Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 17 - Juli 2015 - 02/15

Forum Bioethik
Krankheitsmoden auf dem Prüfstand

von Dr. Nora Schulz


Burn-out, chronische Migräne, Wechseljahre des Mannes - werden mit diesen Beschwerdebildern tatsächlich Krankheiten erfasst oder neue Krankheiten frei erfunden? Werden soziale Probleme zu Krankheiten umgedeutet? Über den Drahtseilakt zwischen überflüssiger Medikalisierung und notwendiger Therapie diskutierte der Deutsche Ethikrat am 25. Februar 2015 im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung der Reihe "Forum Bioethik" in Berlin.


Die zuverlässige Diagnostik von Krankheiten ist der Ausgangspunkt für eine zielgerichtete Therapie. Patienten sollten in ihrem eigenen Interesse allerdings nur dann behandelt werden, wenn eine Erkrankung tatsächlich vorliegt und es Therapien gibt, die die Krankheit heilen oder Symptome zumindest lindern. "Es geht um die schwierige Abgrenzung zwischen dem noch Normalen und dem schon Kranken, zwischen dem Bereich der Medizin und dem des Sozialen", sagte Christiane Woopen, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, in ihrer Begrüßung. Doch was überhaupt als Krankheit betrachtet und behandelt wird, hängt nicht immer nur von medizinischen Fakten ab. Auch kulturelle und wirtschaftliche Faktoren können eine Rolle dabei spielen, und manche Krankheiten geraten dadurch geradezu in Mode.

Krankheitsmoden im Wandel der Zeiten

Dass die Geschichte der westlichen Medizin reich an "Modekrankheiten" sei, die nicht nur unter Ärzten, sondern auch in der Bevölkerung bereitwillig aufgenommen würden, stellte Michael Stolberg von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg in seinem Referat über Krankheitsmoden im Wandel der Zeiten sehr anschaulich dar. So meinten über die Jahrhunderte etwa viele Frauen, an der "Gebärmutter-Erstickung" oder Hysterie zu leiden, bei denen ihnen eine vermeintlich "aufsteigende" Gebärmutter den Atem nahm. Männer sahen sich derweil von Hypochondrie geplagt, einem Leiden, bei dem sich "zähe, schwarze Galle oder andere verdorbene Säfte" im Oberbauch (Hypochondrium) sammelten, dort die Gefäße und die Milz verstopften und "trübe, unreine Dämpfe nach oben steigen" ließen. Im 18. und 19. Jahrhundert hingegen erfreute sich eine Fülle von "Nervenleiden" besonderer Beliebtheit. Stolberg deutete das Kommen und Gehen solcher Krankheitsmoden als Indiz dafür, dass die Wahrnehmung, Deutung und Erfahrung von Krankheit stets und unausweichlich auch vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext geprägt sei.

Krankheitskampagnen

Das Stichwort Disease-Mongering - wörtlich in etwa übersetzbar mit Krankheitsmache oder Krankheitstreiben - griff Gisela Schott von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in ihrem Referat auf. Ein aktuelles Beispiel sei die Aufmerksamkeitskampagne für das Krankheitsbild "chronische Migräne", in deren Rahmen beispielsweise in Berlin großflächige Plakate dazu eingeladen hätten, sich damit auseinanderzusetzen, ob man nicht vielleicht betroffen sei. Laut Kampagne litten 49.000 Berliner an chronischer Migräne, ohne es zu wissen. Führe man jedoch auf der beworbenen Webseite den Selbsttest durch, werde der Arztbesuch empfohlen, selbst wenn man keinerlei Symptome habe. Hinter der Kampagne, so Schott, stecke eine Pharmafirma, die das Antifalten-Mittel Botox für einen Nutzerkreis von Kopfschmerzbetroffenen propagieren wolle - obwohl der Nutzen für diese Indikation nach wie vor unklar sei.

Schott kritisierte, dass mit Disease-Mongering normale Prozesse des Lebens als medizinisches Problem definiert, neue Krankheitsbilder durch Werbemaßnahmen geradezu erfunden, leichte Symptome zu Vorboten schwerer Leiden stilisiert und Risiken als Krankheit verkauft würden. Dies habe unter anderem zur Folge, dass die Betroffenen im Rahmen einer Medikation einem unnötigen Risiko ausgesetzt seien und gleichzeitig Ressourcen des Gesundheitssystems verschwendet würden. Die Politik sieht sie in der Pflicht, die Werbung für Arzneimittel strenger zu regulieren und verstärkt die unabhängige Forschung zu fördern. Aber auch die Bürger müssten sich aktiv informieren.

Nicht ganz wohl ist noch nicht krank

Thomas Schramme von der Universität Hamburg, der sich den normativen Fragen zum Umgang mit Krankheitsmoden widmete, beklagte die drohende Ausweitung des Krankheitsbegriffs. Es werde nicht unterschieden zwischen der Abwesenheit von Krankheit als Mindestkriterium für die Gesundheit - er sprach von negativer Gesundheit - und der idealtypischen bestmöglichen Gesundheit, der sogenannten positiven Gesundheit. Hier gelte es, begriffliche Klarheit zu schaffen und zwischen tatsächlich pathologischen Phänomenen und medizinisch normalen Zuständen zu differenzieren. "Die Grenze, ab der Krankheit beginnt, verläuft unterhalb des Minimums ... Das vergessen wir häufig. Nicht vollständiges Wohlbefinden ist eben keine Krankheit", sagte Schramme. Er stellte zudem die Funktion des Krankheitsbegriffs für die Entscheidung über die solidarische Finanzierung von Therapie infrage.

Kunst des Weglassens

In der anschließenden Podiumsdiskussion, die Wolf-Michael Catenhusen, stellvertretender Vorsitzender des Ethikrates, moderierte, diskutierten Jörg Blech vom Magazin Der Spiegel, Lothar Weissbach von der Stiftung Männergesundheit, Boris Quednow von der Universität Zürich und Ratsmitglied Christiane Fischer von MEZIS e. V. anhand konkreter Beispiele wie Wechseljahre des Mannes und Burn-out, welche Folgen die Beschreibung immer neuer Krankheitsbilder hat.

Eine Orientierung von Behandlungsentscheidungen an bloßen Laborwerten führe dazu, so Weissbach, dass aus zuvor gesunden Menschen behandlungspflichtige Patienten gemacht würden, ein grenzwertiger Befund zum "Überbefund" werde, der eine Überdiagnose und Übertherapie nach sich ziehe. Noch lange nicht jeder Mann mit einem niedrigen Testosteronwert sei auch schon krank. Quednow warnte vor Krankheitsmoden in der Psychiatrie, die im Fall von Burn-out dazu führen könnten, dass einerseits eigentlich gesunde Menschen unnötig behandelt werden, andererseits aber das Risiko bestehe, dass Menschen, die an einer schweren Depression leiden, eine falsche Diagnose bekommen. Als die Urheber machten Blech und Fischer Pharmaunternehmen, medizinische Interessenverbände und PR-Agenturen aus, die neue Leiden erfänden und zum Industrieprodukt machten. Doch statt maximaler Versorgung unabhängig von der Ausprägung eines Krankheitsbildes sollten sich Ärzte in der "Kunst des Weglassens" üben, so Weissbach, und dabei mitunter von einer Therapie abraten, auch wenn sie damit keine honorierte ärztliche Leistung im Sinne der Krankenkasse erbrächten.


QUELLE:
Das Programm der Veranstaltung sowie die Vorträge und Diskussionsbeiträge der Teilnehmer können abgerufen werden unter:
http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/alte-probleme-neue-krankheiten


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Prof. Dr. med. Christiane Woopen und die Referenten des Abends Prof. Dr. med. Dr. phil. Michael Stolberg, Dr. med. Gisela Schott und Prof. Dr. phil. Thomas Schramme (v. o.)

- Wolf-Michael Catenhusen (Mitte) während der Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. rer. nat. Boris Quednow, Prof. Dr. med. Lothar Weißbach, Ratsmitglied Dr. med. Christiane Fischer sowie Jörg Blech (v.l.)

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Quelle:
Infobrief Nr. 17 - Juli 2015 - 02/15, Seite 5 - 6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. August 2015

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