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UMWELT/202: Tagungsbericht "Krank durch Umwelt" - Wie ist die Situation und was tut die Politik? (umg)


umwelt · medizin · gesellschaft - 4/2009
Humanökologie - soziale Verantwortung - globales Überleben

Krank durch Umwelt - Wie ist die Situation und was tut die Politik?
(21.8.2009, Bad Bramstedt)

Von Ruth Schwark-Sobolewski


Der Verein für Umwelterkrankte ist 1995 gegründet worden. Die medizinische Versorgung und soziale Lage der Umwelterkrankten ist seitdem nach einhelliger Ansicht von Betroffenen nicht besser, sondern durchweg schlechter geworden. Im deutschen Gesundheitswesen werden Umwelt bedingte Erkrankungen systematisch verleugnet und den Betroffenen eine adäquate Behandlung verweigert. Deshalb ist es höchste Zeit, sich gesundheits- und sozialpolitisch druckvoller zu engagieren. Das Bestreben der Umwelterkrankten muss es sein, die Verantwortlichen in der Politik zu erreichen. Mit diesem kämpferischen Statement eröffnete die 1. Vorsitzende des gastgebenden Vereins für Umwelterkrankte (Bredstedt) Gisela Grote das Fachgespräch, zu dem neben Betroffenen und ihren Ärzten insbesondere auch Politiker eingeladen waren.


Die praktische Ärztin Silke Haack-Nebbe (Schobüll) ging in ihrem Vortrag auf die Definitions- und Diagnoseprobleme bei Multisystemerkrankungen wie MCS, CFS und Fibromyalgie und die in Deutschland übliche Psychosomatisierung dieser Leiden ein. Die praktische Umweltmedizin habe inzwischen genug valide und standardisierte Methoden entwickelt, diese Leiden zu diagnostizieren und zu therapieren, aber der wissenschaftliche Mainstream erkenne diese Krankheitsbilder noch nicht an, wobei wirtschaftliche Interessen eine große Rolle spielten. Sie skizziert die Anforderungen einer bedarfsgerechten Versorgungsstruktur und zeigt anhand offizieller Daten der Bundesregierung auf, wie unterversorgt die deutsche Bevölkerung auf diesem Gebiet tatsächlich ist (BT-Drs. 16/4848).

Über Umweltschadstoffe als Provokationsfaktoren bei Allergien berichtete Prof. Dr. John Ionescu (Neukirchen). Er zeigte auch den Zusammenhang zwischen Schadstoffbelastungen, Nahrungsmittelallergenen, Stoffwechselveränderungen und den Reaktionen des Immunsystems am Beispiel der Neurodermitis auf.

Kathrin Otte (MCS-Selbsthilfegruppe Hamburg) klagte an: Was in Deutschland abläuft, komme einer Verhöhnung der Menschenrechte gleich. Die Profitinteressen der Wirtschaft hätten einen höheren Stellenwert als das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Wer das Pech habe, durch chemische oder physikalische Einflüsse organisch schwer krank zu werden, werde systematisch psychiatrisiert und entrechtet und stehe am Ende sozial deklassiert da, und das nur, weil die eigentlichen Ursachen ihrer Krankheit nicht publik werden sollten.

Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP, MdB, Bad Bramstedt) musste sich vorzeitig wegen eines Wahlkampftermins verabschieden, erklärte aber sein Interesse an weiteren Informationen und Gesprächen.

Dr. Wolfgang Wodarg (SPD, MdB, Flensburg) bestätigte, dass es in Deutschland ein ernstes Problem mit "Hofgutachtern" der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherungsträger gibt. Deren Hauptaufgabe sei es, Zahlungsverpflichtungen abzuwimmeln und nicht, ein objektives Bild vom Betroffenen und dessen elementaren Bedürfnissen zu erstellen. Seine bisherigen Anläufe im Bundestag, die ärgerliche Praxis der Mehrfachbegutachtung zu beenden, sei von der gut organisierten Lobby der Leistungsträger ausgebremst worden.

Dr. Rolf Koschorrek (CDU, MdB, Bad Bramstedt) erklärte, viel Neues und Nachdenkenswertes gehört zu haben. Die Problematik der Stigmatisierung und Psychiatrisierung scheine ihm ähnlich gelagert zu sein wie bei Borreliosekranken. Die Politik müsse das sehr ernst nehmen; den Dialog mit den Betroffenen möchte er vertiefen.

Nach seiner Überzeugung müsse das unmögliche System, dass die Kostenträger selber über Art und Qualität von medizinischen Leistungen entscheiden könnten, überwunden werden; im Parlament sei das aber noch nicht mehrheitsfähig.

Der Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Umweltmedizin Dr. Christoph Mai, (neuer Chefarzt und Ärztlicher Geschäftsführer des Fachkrankenhauses Nordfriesland gGmbH, Bredstedt) führte zur Situation des Fachkrankenhauses Nordfriesland und der MCS-Patienten aus: Die ambulanten Behandlungskosten für das in der Umweltstation angewandte Desensibilisierungsverfahren, die sog. Miller-Technik, sei zu Anfang noch von der GKV bezahlt, dann aber aus dem Leistungskatalog gestrichen worden. Die Anzahl der im Verfahren einbezogenen Stoffe habe man daraufhin erheblich reduzieren müssen, damit die Patienten die 3 Jahre dauernde Behandlung überhaupt aus eigener Tasche finanzieren können. Die Effektivität des Verfahrens sei dadurch aber erheblich beeinträchtigt worden.

Daneben hätten sich auch noch andere rechtliche Änderungen nachteilig ausgewirkt. So sei bei Patienten, die nicht aus Schleswig-Holstein stammen, die Abrechnung von rund 20 % der Behandlungsfälle mit den Kostenträgern streitig. Es komme auch vor, dass die Bezahlung verweigert wird mit dem Argument, es seien keine Psychopharmaka verabreicht worden und die Behandlung daher von vornherein "nicht aussichtsreich" gewesen. Die wirtschaftliche Situation des Krankenhauses und die Motivation der Mitarbeiter befördere all das nicht.

Er stellt die Prognose, dass es bundesweit sehr schwer fallen werde, nur das gegenwärtige umweltmedizinische Leistungsangebot aufrecht zu erhalten, wenn es nicht gelinge, die medizinische Ausbildung zu verbessern und das Interesse des Ärztenachwuchses für die Umweltmedizin zu wecken. Umweltmedizin müsse Pflichtfach an den Universitäten werden und eben auch eine wirtschaftliche Perspektive bekommen.

Dr. Hannelore Kirstein (Stade), Ärztin für Homöopathie, Neurologie und Psychiatrie, wies darauf hin, dass die Psychiatrisierung von Menschen mit toxisch bedingten Leiden dramatische Folgen haben könne, weil die Verordnung von Psychopharmaka an Betroffene mit reduzierter Entgiftungskapazität eine zusätzliche, nicht vertretbare toxische Belastungssituation schaffe.

An die Rechtsbeistände der Betroffenen appelliert sie, sich für eine gezielte Einordnung und juristische Bewertung der Vorleiden ihrer Mandanten einzusetzen, damit den Leistungsträgern die Möglichkeit genommen werde, toxisch bedingte Leiden mit Leichtigkeit auf Vorerkrankungen abzuwälzen.

Die Moderatorin Dr. Barbara von Holt, Fachärztin für psychotherapeutische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse (Hamburg), hielt fest: Umwelterkrankte würden systematisch gezwungen, in psychosomatische Kliniken zu gehen und sich nutzloser Psychotherapien auszusetzen, weil sie anders keine Kostenerstattung und kein Krankengeld von den Krankenkassen erhielten.

Frau Haack-Nebbe bezweifelte, dass mit unabhängigen Gutachterinstituten das Problem schon gelöst werden kann. Zuerst müsse anerkannt werden, dass das Krankheitsbild tatsächlich existiert. Zum zweiten müsse das Recht des Patienten, einen Gutachter zugewiesen zu bekommen, der sich mit seiner Krankheit auskennt, in der Praxis auch durchgesetzt werden, denn dieses Recht werde permanent und massenhaft verletzt.

Prof. Dr. Ionescu bestätigte, dass viele Gutachten schlicht falsch sind. Seine Klinik müsse häufig gegen solche Begutachtungen ankämpfen, um das Recht der Patienten auf klinische Behandlung durchzusetzen. Als Mitglied des Beirats für Umweltmedizin beim Bundesgesundheitsministerium erlebe er hautnah die Auseinandersetzungen um die WHO-Kriterien und die Anerkennung oder Nichtanerkennung von MCS, CFS und Fibromyalgie mit.

Wilhelm Krahn-Zembol (Rechtsanwalt aus Wendisch-Evern) erläuterte: Juristisches Hauptproblem bei der Anerkennung von Umwelterkrankungen sei, dass dann zu viele Gesetze neu geschrieben werden müssten, was den Rahmen sprengen würde. Nur aus diesem Grunde sei es so schwierig, die Anerkennung von MCS als Berufserkrankung zu erlangen und nicht, weil die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Rechtslage unzureichend wären. Es liege im wesentlichen an der Beurteilungs- und Handhabungspraxis der Leistungsträger und ihrer Gutachter und daran, dass Ärzte, die Patienten auf MCS hin behandeln, mit Rückzahlungsforderungen der Kassenärztlichen Vereinigungen rechnen müssten und deshalb das Behandlungsrisiko scheuten. In dieser Hinsicht säßen Patienten und praktizierende Ärzte in einem Boot.

Ludger Buitmann, Referatsleiter Stationäre Versorgung Schleswig-Holstein des Verbandes der Ersatzkassen e.V. (VdEK) aus Kiel, erklärte, dass in den beiden Bundesländern, in denen es eine Umweltklinik gibt, die Versorgung der Erkrankten und der Kenntnisstand der Mediziner im großen und ganzen besser ist als in den übrigen Bundesländern. Er räumt ein, dass bisher viel zu sehr sektoral und nicht fachübergreifend therapiert wird.


Fazit des Fachgesprächs: Umweltkranke - ausgeliefert und abgeschrieben!

Weil die Politik sich lediglich für die Kostenseite des Gesundheitssystems interessiert, die Ausgestaltung des Leistungsangebots aber den Versicherungsträgern und Leistungsanbietern überlässt und sich raus hält aus den Verteilungskämpfen zwischen ihnen, wird sich an den Missständen nichts ändern und Umweltkranke werden trotz besseren Wissens weiter Menschen unwürdig behandelt.

Im Grunde eine Bankrotterklärung der Politik: Die Lobby bestimmt, wo es lang geht; der Abgeordnete hat geringe Chancen, sich durchzusetzen, weil in seiner Fraktion, in den Ausschüssen, Ministerien, Behörden und wissenschaftlichen Institutionen die gegnerische Lobby stets gut organisiert ist.

Solange es in Deutschland keine Anerkennung von Multi-Systemerkrankungen wie z.B. MCS, CFS und Fibromyalgie gemäß den Richtlinien der WHO gibt, werden die Betroffenen von den Gutachtern auf die Psycho-Schiene geschoben. Die unterbesetzte Justiz interessiert sich für deren wirtschaftliche Interessenverflechtungen nicht, sondern nur dafür, anhängige Verfahren möglichst komplikationslos vom Tisch zu bekommen. "Falschgutachten" müssen viel mehr publik gemacht werden.


Kontakt:
Ruth Schwark-Sobolewski
Verein für Umwelterkrankte e.V.
Husumer Straße 43
25821 Bredstedt


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Quelle:
umwelt · medizin · gesellschaft Nr. 4/2009, (Dezember 2009)
22. Jahrgang, S. 350 - 351
Verlag: UMG Verlagsgesellschaft mbH
Frielinger Str. 31, 28215 Bremen
Chefredaktion (V.i.S.d.P.): Erik Petersen
Tel.: 0421/498 42 51; Fax: 0421/498 42 52
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Internet: www.umwelt-medizin-gesellschaft.de

Erscheinungsweise: vierteljährig
Bezugspreis: Für Mitglieder der Umweltmedizinischen Verbände dbu, DGUHT, DGUZ, IGUMED
und Ökologischer Ärztebund sowie der weiteren beteiligten Verbände
DGMCS und VHUE ist der Bezug der Zeitschrift im Jahresbeitrag enthalten.
Das Abonnement kostet ansonsten jährlich 38,- Euro frei Haus, Ausland 45,- Euro.
Einzelheft: 10,- Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. April 2010