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ETHIK/1010: Forum Bioethik - Arzneimittelforschung mit Kindern (Infobrief - Deutscher Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 9 - Dezember 2011 - 03/11

FORUM BIOETHIK

Arzneimittelforschung mit Kindern


Am 21. September 2011 diskutierte der Deutsche Ethikrat mit Experten aus den Bereichen Medizin und Ethik die Frage, inwieweit die Arzneimittelforschung mit Kindern ethisch geboten oder bedenklich ist.


Jochen Taupitz, Mitglied des Deutschen Ethikrates, fasste einleitend die Problematik des kontrovers diskutierten Themas zusammen. Auf der einen Seite stehe der hohe Prozentsatz an Medikamenten, die nicht für Kinder zugelassen sind und damit ohne gesicherte Erkenntnisse über die wirksame und sichere Dosierung bei Kindern angewendet werden, sowie das Recht des Kindes auf eine angemessene medizinische Versorgung. Auf der anderen Seite betrachteten es manche als Instrumentalisierung Wehrloser, wenn Kinder, die nicht selbst ihre rechtswirksame Zustimmung erteilen können, in Forschung einbezogen werden. Zur sachgerechten Bewertung müssten drei Bereiche unterschieden werden: die medizinische Standardbehandlung ausschließlich in der Absicht, dem konkreten Patienten zu helfen, die therapeutische Forschung unter Verwendung neuartiger Medikamente, die gleichermaßen auf den Nutzen für den Patienten und auf die Weiterentwicklung der Wissenschaft gerichtet ist, und das wissenschaftliche Experiment mit gruppenspezifischem Nutzen, das zwar nicht dem konkreten Patienten nützt, möglicherweise aber zukünftig anderen Patienten, die von der gleichen Krankheit betroffen sind.


Schädigung von Kindern

Wolfgang Rascher, Vorsitzender der Kommission für Arzneimittel für Kinder und Jugendliche am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, berichtete anschließend über die Versorgung von Kindern mit Arzneimitteln in Deutschland und Europa. Er betonte, dass keine andere Bevölkerungsgruppe durch nicht geprüfte Medikamente so benachteiligt werde wie Kinder. Die im Januar 2007 in Kraft getretene neue EU-Kinderarzneimittelverordnung, die einen detaillierten pädiatrischen Entwicklungsplan für jedes neu zuzulassende Medikament vorschreibt, und die 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG) aus dem Jahr 2004, die einen Gruppennutzen für ausreichend erklärt, hätten bewirkt, dass in den letzten Jahren die Zahl der klinischen Studien in Deutschland leicht gestiegen ist. Dies sei zwar noch kein durchschlagender Erfolg, aber die Richtung stimme. Zahlreiche klinische Studien mit Kindern würden bisher noch zurückgestellt, da die Daten bei Erwachsenen noch nicht vorlägen. Obwohl Studien grundsätzlich mit minimalem Risiko und minimaler Belastung konzipiert seien, gebe es, wie Rascher darstellte, auch unerwünschte Vorkommnisse und Schädigungen. Ein gutes Kontrollsystem innerhalb der Studien ermögliche jedoch ein rechtzeitiges Eingreifen in den Verlauf der Studie.


Off-Label-Use in der Kinderonkologie

Im Anschluss daran berichtete Angelika Eggert, Direktorin des Westdeutschen Tumorzentrums am Universitätsklinikum Essen, aus ihrer Erfahrung mit der klinischen Versorgung krebskranker Kinder. Sie hob hervor, dass Krebserkrankungen nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache bei Kindern in Europa seien und dass sich die molekularen Charakteristika von denen der Tumorerkrankungen des Erwachsenenalters sehr stark unterschieden. Daher sei die Entwicklung eigener Medikamente dringend erforderlich. Es sei jedoch eine der großen Erfolgsgeschichten der Medizin, dass die Heilungsrate in der Kinderonkologie von unter 20 Prozent in den Fünfzigerjahren auf mittlerweile 80 Prozent gestiegen ist. Dieser Erfolg basiere auf dem Zusammenschluss von Kinderonkologen auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene, mit dem Ziel, gemeinsam klinische Studien durchzuführen. Eine weitere Verbesserung könne nur durch weitere Forschung und bessere Anwendung von Arzneimitteln erreicht werden. So würden mittlerweile 95 Prozent der krebskranken Kinder in Europa in sogenannten Therapieoptimierungsstudien, die bereits bekannte Arzneimittel sowohl im On- als auch Off-Label-Bereich untersuchen, behandelt, um neue Erkenntnisse über Diagnose- und Therapiemöglichkeiten zu erlangen. Durch die Zusammenfassung der europaweit multizentrisch erhobenen Daten könnten umfassende Erkenntnisse gewonnen werden. Eggert hob in diesem Zusammenhang den sehr hohen Anteil des Off-Label-Use in der Kinderonkologie hervor, der bei bis zu 87 Prozent liege. Das Dilemma bestehe darin, dass zum einen der Off-Label-Use zu einem doppelt hohen Risiko unerwünschter Nebenwirkungen führe und oft von den Krankenkassen nicht erstattet werde. Zum anderen würden aber bei einem Verzicht auf den Off-Label-Use den Kindern Medikamente vorenthalten, die nachgewiesene bzw. potenzielle Wirkung hätten. Des Weiteren verwies Eggert auf das Problem der fehlenden Anreize für die Pharmaindustrie, sich verstärkt in der Entwicklung von Medikamenten für Kinder zu engagieren. Zudem sei die bisherige Finanzierung der Therapieoptimierungsstudien über Spenden mit den neuen Auflagen des AMG nicht mehr realisierbar. Daher plädierte Eggert dafür, diese Studien von denen der Pharmaindustrie abzugrenzen und auf bürokratische Hürden und zusätzliche Gebühren zu verzichten. Weiterhin sprach sie sich für mehr Anreize für die Pharmaindustrie, öffentliche Förderung und europäische Netzwerke der translationalen Medizin an der Schnittstelle von präklinischer und klinischer Forschung sowie für eine pädiatrische Überprüfung von Medikamentenwirkungen aus, damit Kinder die bestmögliche Arzneimittelversorgung erhalten.


Minimierung von Risiko und Belastung

Jochen Taupitz stellte sodann die rechtliche Situation dar. Er referierte über die Einwilligungsfähigkeit und Aufklärungspflicht als zentrale Voraussetzung für die Forschung sowie über die Bedingungen für die klinische Prüfung von Arzneimitteln. Hierbei ging er auf verschiedene Schutzkriterien ein, wie die Nutzen-Risiko-Abwägung, die verfahrensförmige Sicherung mittels der Prüfung durch zuständige Behörden und das individuelle Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen bzw. Patienten. Er erläuterte, dass nur Diagnostika und präventiv wirkende Arzneimittel an gesunden Minderjährigen getestet werden dürften und dass sonstige klinische Forschung mit Minderjährigen immer alternativlos sein müsse. Auf der Grundlage von Daten aus der Erwachsenenforschung müsse ein voraussichtlicher individueller Nutzen oder zumindest ein direkter Nutzen für die gleiche Patientengruppe erkennbar sein. Die damit verbundenen Risiken und Belastungen sollten in diesem Zusammenhang so gering wie möglich sein. Taupitz fasste zusammen, dass es eine Reihe strenger Vorschriften im Arzneimittelgesetz gebe und somit ein hohes Schutzniveau zugunsten von Minderjährigen in Deutschland vorhanden sei.


Kinder durch Forschung schützen

Georg Marckmann vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität München führte in die ethischen Aspekte des Themas ein. Für ihn wäre es ein Verstoß gegen die ethischen Prinzipien des Nichtschadens und Wohltuns, wenn man auf Studien mit Kindern verzichten und somit Kindern erhöhte Risiken durch ungetestete Medikamente zumuten und ihnen somit nützliche Therapien vorenthalten würde. Marckmann ging auf die bereits vorgestellten Schutzkriterien ein und unterstrich die ethische Problematik der Forschung mit Kindern, da diese nur eingeschränkt bzw. nicht einwilligungsfähig seien. Marckmann zufolge ist die Arzneimittelforschung mit Kindern ethisch geboten und zugleich bedenklich - ein ethischer Grundkonflikt, der nicht auflösbar sei, sondern nur reguliert werden könne. Es sei eine ethische Herausforderung, auf der einen Seite Minderjährige mit Blick auf das Nutzen-Schaden-Verhältnis, die informierte Einwilligung und die gruppennützige oder fremdnützige Forschung zu schützen und auf der anderen Seite eine ethisch verantwortliche pädiatrische Forschung zu ermöglichen. Hier sei die öffentliche Hand gefordert, angemessene regulatorische, finanzielle und personelle Voraussetzungen für die Forschung und entsprechende Strukturen, wie pädiatrische Studienzentren, zu schaffen.

Mehr Information über Off-Label-Use notwendig Nachfolgend stellte Claudia Wiesemann vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Georg-August-Universität Göttingen anhand verschiedener Studien die Sicht der Eltern dar, die ihre Kinder an Forschungsvorhaben teilnehmen lassen. Aus diesen Studien sei erkennbar, dass Eltern gesunder Kinder in dieser Hinsicht grundsätzlich zurückhaltender seien als Eltern kranker Kinder, die oft das Gefühl hätten, keine Wahl zu haben, den Nutzen für ihr Kind größer als das Risiko einschätzten und eine bessere Vorstellung davon hätten, wie wichtig gut getestete Medikamente seien. Auch altruistische Motive und die Überlegung, auf diese Weise Zugang zu einer kostenfreien Behandlung zu haben, könnten ausschlaggebend für die Entscheidung zur Teilnahme an Forschungsvorhaben sein. Zudem hätten die Studien ergeben, dass Eltern auch unter Stressbedingungen einwilligungsfähig seien und selbst einwilligen wollen. Wiesemann zeigte auf, dass bei der Durchführung von Studien darauf geachtet werden müsse, die Kinder nur altersgemäß zu belasten und die Studie mit positiven Erfahrungen zu verknüpfen.

Sie mahnte eine Begleitforschung zu den Einstellungen von Kindern und Jugendlichen zur Forschung sowie eine angemessene Aufklärung über einen Off-Label-Use an, weil das Wissen über eine denkbare Anwendung die Bereitschaft von Eltern stärke, ihr Kind an einer Studie teilnehmen zu lassen.


Gegen ein Verbot der Arzneimittelforschung mit Kindern

Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Podiumsdiskussion, an der neben den Referenten des Abends Siegfried Throm, Geschäftsführer der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), und Dietrich Niethammer von der Niethammer-Stiftung für kranke Kinder Tübingen teilnahmen.

Throm stellte aktuelle Zahlen zu neu zugelassenen Kinderarzneimitteln und deren Anwendungsgebieten vor. Er begrüßte die Ziele der europäischen Arzneimittelverordnung von 2007 und informierte über das Vorgehen bei der Zulassung von Kinderentwicklungsplänen. Throm resümierte, dass sich für die Pharma-Unternehmen nicht die Frage stelle, ob Studien mit Kindern durchgeführt werden dürfen, sondern wie diese am besten verwirklicht werden könnten.

Auch Niethammer hielt die Arzneimittelforschung mit Kindern für geboten. Eine Behinderung der Forschung mit Kindern durch finanzielle oder bürokratische Hürden, wie es bei den Therapiestudien der Fall sei, hielt er für unethisch. Niethammer wies auf die hohe Verantwortung von Ethikkommissionen sowie das Mitspracherecht der Eltern und die Notwendigkeit der Einwilligung der Kinder hin. Aufgrund seiner guten Erfahrungen plädierte er für eine Ethikkommission von Fachleuten, die nicht nur den Arzt, sondern auch die Eltern beraten solle.

Im Verlauf der Diskussion wurde nochmals auf die Bedeutung der Einwilligungsfähigkeit und ein mögliches Vetorecht des Kindes hingewiesen. Eggert vertrat die Auffassung, dass das Gespräch zwischen Eltern und Kind sowie eine altersgerechte Aufklärung von enormer Bedeutung seien.

Taupitz sprach die Probleme von placebokontrollierten Studien an, in deren Rahmen Kinder der Kontrollgruppe ohne voraussichtlichen Nutzen ein Scheinmedikament bekämen. Rascher entgegnete, dass solch ein Ungleichgewicht durch ein sehr gutes Studiendesign verhindert werden könne. So könnten beispielsweise die Kinder nach dem Zufallsprinzip unterschiedliche Mengen des Medikaments abwechselnd erhalten.

Die Podiumsteilnehmer waren sich darin einig, dass rein fremdnützige Forschung an Kindern nicht durchgeführt werden darf, weil sie ethisch nicht vertretbar ist. Ein bloßer Gruppennutzen einer Studie sei zwar akzeptabel, aber das Hauptinteresse müsse darin bestehen, einen therapeutischen Effekt für den konkreten Patienten zu erzielen.

Im Anschluss an diese Diskussionsrunde hatte das Publikum die Gelegenheit, sich an der Diskussion zu beteiligen. Im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses standen Fragen nach entsprechenden Ethikkommissionen in Kliniken, den Kriterien der Einwilligungsfähigkeit, den Problemen und Folgen des Patentschutzes, dem Risiko, durch Studien geschädigt zu werden, sowie deren Überwachung. Als zusätzliches Problem wurde angesprochen, dass nach dem AMG nur ein pharmazeutisches Unternehmen den Antrag für die Zulassung eines Arzneimittels stellen kann und nicht ein Arzt, der aufgrund seiner Erfahrung mit einem Medikament gern dessen Prüfung und Zulassung in die Wege leiten würde. Des Weiteren wurde großes Unverständnis darüber geäußert, dass die EU die weitere Förderung pädiatrischer Studien für 2012 eingestellt hat.    (Wo)


INFO

Gesetzeserneuerungen und Begrifflichkeiten

1. 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG)
Die EU-Richtline (2001/20/EG) wurde umgesetzt in Deutsches Recht durch die 12. AMG-Novelle, die am 6.8.2004 in Kraft getreten ist. Die Änderung des Arzneimittelgesetzes legte zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit für Kinder und Jugendliche die Einrichtung einer Kommission für Arzneimittel für Kinder und Jugendliche (KAKJ) fest. Diese Kommission ist durch die zuständigen Zulassungsbehörden bei der Entscheidung über jeden Zulassungsantrag zu beteiligen, der auch die Anwendung des Arzneimittels bei Kindern oder Jugendlichen vorsieht. Am 14.12.2006 fand die konstituierende Sitzung der neuen Kommission statt.

2. EU-Kinderarzneimittelverordnung
Die EU-Verordnung (1901/2006/EG) trat 30 Tage nach Verkündigung, am 26.1.2007, im Amtsblatt der EU in Kraft. Sie verpflichtet den Hersteller, für jedes neu zuzulassende Arzneimittel ein pädiatrisches Prüfkonzept (PIP) bei Einreichung der Zulassungsunterlagen vorzulegen, in dem das geplante Entwicklungsprogramm für eine Anwendung an Kindern beschrieben wird. Das PIP muss von dem bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) eingerichteten wissenschaftlichen Ausschuss, dem Pädiatrieausschuss (PDCO), genehmigt werden. Als Ausgleich für die erhöhten Anforderungen werden den pharmazeutischen Unternehmen Anreize und Bonusse in Form von verlängerten oder neuen Schutzfristen gewährt.

3. Off-Lable-Use
Behandlung mit Arzneimitteln, für die wegen fehlender klinischer Studien entweder gar keine Zulassung für den Einsatz bei Kindern und Jugendlichen vorliegt oder denen zumindest für den konkreten Anwendungsbereich eine entsprechende Zulassung fehlt. Die Behandlung erfolgt ohne wissenschaftlich gesicherte Daten ausschließlich auf der Grundlage von Erfahrungswerten des Arztes.


QUELLE
Ausführliche Informationen zur Veranstaltung finden sich unter
http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/forum-bioethik/arzneimittelforschung-mit-kindern


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Ratsmitglied Prof. Dr. iur. Jochen Taupitz mit den Referenten und Diskutanten des Abends: Prof. Dr. med. Dr. h.c. Dietrich Niethammer, Prof. Dr. med. Georg Marckmann, MPH, Dr. rer. nat. Siegfried Throm, Prof. Dr. med. Claudia Wiesemann, Prof. Dr. med. Angelika Eggert und Prof. Dr. med. Dr. h.c. Wolfgang Rascher (v. l.) vor den zahlreich erschienenen Besuchern der Veranstaltung


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Quelle:
Infobrief Nr. 9 - Dezember 2011 - 03/11, Seite 4 - 6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2012