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ETHIK/918: Der steuerbare Mensch? (1) Vorwort (Deutscher Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009

Der steuerbare Mensch?
Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

Vorwort von Christiane Woopen


Vorwort

"Die Nase steuert die Partnerwahl", "Sitz der Grammatik gefunden", "Sehen, wie Ihr Kind denkt" - täglich neue Pressemeldungen vermitteln uns den Eindruck, als könnten wir dank neurowissenschaftlicher Erkenntnisse endlich verstehen, was die Menschheit seit Jahrtausenden bewegt: Warum ist der Mensch so, wie er ist, und warum tut der Mensch das, was er tut?

Die Neurowissenschaften entwickeln immer neue Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten, deren Tragweite trotz oder gerade wegen verheißungsvoller Anpreisungen oft schwer abzuschätzen ist: So erlaubt die fetale Magnetenzephalografie durch die Erfassung von Magnetfeldern des Ungeborenen eine Darstellung seiner Hirnaktivität und Funktionsstörungen mit allem damit zusammenhängenden Nutzen, aber auch möglichen Konflikten. Im Forschungszentrum Jülich steht nun ein Hybridgerät namens Neunkommavier, das durch die Kombination zweier Untersuchungstechniken eine bisher nicht gekannte gleichzeitige Darstellung von Gehirnstrukturen und Stoffwechselprozessen in enorm hoher Magnetfeldstärke zulässt und damit - so wird gemutmaßt - möglicherweise die Erkennung einer Alzheimer-Demenz schon Jahre, bevor sich überhaupt erste Symptome zeigen, erlaubt. Ein letztes Beispiel: Die tiefe Hirnstimulation als Verfahren der funktionellen Neurochirurgie, die sich von der unrühmlichen Vergangenheit der Psychochirurgie des letzten Jahrhunderts abgrenzen muss, wird bei Patienten mit ausgewählten neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt, bei denen alle anderen Therapiemethoden nicht mehr ausreichend wirken.

Längst ist aus den Neurowissenschaften ein blühendes Geflecht von Teildisziplinen geworden: Neurobiologie, Neurophysiologie, Neuroimmunologie, Neuropsychologie, kognitive Neurowissenschaften sind noch Beispiele aus dem weiteren Bereich der Medizin. Doch auch Bereiche, die eigentlich einer anderen Logik folgen, schließen sich der Neuro-Bewegung an: Neuroökonomie, Neuromarketing, Neurofinance, Neuropädagogik, Neurotheologie und neuerdings die transkulturelle Neurowissenschaft seien exemplarisch genannt.

Was macht die Neurowissenschaften ethisch so interessant, dass sich seit knapp zehn Jahren auch eine Neuroethik herausbildet?

Ethische Fragen stellen sich in zumindest drei Hinsichten:

In einer ersten, bewertenden Hinsicht geht es um die ethische Einordnung bestimmter Verfahren in konkreten Anwendungskontexten. Egal, ob es sich um die Anwendung moderner bildgebender Verfahren als Lügendetektoren in Gerichtsprozessen, um die Verwendung von Psychopharmaka zur Verbesserung von Leistung und Stimmung bei Gesunden - das sogenannte Enhancement - oder um die Erforschung der tiefen Hirnstimulation an psychiatrisch erkrankten Patienten handelt - die Grenzen der Methodik, der jeweilige Nutzen und die möglichen Risiken für den Einzelnen sowie Fragen der Selbstbestimmung sind ebenso gründlich zu bedenken wie die denkbaren sozialen Folgen und Aspekte der Gerechtigkeit.

Auf dieser Grundlage geht es in einer zweiten, normierenden Hinsicht um die Entwicklung von Handlungsregeln. Wie schwer muss die Depression bei einem Patienten sein und wie viele vergebliche Behandlungsversuche über wie viele Jahre muss er hinter sich haben, damit für ihn eine tiefe Hirnstimulation in Betracht kommt? Welche begleitenden Maßnahmen sind in der medizinischen Versorgung von Parkinson-Patienten angemessen, wenn man bedenkt, dass neben den beeindruckenden Erfolgen bei den motorischen Symptomen einerseits in den letzten Jahren andererseits hin und wieder Einschränkungen kognitiver Funktionen und belastende psychosoziale Folgen zum Beispiel in der Partnerschaft der Patienten festgestellt werden? Sollen leistungssteigernde Psychopharmaka für jedermann frei verfügbar sein - Stichwort Hirndoping - wie es im Dezember 2008 einige berühmte Wissenschaftler mitsamt dem Chefredakteur in der Zeitschrift Nature zur Diskussion stellten? Inwieweit darf Werbung neurowissenschaftliche Erkenntnisse zur gezielten Manipulation unbewusster Einflussfaktoren auf das Kaufverhalten nutzen?

In einer dritten, konzeptionell-reflektierenden Hinsicht geht es um die angemessene Deutung der Erkenntnisse aus Einblicken und Eingriffen in das menschliche Gehirn. Wir alle haben Überzeugungen zur Frage eines freien Willens, zu persönlicher Individualität und zur Rolle der Vernunft sowie unserer Motive und Leidenschaften für unser Leben. Solche Konzepte leiten unser Denken und Handeln, auch ohne dass wir darüber nachgedacht haben und dies im Einzelnen ausweisen könnten. Erkenntnisse über unser Gehirn können solche Konzepte unsicher werden lassen, sodass sie eines Überdenkens, einer Ausdifferenzierung und einer Weiterentwicklung bedürfen.

Die besondere Brisanz liegt nun darin, dass auf dieser Ebene der reflektierenden Selbstvergewisserung nicht nur Fragen innerhalb der Ethik entstehen, wie etwa bei der Stammzellforschung auch, sondern dass die Grundlagen und Voraussetzungen der Ethik selbst berührt sind. Ethische Fragen haben nämlich nur dann überhaupt einen Sinn, wenn wir davon ausgehen, dass wir als handelnde Individuen eine Wahl haben und Verantwortung für unser Handeln übernehmen können. Doch auch, wenn wir von einer solchen Verantwortung grundsätzlich ausgehen, beeinflusst unser Menschenbild die Art und Weise, wie wir ethische Fragen stellen, welche Fragen wir für besonders wichtig halten und welche Antworten darauf gegeben werden. Diese Dimension unterscheidet die Neuroethik von allen anderen ethischen Fragen, die wir uns im Zusammenhang mit den Lebenswissenschaften bislang haben stellen müssen. Das Verhältnis unseres Selbstverständnisses zum Gehirn ist ungleich enger als dasjenige zu unseren Genen.

Vor diesem Hintergrund hat der Deutsche Ethikrat für seine erste öffentliche Jahrestagung das Gehirn zum Thema gemacht. Er möchte die mit den Neurowissenschaften aufgeworfenen Fragestellungen in ihrer ethischen Dimension in die Öffentlichkeit tragen - in der Hoffnung, Interesse zu wecken und zu befördern. Er will eine gesellschaftliche Diskussion unterstützen, die von vornherein die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse und Eingriffsmöglichkeiten aufmerksam reflektierend begleitet.

Im Namen des Deutschen Ethikrates darf ich Sie einladen zu einem sicher spannenden Tag des Lernens und Nachdenkens über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn.

Christiane Woopen
Stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates


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INHALT

Vorwort von Christiane Woopen
Barbara Wild - Hirnforschung gestern und heute
John-Dylan Haynes - Bilder des Gehirns als Bilder des Denkens und Fühlens
Tade Matthias Spranger - Das gläserne Gehirn? Rechtliche Probleme bildgebender Verfahren
Isabella Heuser - Psychopharmaka zur Leistungsverbesserung
Thomas E. Schläpfer - Schnittstelle Mensch/Maschine: Tiefe Hirnstimulation
Henning Rosenau - Steuerung des zentralen Steuerungsorgans - Rechtsfragen bei Eingriffen in das Gehirn
Ludger Honnefelder - Die ethische Dimension moderner Hirnforschung
Dietmar Mieth - Der (gehirnlich) steuerbare Mensch - Ethische Aspekte
Wolfgang van den Daele - Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement


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Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn
© 2009 - Seite 7 - 9
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin
Redaktion: Dr. Joachim Vetter (V.i.S.d.P.)
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2011