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NEUROLOGIE/1026: Personalisierte Therapie bei neurodegenerativen Erkrankungen (idw)


Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. - 25.09.2019

Personalisierte Therapie bei neurodegenerativen Erkrankungen


Neurodegenerative Erkrankungen sind chronisch-fortschreitende, neurologische Erkrankungen, dazu gehören z.B. die Huntington-, die Parkinson- und die Alzheimer-Erkrankung und die spinale Muskelatrophie. Es kommt zu zunehmender Fehlfunktion bis hin zum Absterben (Degeneration) von Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark mit Störungen der Bewegungskoordination und/oder mentaler Funktionen. Die Erforschung der komplexen Entstehungsmechanismen hat in den letzten Jahren zu genetischen Therapiemöglichkeiten geführt, die nicht mehr an den Symptomen, sondern an den ursächlichen molekularen Abläufen ansetzen - was bei Experten sogar Hoffnung auf künftige Heilungschancen aufkommen lässt.

Die Mehrzahl der neurodegenerativen Erkrankungen betrifft das Erwachsenenalter - in einer immer älter werdenden Gesellschaft eine zunehmende Herausforderung. Schwere Formen der Erkrankungen können auch bereits im Kindesalter auftreten, wobei dann die normale Entwicklung ausbleibt oder Entwicklungsschritte und Erlerntes wieder verloren geht. Nicht selten versterben die betroffenen Kinder innerhalb weniger Jahre.

Neurodegenerative Erkrankungen sind bislang nicht heilbar - während sie jedoch früher "nur" klinisch diagnostizierbar waren und teilweise symptomatisch behandelt wurden, so entwickeln sich nun Therapien, die zielgerichtet in die zugrundeliegenden Ursachen und Krankheitsmechanismen eingreifen. "Mit den Fortschritten der Molekulargenetik und dem Nachweis von Genmutationen als Krankheitsursache in vielen Fällen gelang zunächst nur eine präzisere Diagnostik, inzwischen aber ist ein detailliertes Verständnis gewachsen, welches gerade bei erblichen neurologischen Erkrankungen eine therapeutische Korrektur der individuellen genetischen Defekte bzw. eine Kompensation deren Folgen in greifbare Nähe rückt", erklärt Professor Dr. Thomas Gasser, Zentrum für Neurologie, Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt neurodegenerative Erkrankungen, Kongresspräsident des DGN-Kongresses 2019 in Stuttgart.

Eine Gemeinsamkeit erblicher bzw. durch eine Genmutation bedingter Erkrankungen ist, dass Fehler (Mutationen) im genetischen Bauplan (DNA) jeder Körperzelle, zur Bildung fehlerhafter Eiweißbausteine (Proteine) führt. Defekte Proteine führen dann zu gestörten Funktionen und den Krankheitssymptomen. Zu den bereits angewandten genetischen Therapieprinzipien gehören beispielsweise sogenannte Antisense Oligonukleotide (ASO). ASOs sind kleine künstliche DNA-Bausteine, die in den Gehirnzellen die Ablesung der mutierten Genabschnitte stören und so die Bildung des defekten Proteins verhindern. "Die Wirksamkeit bei einigen bisher unheilbaren Erkrankungen ist teilweise überwältigend", so Prof. Gasser. Da ASOs nicht vom Blut in das Gehirn übertreten, werden sie direkt in das Hirnwasser (Liquor) injiziert (intrathekale Gabe).

Ein erster therapeutischer Durchbruch mit diesem Therapieprinzip gelang bei der spinalen Muskelatrophie (SMA). Bei der SMA sind die motorische Nerven erkrankt, es kommt zur Muskelschwäche bzw. Muskelschwund mit verschieden schwere Verlaufsformen (Typ I bis IV). Die SMA Typ I beginnt oft bereits im Mutterleib mit reduzierten Bewegungen der Feten; die Neugeborenen haben eine schlaffe Muskulatur und können teilweise nicht einmal ihren Kopf anheben. Schwerbetroffene Babys sterben in den ersten zwei Jahren, oft schon nach wenigen Monaten, durch ein Versagen der Atemmuskulatur. Bei der SMA Typ I ist inzwischen eine Behandlung mit Antisense-Oligonukleotiden (mit dem Medikament Nusinersen) möglich. Dieses Jahr zeigte nun eine Phase-1b/2a-Studie, dass auch ältere Kinder (2-15 Jahre) mit etwas langsamer verlaufenden Formen der SMA (Typ II oder III) von einer Behandlung profitieren [1]. 28 Kinder wurden über 253 Tage mit steigenden Dosierungen behandelt (3 bis 12 mg); die Erweiterung der Studie erstreckte sich über 715 Tage (mit 12 mg). Im Ergebnis hatten sich alle Werte der motorischen Tests, also die Muskelfunktionen, deutlich verbessert. Es gab keine Therapieabbrüche wegen Nebenwirkungen.

Auch für die, in bis zu 95% der Patienten vererbten Huntington-Erkrankung (auch Chorea Huntington) wird eine ASO-Therapie entwickelt. Die Erkrankung beginnt meistens im mittleren Erwachsenenalter und führt innerhalb von 15 Jahren nach der klinischen Diagnosestellung zum Tod. Die Patienten leiden an progredienten Bewegungsstörungen, Veränderungen des Verhaltens und kognitiven Defiziten. Mutationen im Huntingtin (Htt)-Gen führen zur Bildung des fehlerhaften Huntingtin (Htt)-Proteins, welches sich zusammenballt und in den Gehirnzellen als kleine Eiweiß-Körnchen (Aggregationen) ablagert (sogenannte Einschlusskörper). Die Bedeutung dieser Ablagerungen und wie genau die Nervenzellen dadurch geschädigt werden, ist noch nicht vollständig geklärt. In einer aktuellen doppelblind-randomisierten Phase-1-2a-Studie [2] wurden 34 Patienten mit einer spezifischen ASO-Therapie (Substanz HTTRx) behandelt (vier Dosen im Abstand von jeweils vier Wochen). Es konnte gegenüber 12 Patienten der Placebo-Kontrollgruppe gezeigt werden, dass die Menge der Htt-Proteinaggregate im Liquor unter Placebo um 10% anstieg und unter der ASO-Therapie signifikant (dosisabhängig um bis zu 42%) abnahm. Während der relativ kurzen Studiendauer konnten noch keine klinischen Effekte demonstriert werden, aber die Wirksamkeit gegen die Proteinaggregate war deutlich und die intrathekale Therapie war gut verträglich und ohne ernsthafte Nebenwirkungen.

Eine pathologische Ablagerung proteinhaltiger Einschlusskörper in den Gehirnzellen findet man auch bei Patienten mit Alzheimer- und Parkinson-Erkrankung. Bei einem Teil der Parkinsonpatienten konnten schon vor einiger Zeit Mutationen im sogenannten Glucocerebrosidase (GBA)-Gen nachgewiesen werden, und immer wieder kamen und kommen neue Mutationen hinzu. Die molekulargenetische Diagnostik hat es auch ermöglicht, verschiedene Parkinson-Syndrome voneinander zu unterscheiden. Eine GBA-Mutation erhöht stark das Erkrankungsrisiko, es scheint aber weitere Faktoren zu geben, die ursächlich zusammenkommen müssen. Ca. 10% der Parkinsonpatienten in Deutschland sind Träger einer GBA-Mutation, die zu einem rascheren und schweren Verlauf beiträgt. Eine internationale Studie, deren Ergebnisse im September auf der Tagung der "Internationalen Movement Disorders Society" in Nizza präsentiert werden sollen, untersuchte ein Medikament, welches die durch die GBA-Mutationen gestörten Stoffwechselwege beeinflusst und zum Abbau der verklumpten Proteine führen soll.

"Das Verständnis der komplexen Entstehungsmechanismen der verschiedenen Erkrankungen hat zu Therapieansätzen geführt, die nicht mehr an den Symptomen, sondern an den ursächlichen molekularen Abläufen ansetzen", fasst Prof. Gasser zusammen. "Konkret sind dies bestimmte Stellen des zellulären DNA-Ableseprozesses bzw. der Gen-Expression, also der Bildung des jeweils fehlerhaften Proteins oder die Beeinflussung der dadurch gestörten Stoffwechselprozesse."

Auch wenn nicht bei allen Patienten ursächliche Genveränderungen gefunden wurden - und obwohl auch bei identifizierten Mutationen bestimmte Zusammenhänge zwischen dem defekten Protein und der Krankheitsentstehung noch ungeklärt sind, so sind sich die Experten sicher: Hier steht die Medizin gerade erst am Anfang - die Behandlungsmöglichkeiten in Sinne personalisierter Therapien werden sich in den kommenden Jahren vervielfachen.


Literatur

[1] Darras BT, Chiriboga CA, Iannaccone ST et al. Nusinersen in later-onset spinal muscular atrophy: Long-term results from the phase 1/2 studies. Neurology 2019 May; 92 (21): e2492-e2506

[2] Tabrizi SJ, Leavitt BR, Landwehrmeyer GB et al. Targeting Huntingtin Expression in Patients with Huntington's Disease. N Engl J Med 2019 Jun; 380 (24): 2307-16


Weitere Informationen finden Sie unter
http://www.dgn.org
http://www.dgnkongress.org

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1276

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. - 25.09.2019
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2019

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