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DERMATOLOGIE/571: Wundverschluß - Mit Skalpell und Klebstoff (Bayer research)


research - Das Bayer-Forschungsmagazin, Ausgabe 20 - November 2008

Mit Skalpell und Klebstoff

Polyurethane helfen, Wunden effektiv zu verschließen


Nach chirurgischen Eingriffen oder bei Platz- und Schnittwunden greifen Ärzte meist zu Nadel und Faden. Oft müssen diese nach der Heilung wieder entfernt werden, und es bleiben Narben zurück. Handelsübliche Wundklebstoffe kommen je nach Verletzungsgrad schnell an ihre Grenzen. Jetzt arbeiten Forscher von Bayer Material-Science an einem Ausweg: Sie hoffen, mit einer neuen medizinischen Klebstofftechnologie auch bei tieferen Wunden oder Organverletzungen eine bessere Wundheilung zu erzielen.


Jedes Kind hat angeblich einen Schutzengel. Aber trotzdem enden das Toben auf Schulhöfen und Spielplätzen, Inlineskating oder ein Fahrradsturz manchmal böse: Plötzlich steht das Kind mit blutender Platzwunde vor seinen Eltern. Dann stellt sich oft die Frage: Muss das genäht werden? Der Gedanke an Nadeln und daran, dass die Fäden nach dem Verheilen auch wieder gezogen werden müssen, macht vor allem den Kleinen Angst. Um dieses Dilemma zu beseitigen, arbeiten Forscher bei Bayer MaterialScience an Alternativen für den Wundverschluss: den medizinischen Klebstoffen. Denn Hautverletzungen oder Operationswunden zu kleben statt zu nähen hat viele Vorteile: So bleiben dem Patienten nicht nur die spitzen Nadeln von Lokalanästhesie und Naht erspart, die Verwendung eines Klebstoffs macht zudem das Fädenziehen überflüssig. Der dünne Film löst sich nach und nach von selbst ab. Die entstehenden Narben sind später kaum sichtbar. Ein weiterer Vorteil: Der Wundverschluss ist im trockenen Zustand undurchlässig für Keime. Bakterielle Infektionen kommen dadurch seltener vor. Alles in allem, wenn auch ein kleiner, so doch ein Beitrag, der die Kosten im Gesundheitswesen verringern könnte.

"Gängige Klebstoffe erfüllen die medizinischen Anforderungen bisher nur zum Teil", sagt Dr. Thomas Muehlberger, Privatdozent und Leiter der Abteilung für Plastische Chirurgie an der DRK-Klinik Berlin-Westend: "Die derzeit verwendeten Cyanacrylate sind zwar sehr stabil, eignen sich aber nur für oberflächliche Verletzungen. Für tiefere Wunden oder gar Organe sind solche Klebstoffe nicht zugelassen." Mit einem innovativen Polyurethan-Klebstoff von Bayer Material-Science könnte den Chirurgen in wenigen Jahren eine bessere Alternative zur Verfügung stehen. Denn dem Projektteam von Dr. Heike Heckroth ist es gelungen, ein Klebstoffsystem zu entwickeln, das sich durch hervorragende Handhabbarkeit und Klebeeigenschaften sowie eine sehr gute Hautverträglichkeit auszeichnet.

Heckroth arbeitet zusammen mit dem Chemotechniker Gerd Vermehren im Bereich Medical Coatings, Adhesives & Specialties von Bayer MaterialScience an neuen Klebstoffen. Diese sollen die Wundränder während der Heilung zuverlässig und schnell zusammenhalten und zudem elastisch sein, damit die verletzten Stellen nicht wieder aufplatzen. Keine leichte Aufgabe, denn: "Haut und andere organische Gewebe enthalten neben Proteinen sowohl Wasser als auch Fett. Diese miteinander zu verkleben, ist extrem schwierig", erklärt Heckroth.

Die Chemikerin begann ihre Arbeit zunächst mit einem Polyurethansystem, dessen Eignung für die Anwendung bei wasserbasierten Wundgelen untersucht worden ist. Das Polymer besteht aus langen Kohlenstoffketten, die ein reaktives Ende tragen. Unter Feuchtigkeitseinfluss bildet sich ein stabiles Netzwerk. Das Problem dabei: Der Vorgang läuft sehr langsam ab. Um den Prozess zu beschleunigen, suchten Heckroth und ihr Mitarbeiter nach einer zweiten Komponente. Unter vielen Kandidaten fanden sie schließlich eine Verbindung, die das Polymer schnell aushärtet und dabei einen hocheffektiven Klebstoff bildet, der sogar auf nassem Untergrund klebt. Genug Zeit also für kleine Korrekturen, aber schnell genug, damit der Chirurg zügig weiter arbeiten kann.

Doch auch das Polyurethan selbst wurde noch verbessert: Im Labor synthetisierten und testeten die Bayer-Materialexperten über 200 Varianten des Polymers. Da es für chirurgische Klebstoffe kein Standardverfahren gibt, entwickelten sie analog zur Werkstoffprüfung eine neue Methode. Dabei verkleben die Forscher jeweils zwei Streifen Muskelgewebe miteinander. Der klare, honigartig fließende Kunststoff wird dazu exakt dosiert als dünne Schicht auf das Gewebe aufgetragen. Anschließend werden die ein Zentimeter breiten und dicken Streifen überlappend geklebt.


Nach fünf Minuten Wunden fest verschlossen

Gerade einmal fünf Minuten benötigt der Wundkleber, um die beiden Stücke fest miteinander zu verbinden. Nach dieser Aushärtezeit wird das System in eine Zugprüfmaschine eingespannt. Die Forscher messen die Kraft, die benötigt wird, um das Gewebe oder die Klebenaht zu zerreißen. Zunächst dehnt sich das Gewebe, ohne dass etwas passiert. Doch dann reißt das Material - aber ein gutes Stück oberhalb der eigentlichen Klebestelle. Der Polyurethan-Klebstoff hält also besser als die Gewebefasern selbst. Zugleich bleibt er dabei flexibel und dehnbar.

Untersuchungen zur Toxizität des neuen Gewebeklebstoffs stimmen ebenfalls positiv: "Das Material ist sehr gut bioverträglich und zeigt in bisherigen Tests keinerlei mutagene oder reizende Wirkung", sagt Heckroth. "Und die Wundheilung wird ebenfalls nicht beeinträchtigt." Das bestätigen auch die Versuche von Muehlberger: In seinen Zellkulturen zeigte sich, dass die wichtigsten Zellen, die an der Wundheilung beteiligt sind - Keratinozyten, Fibroblasten und Melanozyten - den Klebstoff nicht meiden, sondern sogar daran entlang wachsen. "Selbst im Körper sollte eine Heilung nicht beeinträchtigt werden. Schließlich genügt eine sehr dünne Schicht, um die Gewebe zusammenzuhalten", so der Chirurg. Erste in-vivo-Versuche - also am lebenden Organismus - untermauern dieses Ergebnis.

Momentan bereiten Heckroth und ihre Kollegen weitere Versuche mit dem Medizinklebstoff vor. Dabei wollen sie ihre Polyurethan-Mischung sowohl zum Verschließen von äußeren Wunden als auch bei inneren Organen nach einer Operation testen. Danach folgen klinische Tests. Besteht der Kunststoff alle Versuchsreihen, müssen Ärzte in ein paar Jahren seltener zu Nadel und Faden greifen und hinterlassen auch weniger sichtbare Spuren auf der Haut. Dann wird der Klebstoff in kleinen Spritzen in Arztpraxen und Kliniken bereitliegen und nicht nur den kleineren Patienten eine klare Antwort auf ihre bange Frage geben: kleben statt nähen.


www.cochrane.org
Unter dem Stichwort "Gewebekleber" findet man die Zusammenfassung einer Studie zum Thema.


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Quelle:
research - Das Bayer-Forschungsmagazin, Ausgabe 20, November 2008, S. 78-79
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2009