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ONKOLOGIE/1057: Mit oder ohne Chemotherapie? (DFG)


forschung 4/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Mit oder ohne Chemotherapie?

Brustkrebs: Über zwei Jahrzehnte untersuchten klinische Forscher bei erkrankten Frauen die beiden Invasionsmarker uPA und PAI-I. Die Langzeitstudien erlauben eine bessere Risikoabschätzung und individuellere Behandlungen der Patientinnen

Von M. Vetter, C. Thomssen, N. Harbeck und F. Jänicke


Jährlich wird bei etwa 58 000 Frauen in der Bundesrepublik Brustkrebs diagnostiziert. Die Diagnose "Mammakarzinom" bedeutet für viele Patientinnen einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben. Die Hoffnung vermittelnde Nachricht für Betroffene und ihre Angehörigen: In den meisten Fällen kann heute das Mammakarzinom geheilt werden. Voraussetzung ist allerdings, dass die Tumore frühzeitig erkannt und konsequent durch unterstützende (adjuvante) medikamentöse Therapien wie Chemotherapie, antihormonelle und Antikörpertherapie verhindert wird, dass Metastasen entstehen und im Körper gestreut werden.

Vor diesem Hintergrund besteht für viele Patientinnen die Gefahr einer Übertherapie. Ein wichtiges Ziel der modernen Brustkrebsbehandlung ist deshalb, Art und Ausmaß der Therapien auf die einzelne Patientin individuell anzupassen. Der Weg zur individualisierten Krebstherapie erfordert, den voraussichtlichen Krankheitsverlauf für eine Patientin besser abschätzen zu können. Deshalb versucht die klinische Forschung bereits seit Jahren, neue und zusätzliche Biomarker zu entwickeln, die den Klinikern und Patientinnen weitere Informationen über die Biologie und Aggressivität des jeweiligen Tumors geben.

Der Krankheitsverlauf wird durch die Fähigkeit zur frühen Tumorzellausbreitung und der daraus folgenden Metastasierung bestimmt. Die sogenannte "adjuvante" Chemotherapie im Anschluss an die Operation soll frühzeitig im Körper der Patientin verstreute Tumorzellen zerstören und damit ein Wiederauftreten der Erkrankung in der Brust oder an anderen Organen verhindern.

Für Brustkrebspatientinnen, bei denen die Lymphknoten in der Achselhöhle schon von Krebszellen befallen sind, ist die Gefahr der Streuung der Krebszellen im ganzen Körper groß, diese Patientinnen erhalten in Foto: Universitätsklinik Halle a. d. Saale / Gandyra Biowissenschaften der Regel eine adjuvante Therapie. Heute ist man der Ansicht, dass auch Patientinnen, deren Lymphknoten in den Achselhöhlen frei von Krebszellen sind, von einer adjuvanten Therapie profitieren würden. Wegen fehlender Faktoren, die das Rückfallrisiko exakt voraussagen, werden allerdings bis zu 80 Prozent der Frauen übertherapiert. Die Therapieentscheidung für die jeweilige Patientin ist damit sehr unbefriedigend, und zusätzliche Informationen über die Aggressivität des jeweiligen Tumors sind notwendig. Das Ziel liegt auf der Hand, nämlich Patientinnen mit einem hohen und solche mit einem niedrigen Rückfallrisiko erkennen zu können. Das Ziel dieser Unterscheidung: Die Hochrisiko-Patientinnen würden von einer Chemotherapie profitieren, den Niedrigrisiko-Patientinnen könnte eine Chemotherapie erspart werden.

Schon Anfang der 1990er-Jahre deutete die Datenlage aus verschiedenen Forschungslaboren und Kliniken darauf hin, dass die Proteine mit dem Kürzel uPA und PAI-1 Hinweise auf den Grad der Aggressivität eines Brustkrebses geben. Die Protease uPA und deren Inhibitor PAI-1 (Plasminogen-Aktivator-Inhibitor Typ 1) sind an einer Reihe von biologischen Prozessen beteiligt, darunter zelluläre Invasivität, Zellmigration und Gefäßbildung im Tumor. Bei der Invasion der Krebszellen in den Körper lösen sich Einzelzellen aus dem Zellverband des Tumors, vermehren sich und wandern in das umliegende Gewebe inklusive Gefäßsysteme ein. Das erklärt die erhöhte Proteinkonzentrationen von uPA und /oder PAI-1 im Tumorgewebe.

Basierend auf den uPA/PAI-1-Werten der Tumoren von Brustkrebspatientinnen führte Professor Fritz Jänicke in den Jahren 1987 bis 1991 an der Frauenklinik der Technischen Universität München eine erste klinische Studie durch. Erhöhte Werte der Invasionsmarker uPA und/ oder PAI-1 korrelierten mit einem ungünstigen Krankheitsverlauf. Mehr als die Hälfte der Patientinnen ohne Lymphknotenbefall hatten niedrige uPA- und PAI-1-Konzentrationen im Tumor und zeigten auch ohne medikamentöse Therapie einen sehr günstigen Krankheitsverlauf. Ähnliche Ergebnisse wurden auch bei anderen Tumoren festgestellt.


Ausgehend von diesen Ergebnissen wurde im Rahmen der DFG-geförderten klinischen Forschergruppe "Gewebeassoziierte Proteasen und deren Rezeptoren sowie Inhibitoren bei malignen Tumoren und Gestationserkrankungen" die Studie "Chemo-N0" initiert. Das vorrangige Ziel dieser an verschiedenen Zentren durchgeführten klinischen Studie: die in der Pilotstudie gefundene prognostische Aussagekraft und Zuverlässigkeit von uPA/PAI-1 im Feldversuch zu bestätigen und zugleich zu ermitteln, ob eine Chemotherapie bei Patientinnen mit hohem Rückfallrisiko die Prognose verbessern kann.

Von 1993 bis 1998 wurden 647 Mammakarzinom-Patientinnen in elf Zentren in Deutschland und einem Zentrum in Ljubljana, Slowenien, rekrutiert. Von diesen hatten 283 Patientinnen einen Tumor mit uPAund PAI-1-Werten unterhalb des Schwellenwertes und bekamen keine Chemotherapie. Bei Patientinnen ohne Lymphknotenbefall war es damals noch Standard, keine adjuvante Therapie zu empfehlen, obwohl ein breiter Einsatz verschiedener Therapieformen bereits diskutiert wurde. 364 von 647 Patientinnen hatten Tumoren mit uPA- und/oder PAI-1-Werten oberhalb des Schwellenwertes. Diese Frauen, für die aufgrund der uPA- und/oder PAI-1-Werte ein erhöhtes Rückfallrisiko vermutet wurde, erhielten in Rahmen der Untersuchung zufallsverteilt ("randomisiert") entweder eine Chemotherapie oder keine weitere Behandlung. Die Teilnahme an dieser Studie war selbstverständlich freiwillig.


Auf dem diesjährigen Krebskongress der American Society of Clinical Oncology (ASCO), in Orlando, Florida, referierte Professor Nadia Harbeck von der Universität Köln stellvertretend für die Chemo-N0-Studiengruppe und präsentierte die erhobenen Daten zum Krankheitsverlauf der Patientinnen nach inzwischen zehnjähriger Nachbeobachtungszeit. Auch nach dieser Zeitspanne bestätigte sich, dass die Patientinnen mit uPAund PAI-1-Werten unterhalb des Schwellenwertes ein vergleichsweise sehr niedriges Rezidivrisiko (Rückfallrisiko) von unter zehn Prozent in zehn Jahren hatten. Die Patientinnen mit Werten oberhalb des Schwellenwertes hingegen hatten ein hohes Rezidivrisiko. Darüber hinaus zeigten die Studiendaten, dass das Rückfallrisiko bei den Risikopatientinnen halbiert wird, wenn die Frauen eine Chemotherapie erhalten hatten.

Schon die Auswertung der Chemo-N0-Studie drei und fünf Jahren nach deren Abschluss hatte darauf hingewiesen, dass eine zuverlässige Risikoabschätzung anhand von uPA- und PAI-1-Werten möglich ist. Um die Stärke dieser Prognosefaktoren zeigen zu können, wurde Ende 2002 die zweite große klinische NNBC-3-Europe-Studie (Node-Negative Breast Cancer) in Deutschland und Frankreich ins Leben gerufen. In diese wurden 4150 Patientinnen an verschiedenen klinischen Standorten einbezogen. Die erfreuliche Nachricht: Schon jetzt kann gesagt werden, dass durch die Risikoabschätzung mithilfe der uPA/PAI-1-Bestimmung etwa 40 Prozent der Patientinnen eine Chemotherapie erspart werden konnte.

Um die klinische Relevanz und Güte von Prognosemarkern bewerten zu können, werden hohe Anforderungen gestellt. Nachdem die Chemo-N0-Studie als prospektive klinische Studie bereits nach fünf Jahren die prognostische Bedeutung zeigte, bestätigte 2002 die Auswertung einer Metaanalyse verschiedener retrospektiver Studien mit insgesamt über 8 000 Patientinnen eindrucksvoll die prognostische Aussagekraft der Invasionsmarker uPA und PAI-1.

Daraufhin haben verschiedene Gremien auf nationaler und internationaler Ebene seit 2002 diese Forschungsergebnisse in ihre Empfehlungen für die Therapie des Mammakarzinoms (bei Patientinnen ohne Lymphknotenbefall) für die klinische Routine aufgenommen. Auch die Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie, Kommission Mamma, bewertet seit 2002 auf der Grundlage des maßstabsetzenden Oxford-Klassifizierungssystems für klinische Zielkriterien die Aussagekraft der Prognosemarker uPA/PAI-1 auf höchster Stufe.

Seit 2008 sind die Prognosemarker darüber hinaus in den interdisziplinären Leitlinien der Deutschen Krebsgesellschaft verankert (www.ago-online.de, www. krebsgesellschaft.de). Bereits 2005 war die Aufnahme in die europäischen und 2007 in die internationalen Empfehlungen (jco.ascopubs.org/cgi/content/full/25/33/5287) eingegangen, was ihre Bedeutung auch im transnationalen Raum unterstreicht.


Heute können die Invasionsmarker uPA und PAI-I in Deutschland in 14 Laboren bestimmt werden. Für die Analyse wird repräsentatives Tumorgewebe (100 bis 300 Milligramm Frischgewebe) aus dem Operationspräparat oder Frischgewebe aus drei Stanzbiopsien aus dem Primärtumor der Brust entnommen, schockgefroren und an das jeweilige Labor auf Trockeneis weitergeleitet. Das Gewebe wird im gefrorenen Zustand zerkleinert, die uPA- und PAI-1-Proteine in Lösung gebracht und die Konzentrationen von uPA und PAI-1 mit dem immunologischen Nachweisverfahren, dem ELISA-Test, bestimmt. Etwa eine Woche nach der Operation erhalten die Kliniker die Befunde, die dann mit Gynäkologen, Radiologen und Pathologen besprochen werden.

Da für die Bestimmung eine frische Gewebeprobe aus dem Tumor benötigt wird, sollte der Gynäkologe vor der Operation mit den Kollegen und der Patientin absprechen, ob der uPA/PAI-1-Test für sie in Frage kommt. Das Testergebnis hat vor allem Einfluss auf die Therapienentscheidung bei Patientinnen mit einem mittleren Rezidivrisiko bei sogenannten G-2-Tumoren. Liegt bei diesen das Testergebnis unterhalb des Schwellenwertes, kann auf eine Chemotherapie verzichtet werden. Und umgekehrt: Erfahren die Patientinnen durch einen hohen uPA- und/oder PAI-1-Wert, dass eine Chemotherapie wichtiger Bestandteil der Therapie ist, können sie zumindest mit den unangenehmen Nebenwirkungen (wie Übelkeit, Haarausfall) besser umgehen.


Dr. Martina Vetter und Prof. Dr. Christoph Thomssen sind an der Universitätsklinik und Poliklinik für Gynäkologie in Halle/Saale, Prof. Dr. Nadia Harbeck an der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Universität Köln und Prof. Dr. Fritz Jänicke an der Klinik und Poliklinik für Gynäkologie am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf tätig.

Adresse:
Prof. Dr. med. Christoph Thomssen
Universitätsklinik und Poliklinik für Gynäkologie
Universitätsklinikum der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ernst-Grube-Str. 40, 06120 Halle/Saale

Die DFG hat die klinische Studie "Chemo-N0" von 1993 bis 1998 im Kontext der Klinischen Forschergruppe GR280/4 "Gewebeassoziierte Proteasen und deren Rezeptoren sowie Inhibitoren bei malignen Tumoren und Gestationserkrankungen" gefördert. Zehn Jahre nach Abschluss der Studie haben die Forscher ihre umfassenden Nachbeobachtungsdaten ausgewertet und präsentiert.

www.jco.asco
www.jco.org (als Homepage vom ASCO)


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Quelle:
forschung 4/2009 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 20-23
mit freundlicher Genehmigung der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2010