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ONKOLOGIE/2082: Onkologische Versorgung in Zeiten von Corona (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2020

ONKOLOGIE
Onkologische Versorgung in Zeiten von Corona

von Uwe Groenewold


Krebs wurde zunehmend zu einer beherrschbaren chronischen Erkrankung. Mit Ausbruch der Pandemie haben sich die Bedingungen für die Versorgung jedoch stark verändert.


Die COVID-19-Pandemie bleibt auch für Patienten, die bereits unter einer chronischen oder akut lebensbedrohlichen Erkrankung leiden, nicht folgenlos. So ist etwa die Zahl der Menschen, die mit Verdacht auf Herzinfarkt oder Schlaganfall in den Notaufnahmen der Krankenhäuser vorstellig werden, in den vergangenen Wochen deutlich rückläufig, weil die Menschen aus Angst vor einer Infektion selbst mit starken Beschwerden keinen Notarzt rufen. Auch die komplexe Diabetesversorgung ist aufgrund der erhöhten Infektionsgefahr aktuell nur schwer optimal zu realisieren.

Im Fokus steht ebenfalls die Versorgung von Krebspatienten, müssen diese doch gegebenenfalls einen schweren Krankheitsverlauf bei einer Infektion mit dem Virus SARS-CoV-2 befürchten. "Besonders gefährdet sind Patienten mit einem geschwächten Immunsystem durch Leukämien, mit Lymphomen bei aktiver Erkrankung, einer niedrigen Zahl weißer Blutkörperchen, niedrigen Immunglobulinwerten und langandauernder Unterdrückung des Immunsystems", teilte die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) mit. Als Hochrisikopatienten müssten diese ganz besonders vor einer Infektion geschützt werden; Händedesinfektion, Sicherheitsabstand und Begrenzung der sozialen Kontakte seien maßgeblich zur Infektionsvorbeugung. "Patienten, die aktuell eine immunsuppressive Therapie erhalten beziehungsweise aktuell unter einer unkontrollierten Krebserkrankung leiden, empfehlen wir besondere Vorsicht."

Aufgrund der Infektionsgefahr durch das Coronavirus wurde das Mammografie-Screening bundesweit ausgesetzt. Frauen, bei denen ein auffälliger Befund festgestellt wurde, bekommen weiter eine schnelle Abklärungsdiagnostik, teilten Gemeinsamer Bundesausschuss und Bundesgesundheitsministerium mit. Trotz Infektionsgefahr weiterlaufen sollte auch die Strahlentherapie, wie die Deutsche Gesellschaft für Radioonkologie (DEGRO) erklärte. Lediglich in einigen Fällen könne überlegt werden, ob durch Änderung der Fraktionierung oder Verkürzung der Therapie die Zahl der Sitzungen reduziert werden kann, heißt es von der DEGRO.

In der Klinik sei der unmittelbare Umgang mit den onkologischen Patienten gleich geblieben, sagt Prof. Frank Gieseler, Klinik für Hämatologie und Onkologie am UKSH-Campus Lübeck; aufgrund der Infektionsgefahr der immungeschwächten Patienten in der Tumortherapie werde seit jeher mit Handschuhen und Mund-Nasen-Schutz gearbeitet. Gravierend verändert habe sich dagegen das ambulante Geschehen. "Unsere Ambulanz ist weitestgehend geschlossen, die Betreuung der Patienten, bei denen es möglich ist, erfolgt per Telefon." Das sei nicht immer ganz einfach, gehöre das Arzt-Patienten-Gespräch doch zur Therapie. "Viele Patienten sind durch ihre Erkrankung und durch die aktuelle Situation psychisch stark belastet. Hier wäre der direkte Arztkontakt sicher hilfreich und es tut uns leid, dass wir hierauf verzichten müssen."

"Viele Patienten sind durch ihre Erkrankung und durch die aktuelle Situation psychisch stark belastet"
Prof. Frank Gieseler

Die Isolation zu Hause führe oftmals zu irrationalen Situationen. "Die Angst vor dem Virus ist bei manchen Patienten größer als die Gefahr, durch eine ausbleibende Therapie an dem Tumor zu versterben", sagt Gieseler. Er berichtet von einem 91-jährigen Patienten mit Nierenzellkarzinom, der vor zehn Jahren operiert wurde und dessen Karzinom aufgrund gut eingestellter medikamentöser Therapie nur langsam wächst. "Der Patient wollte für Nachsorge und Blutbild nicht in die Klinik kommen, eher seine Therapie aussetzen und damit ein Fortschreiten der Krebserkrankung in Kauf nehmen." Ein ähnliches Verhalten habe er bei zahlreichen, vor allem älteren onkologischen Patienten erfahren. Erst im persönlichen Gespräch konnten sie von der Notwendigkeit anstehender Untersuchungen und Behandlungen überzeugt werden.

Ein Verschieben von Nachsorgeterminen um wenige Tage oder Wochen sei bei gut eingestellten Patienten in aller Regel nur wenig problematisch, so Gieseler. Notwendige Untersuchungen oder Behandlungen sollten dagegen unbedingt termingerecht durchgeführt werden. Die Sterblichkeit eines unter Behandlung stehenden Krebspatienten an einer COVID-19-Erkrankung liegt laut Gieseler sicher deutlich höher als bei anderen Patienten (geschätzt bei 20 Prozent). "Wird jedoch die notwendige onkologische Behandlung für einen längeren Zeitraum unterbrochen, stirbt der Patient in jedem Fall." Er selbst hadere ebenfalls mit der durch das Coronavirus heraufbeschworenen Situation: "Da haben wir es endlich geschafft, Krebs in vielen Fällen zu einer beherrschbaren, chronischen Erkrankung werden zu lassen - und jetzt das!"

Gieselers Botschaft an alle Krebspatienten: "Sprechen Sie mit Ihrem Arzt! Lassen Sie Termine nicht einfach ausfallen, rufen Sie an, wenn Sie Fragen haben und in Sorge sind." Melden können sich Betroffene auch bei der Schleswig-Holsteinischen Krebsgesellschaft (SHKG, www.krebsgesellschaft-sh.de), so Gieseler. Diese habe ihren Telefondienst ausgeweitet und stehe mit Rat und Tat zur Verfügung. "Die Patienten haben großen Informationsbedarf", sagt Gieseler, der auch Vorsitzender der SHKG ist. Das Facebook-Profil der Fachgesellschaft werde zehnmal häufiger als vor Ausbruch der Pandemie aufgerufen, auch die Klickzahlen der Website seien sprunghaft gestiegen.

Trotz angespannter Situation keine wesentlichen Einschränkungen - das ist auch das Fazit der Kieler Krebsärzte. "Die Versorgung onkologischer Patienten wird auf hohem Niveau aufrechterhalten, alle notwendigen Untersuchungen und Therapien werden zeitnah durchgeführt", bilanziert Prof. Claudia Baldus, Klinik für Innere Medizin II (Hämatologie und Onkologie) am UKSH-Campus Kiel. Im ambulanten und stationären Bereich gelten die seit Ausbruch der Pandemie üblichen Vorsichtsmaßnahmen: Entzerrung des Patientenaufkommens, telefonische Rückfrage vor Sprechstunde oder stationärer Aufnahme, Besuchsverbot, Begleitperson nur in Ausnahmen. Somit können bis auf wenige Ausnahmen Behandlungen wie vorgesehen durchgeführt werden. "Therapien, die für eine gewisse Zeit aufgeschoben werden können, werden verschoben, um die Patienten nicht durch zusätzliche Krankenhausbesuche und durch eine Schwächung des Immunsystems als Folge einer Chemo- oder Immuntherapie zu gefährden", erläutert Prof. Anne Letsch, Oberärztin der Hämatologie und Onkologie. Dies betreffe aber nur einen Bruchteil der onkologischen Patienten. Beeinträchtigungen in der Versorgung sehe man eher außerhalb der Klinik, so Letsch: "Was wir in den vergangenen Wochen festgestellt haben: Die Anschlussversorgung ist erschwert, es gibt aktuell keine Reha-Maßnahmen mehr, die Heim- und Kurzzeitpflege ist deutlich eingeschränkt und auch die hausärztliche Versorgung in der Fläche ist zum Teil schwierig."

Das sieht auch Gieseler so: "Die Patientenströme zu lenken, ist auch eine immense Herausforderung für niedergelassene Ärzte. Allein die empfohlenen Abstandsregeln von zwei Metern einzuhalten - ein solches Raumangebot, um weiterhin eine große Zahl an Patienten zu versorgen, können Praxisärzte kaum vorhalten." Eine weitere logistische Herausforderung ist nach Gieselers Angaben die Planung von Arbeitszeiten der Mitarbeiter, die schulpflichtige Kinder haben und deshalb nur eingeschränkt vor Ort arbeiten können. "Das merken wir auch in der Klinik sehr stark. Viele Eltern teilen sich die Kinderbetreuung, die Kollegen tauschen dann regelmäßig Dienste untereinander." Das funktioniere zum Glück reibungslos, die Krise schweiße zusammen, so Gieseler: "Die Stimmung im Team ist gut, vielleicht sogar besser als vor Corona."

Deutsche Krebshilfe, Deutsche Krebsgesellschaft und Deutsches Krebsforschungszentrum haben gemeinsam eine Task Force eingerichtet, um Veränderungen der Versorgungssituation zu erfassen. Sie bauen eine Art Frühwarnsystem auf, um möglichst aktuell ein Signal über Einschnitte in der onkologischen Versorgung an Entscheidungsträger geben zu können. Weitere Infos:
www.dkfz.de

Die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie hat Empfehlungen für die Versorgung von Patienten mit Blut- und Krebserkrankungen im Zusammenhang mit Corona-Infektionen veröffentlicht, die permanent aktualisiert werden. Die Liste umfasst rund 50 verschiedene Krankheitsbilder und ist unter
www.onkopedia.com einsehbar.

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Info

Aufgrund der Infektionsgefahr durch das Corona-Virus wurde das Mammographie-Screening bundesweit zwischenzeitlich ausgesetzt. Frauen, bei denen ein auffälliger Befund festgestellt wurde, bekommen weiter eine schnelle Abklärungsdiagnostik, teilten Gemeinsamer Bundesausschuss und Bundesgesundheitsministerium mit.
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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Prof. Anne Letsch ist Oberärztin der Hämatologie und Onkologie am UKSH in Kiel. Sie berichtet, dass akut nicht zwingend notwendige Therapien verschoben wurden, um die Patienten nicht durch zusätzliche Krankenhausbesuche und durch eine Schwächung des Immunsystems als Folge einer Chemo- oder Immuntherapie zu gefährden. Dies betreffe aber nur einen Bruchteil der onkologischen Patienten. Beeinträchtigungen in der Versorgung beobachtet sie eher außerhalb der Klinik: "Was wir in den vergangenen Wochen festgestellt haben: Die Anschlussversorgung ist erschwert, es gibt aktuell keine Reha-Maßnahmen mehr, die Heim- und Kurzzeitpflege ist deutlich eingeschränkt und auch die hausärztliche Versorgung in der Fläche ist zum Teil schwierig."


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2020 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2020/202005/h20054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
73. Jahrgang, Nr. 5, Mai 2020, Seite 14 - 15
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-272, -273, -274,
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.de
www.aeksh.de
www.arztfindex.de
www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Mai 2020

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