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INTERVIEW/007: Täglich Brot - Ernte- und Anbauhorizonte ...    Valentin Thurn im Gespräch (SB)


Interview mit dem Dokumentarfilmer Valentin Thurn anläßlich der Preview des Films
"10 Milliarden - Wie werden wir alle satt?" am 10. April 2015 im Hamburger ABATON


Valentin Thurn ist nicht nur Autor von Dokumentarfilmen, Radiofeatures, Zeitungsartikeln und Büchern mit einem Fokus auf sozialen und Umweltthemen, sondern auch als Referent und Lehrbeauftragter sowie engagierter Vertreter einer neuen Eß- und Verbrauchskultur aktiv. Nach langer Tätigkeit für öffentlich-rechtliche Sender gründete er 2003 die Thurnfilm als unabhängige Produktionsfirma für Dokumentarfilme und verschafft sich so die Möglichkeit, sich weitgehend autonom sowie gründlich und fundiert mit gesellschaftlichen Fragen und Problemstellungen auseinanderzusetzen. Derzeitiger Schwerpunkt: Ernährung, Landwirtschaft und Hunger. Nach seinem so aufschluß- wie erfolgreichen Film "Taste the Waste" wirft der Filmemacher nun mit "10 Milliarden - Wie werden wir alle satt?" ein Licht auf die Probleme und Widersprüche weltweiter Nahrungsmittelproduktion. Auch wenn bezüglich der tatsächlichen Konfliktlage noch sehr viel mehr zu sagen wäre, regt der Film dazu an, über den eigenen Tellerrand hinaus über Hunger und Ernährung nachzudenken, Vision inklusive.

Im Rahmen der Preview seines neuen Films, der am 16. April in die Kinos kommt, fand sich Valentin Thurn bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.


Schattenblick (SB): Seit 2011 gibt es in Berlin die jährliche "Wir haben es satt"-Demonstration für eine alternative Landwirtschaft, mit wachsendem Zuspruch. Am 17.1.2015 haben 50.000 Menschen daran teilgenommen. Kein anderes Thema bringt derzeit in Deutschland so viele Menschen auf die Straße. Wie erklären Sie sich das?


Trecker mit Transparent: 'Bleibt auf dem Lande und wehret euch täglich - Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft' - Foto: Bewegungsfotos (CC BY-NC-SA 2.0)

"Wir haben es satt Demo" am 17. Januar 2015
Foto: Bewegungsfotos (CC BY-NC-SA 2.0)

Valentin Thurn (VT): Es ist eigentlich längst noch nicht das Potential, was wir haben, wenn man sich anschaut, was die Anti-Atom-Bewegung in den 80ern auf die Straßen gebracht hat. Ich glaube, das Thema Essen hätte rein theoretisch auch diese Sprengkraft, wir haben sie nur noch nicht erreicht. Aber, ja, wenn das weiter so geht, dann wird das Thema Agrarwende nicht nur Landtagswahlen entscheiden, sondern tatsächlich richtig Druck machen. Manchmal denke ich aber auch bei dieser Wir-haben-es-satt-Demo, es ist ein bißchen schade, daß man es nicht schafft, bei der großen Masse der Landwirte zu kommunizieren, daß es sich hier nicht um Bauern-Bashing dreht. Das kommt bei vielen leider so an, aber wenn man ganz genau hinschaut, sind sehr viele der Organisatoren selber Bauern. Es wird doch gerne so dargestellt, als ob es sich hier nur um verwirrte Städter handelt. Natürlich gibt es Gruppen dabei, die vielleicht, sagen wir mal, mit sehr radikalen Tierschutzforderungen auftreten. Aber man muß eben sehen, daß das Bündnis sehr breit ist und da die Masse herkommt. Und es ist auch ein sehr ländlich geprägtes Publikum, das sich da nach Berlin aufmacht.

SB: Es hat eine Gegendemonstration gegeben unter dem Motto "Wir machen euch satt!", die für den Dialog und gegen Diffamierung plädierte, an der hunderte Bauern teilgenommen haben. Im Prinzip stimmt das ja auch, die Bauern machen uns tatsächlich satt.


Valentin Thurn - Foto: © by Schattenblick 2015

Im Gespräch
Foto: © by Schattenblick 2015

VT: Ich fand den Spruch sehr gut gewählt, aber wenn man es global betrachtet, stimmt er nicht. Es gibt nämlich tatsächlich auch eine Landwirtschaft, die Hunger macht. Die starke Weltmarktorientierung, die hier vom Bauernverband auch unter anderem propagiert wird, ist keineswegs dafür geeignet, für Ernährungssicherheit anderenorts zu sorgen. Sie machen uns hier satt, aber wenn wir uns mit Fleisch oder Milchpulver auf den Weltmarkt begeben - den Chinesen tut's vielleicht nicht weh, aber in anderen Ländern, in Afrika zum Beispiel sorgen wir dafür, daß dortige Produzenten durch unsere subventionierten Agrarprodukte platt gemacht werden. Es macht keinen Sinn, daß wir mehr produzieren, um die Welt zu ernähren. Die Menschen sollen sich selber ernähren in ihren eigenen Ländern, das wäre die eigentliche Hilfe, die wir ihnen angedeihen lassen sollten. Es stimmt vor allem nicht, Deutschland hat gar nicht genug Fläche. Wir können ja nur deswegen so viel Fleisch und Milch produzieren, weil wir Kraftfutter aus Ländern importieren, in denen dafür Regenwald abgeholzt wird oder Kleinbauern vertrieben werden. Es ist ein völlig verqueres Bild, "wir machen euch satt" stimmt global nicht, es stimmt allenfalls in Deutschland.

SB: Wenn davon auszugehen ist, daß mit globalen Warenströmen bislang nur Hunger erzeugt wurde, wie will man bei einem "Weiter so wie bisher" die für 2050 prognostizierten 10 Milliarden Menschen satt bekommen?

VT: Das Problem ist, daß wir heute schon eine Milliarde Menschen haben, die hungern und zwei Milliarden, die fehlernährt sind, weil sie zuwenig haben. Also, wenn jetzt nochmal die Hälfte der Weltbevölkerung oben draufkommt, wird es natürlich mit der Verteilung noch schwieriger. Diese Zahl wird allerdings auch gerne genutzt, um eigene Geschäftsinteressen durchzusetzen, um ein Scheckenszenario an die Wand zu malen und dann zu sagen: Jetzt müssen wir aber ganz dringend mehr erzeugen und das können wir leider nur mit mehr Technik und mehr Chemie machen. Das ist natürlich genau das Falsche. Ich will jetzt nicht sagen, daß moderne Technik per se schlecht ist, ganz im Gegenteil, wir müssen forschen, nur das, woran geforscht wird, sind ja vor allem Lösungen für Märkte der reichen Länder. Wir können noch soviel Lebensmittel erzeugen, sie sind zu teuer. Als Hochlohnland wie Deutschland kann man nicht Afrika ernähren, die Menschen dort können das sehr viel besser selber. Wenn es sich die Armen nicht leisten können, ist es sinnlos, diese Masse zu erzeugen.

SB: Wenn der World Food Report der FAO 2009 vorrechnet, daß die weltweite Landwirtschaft im derzeitigen Entwicklungsstand eigentlich sogar 12 Milliarden Menschen mit ausreichend 2.700 Kilokalorien pro Tag versorgen könnte und die NGO Campo Mio 2000 aufzählt, daß jedem Menschen derzeit 2000 Quadratmeter Acker zur Verfügung stehen, auf dem genügend Nahrungsmittel angebaut werden können, um ihn sogar mit 3.500 Kilokalorien pro Tag zu versorgen, wo sind aus Ihrer Sicht angesichts dieser Hungernden die wesentlichen Lücken in der Bilanz?

VT: Es gibt die Konkurrenz von den vier großen "T"s, so kann man das vereinfacht sagen. Das erste T ist der Teller, das müssen wir haben, das essen wir. Das zweite T ist die Tonne, das müssen wir gewiß nicht haben. Ein Drittel der Welternte geht verloren, wird verschwendet und wird auf den Müll geworfen. Das ist eigentlich eine riesige Reserve. Aber es gibt auch noch zwei weitere Ts, die in Konkurrenz zur menschlichen Ernährung stehen: der Trog, also das, was wir an die Tiere verfüttern, und der Tank, also das, was wir als Biosprit verarbeiten. Das ist natürlich schon schwieriger. Daß wir für den Biosprit wertvolle Ackerflächen besetzen, darf überhaupt nicht sein. Beim Fleischkonsum wird es natürlich schwieriger. Selbst, wenn wir jetzt weniger Fleisch essen, was ja auch passiert, wird in den Schwellenländern bereits mehr Fleisch gegessen. Wir haben die Situation, daß wir ein Drittel der Weltgetreideernte verfüttern, Tendenz steigend. Es handelt sich um eine Art Verteilungskampf, weil diejenigen, die sich Fleisch leisten können, dafür zahlen. Da wird viel Getreide hineingefüttert. Diejenigen, die das Getreide direkt essen möchten, haben zuwenig Geld und können es sich dann noch weniger leisten, weil es teurer wird, wenn es weniger gibt. Also, das ist schon ein Zielkonflikt mit dem Fleisch, wobei es durchaus auch Fleisch gäbe, das nicht in Konkurrenz zum Menschen steht, Fleisch, das von Tieren kommt, die auf der Weide stehen. Gras können wir nicht essen, das steht nicht in Konkurrenz zu uns. Aber das ist nur der kleinere Teil der Produktion.

Alles, was in den großen Ställen heranwächst, muß mit Kraftfutter ernährt werden. Wir kommen, glaube ich, da in unserer Gesellschaft vieles über Preise läuft, nicht drumherum zu versuchen, die Schäden, die die Fleischproduktion erzeugt - wie Grundwasserverseuchung zum Beispiel - in den Preis zu integrieren. Dann wird möglicherweise am Ende das biologische Fleisch billiger als das konventionelle. Dasselbe bei Milchprodukten: Ich zahle die Milch zweimal, einmal im Supermarkt und einmal über die Steuern, denn die Umweltschäden muß dann die Allgemeinheit beseitigen. Es ist ein bißchen schwierig zu schätzen und die Schäden auf das Produkt umzurechnen, deswegen ist es auch noch nie passiert, aber man könnte das machen. Solange es nicht passiert, gibt es eigentlich nur die Methode zu sagen, wir versuchen, daß die Politik in jeder Region, jedem Land in die Richtung strebt, daß die Grundversorgung möglichst in der eigenen Region geschieht. Und dann kann man natürlich gerne Luxusprodukte - Früchte, Südfrüchte und dergleichen - handeln. Wenn die dann einmal aufgrund von Schwankungen nicht verfügbar sind, ist es nicht schlimm. Aber die Grundversorgung, die soll aus dem eigenen Land kommen, damit diese wahnwitzigen Wechsel auf dem Weltmarkt, die wir heutzutage haben, sich nicht darauf auswirken. Die gab es früher so nicht, aber durch die Börsen haben wir solche Schwankungen, daß jede Abhängigkeit vom Weltmarkt hochriskant ist. Hierzulande spüren wir es nicht so sehr, unser Brötchenpreis hat sich bei den letzten Preisschüben vielleicht nur um zwei Cent erhöht, denn in unserem Brötchenpreis stecken vor allem Energie und Arbeit. In Kamerun ist es tatsächlich so, daß der Rohstoff fast den gesamten Preis ausmacht. Der Brotpreis hat sich dort parallel zum Getreidepreis an den Börsen verdoppelt. Und wenn Menschen schon zwei Drittel ihres Geldes für Essen ausgeben, können sie nicht zweimal soviel zahlen, da ist das Ende der Fahnenstange erreicht.


Oben im Bild die Agrar-Rohstoff Börse, unten eine Hand mit Saatgut, darunter Saatgutgefäße - Szenenbild: © PROKINO Filmverleih GmbH

Spekulation mit den Grundlagen unserer Existenz - Agrar-Rohstoff Börse in Chicago und Saatgutbank in Indien
Szenenbild: © PROKINO Filmverleih GmbH

SB: Eine etwas provokative Frage: Welchen Sinn macht es überhaupt, daß man mit Lebensmitteln Geld verdient?

VT: Ja, das ist überhaupt nicht provokativ, das ist nämlich genau der Punkt. Daß wir Lebensmittel als Ware wie jede andere betrachten, ist, glaube ich, ein Grundübel. Richtig, wir haben ein Wirtschaftssystem, das auf Geld beruht, und ein Bauer braucht auch Geld, um etwas zu produzieren. Ich bin also gar nicht so sehr der Meinung, daß man da ganz aus der Geldwirtschaft aussteigt. Das wäre schwierig. Ich fände es nur schön - wir haben zum Beispiel Foodsharing gegründet, weil wir gesagt haben, das, was übrig ist, hat man früher immer geteilt und das sollte man bitte auch, gerade um dem Essen einen ideellen Wert zurückzugeben. Das ist eigentlich etwas sehr Traditionelles. Aber die Landwirtschaft funktioniert mit Geld, und ich will gar nicht dagegen argumentieren. Ich will gegen diesen Wahnwitz argumentieren, der an den Börsen passiert, wo ein Vielfaches an Geld investiert ist.

Wenn sich binnen weniger Monate der Preis verdreifacht, ohne daß sich tatsächlich die Nachfrage verdreifacht hat, nur, weil zufällig an den Aktienbörsen gerade die Aktien schlecht laufen und das Geld dann rübervagabundiert zu den Agrarmärkten, dann spielt man mit Leben. Man muß sich einfach überlegen, was ist denn Hunger? Hunger ist im wesentlichen ein Mangel an Kaufkraft. Man stellt es immer so als Naturkatastrophe dar, aber es gab in den schlimmsten Dürrezeiten in der Region Sahel immer genug Lebensmittel. Statt unsere Lebensmittel, unsere Überproduktion, als Nahrungsmittelhilfe runterzuschicken, hätten wir lieber Geld runtergeschickt, dann hätten nämlich die Bedürftigen, die da hungern, sich bei den lokalen Bauern versorgen können, und dann hätte man damit noch die lokale Landwirtschaft unterstützt. So haben wir aber die lokalen Bauern plattgemacht, indem wir den Menschen Lebensmittel geschenkt haben und unsere Überschüsse damit losgeworden sind. Die Bauern brauchen Geld und sollen es auch kriegen, aber nicht in diesem wahnwitzigen Maß, in dem das auf den Agrarbörsen passiert.

SB: Wie kann es angehen, daß Menschen in Ländern, die Lebensmittel exportieren, hungern? Zwei Millionen Kenianer sind von Hunger bedroht, dennoch wird in dem Land Gemüse für den Export produziert. Laut Misereor leben 80 Prozent der von Hunger betroffenen Menschen auf dem Land, also dort, wo die Nahrungsmittel angebaut werden. Hunger betrifft insbesondere Kleinbauern, Landarbeiter und Fischer, die traditionellen Nahrungsmittelproduzenten.

VT: Das ist schon schwer zu verstehen. Zwei Drittel der Hungernden sind tatsächlich selber Kleinbauern. Aber man muß einfach dazu auch wissen, daß sie nicht nur Produzenten sind, sondern gleichzeitig Konsumenten. Und je mehr sie an den Markt angebunden sind und verkaufen, desto stärker leiden sie unter diesen Preisschwankungen. Oft, wenn Erntezeit ist und sie verkaufen, sind die Preise niedrig, und wenn sie dann am Ende der Saison nichts mehr haben und ihre Nahrung kaufen müssen, sind die Preise höher. Sie könnten sich jetzt natürlich - und das ist, glaube ich, auch die Lösung - von dieser Abhängigkeit befreien. Ich erinnere mich daran, wie meine persönliche Heldin in dem Film, Fanny, die Kleinbäuerin aus Malawi, mir in der Hütte gezeigt hat, wo sie ihre Maissäcke aufbewahrt. Die Szene haben wir allerdings nicht im Film, weil es dort sehr dunkel war. Das ist ihr Schatz, der muß bis zum Ende des Jahres, bis die neue Ernte kommt, halten, um sicherzustellen, daß ihre Kinder und Tanten, alle, die in ihrem Haushalt mitarbeiten - eine reine Frauenwirtschaft in ihrem Fall - genug zu essen haben.


Links: Pflanzen auf Ackerboden, rechts unnatürlich beleuchtete Pflanzen auf einem Nährboden, im Hintergrund ein Mann im Kittel - Szenenbild: © PROKINO Filmverleih GmbH

Indoor / Outdoor - Wie viel "Natur" brauchen unsere Lebensmittel? - Shinji Inada, Direktor der japanischen Pflanzenfabrik Spread Inc.
Szenenbild: © PROKINO Filmverleih GmbH

Also ich glaube, der Dreh- und Angelpunkt ist Unabhängigkeit oder Ernährungssouveränität. Das begreifen jetzt auch immer mehr, aber man hat ihnen ja jahrelang geraten: Vertraut auf den Weltmarkt, da gibt es immer genug. Du kannst das gar nicht lagern, die Mäuse fressen es dir weg, es verrottet. Mag sein, daß das zum Teil passiert, aber noch schlimmer ist es, wenn ich am Ende des Jahres so wenig habe, daß ich den letzten Rest, sprich, auch mein Saatgut wegessen muß und dann noch nicht einmal mehr Saatgut für die nächste Ernte habe. Das ist das Ende der Landwirtschaft, dann können die Leute eigentlich nur noch in die Städte abwandern.

SB: Was müßte für eine regionale Selbstversorgung mit Lebensmitteln national und international in die Wege geleitet werden? Brauchen wir dafür ein globales Steuerungssystem oder eine Weltadministration, die eine geregelte Umstrukturierung der Landwirtschaft vornimmt?

VT: Ja, manchmal wünscht man sich eine Weltregierung, aber es ist tatsächlich natürlich Quatsch, wenn man überlegt, was für ein riesiges Problem wir haben. Die eine große Lösung gibt es erstens nicht und zweitens ist sie natürlich auch etwas, das dann wieder mißbraucht werden kann. Es gibt in Wirklichkeit viele kleine, lokale Lösungen. Die Regierungen der Entwicklungsländer, genauso wie unsere Entwicklungspolitik, haben die Kleinbauern über lange Jahre vernachlässigt oder überhaupt nicht beachtet. Die sah man einfach als rückwärtsgewandt, unmodern, die waren keine Lösung. Inzwischen hat man begriffen: Sie ernähren ja immer noch zwei Drittel der Menschheit. Das ist nach wie vor der Dreh- und Angelpunkt, wenn man die Armut bekämpfen will, denn es gibt niemanden, der das besser verteilen könnte als diese Kleinbauern. Eine einfache, zentral gesteuerte Lösung gibt es so wohl nicht.

Ein wichtiger Punkt ist der Zugang zu Land, man muß ihnen das Land lassen, auf dem sie anbauen können, und sie nicht mit Großfarmen und durch Großbauern vertreiben. Man muß ihnen vielleicht auch einen Marktzugang geben und das könnte vielleicht die Entwicklungshilfe leisten. Oftmals ist es so, gerade in abgelegeneren Teilen, daß sie auf einen Händler warten, der dann nicht pünktlich kommt. Und wenn er kommt, muß man froh über das sein, was er einem zahlt. Wenn man etwas machen will, um die Struktur für die Kleinbauern zu verbessern, dann wäre das eine Kooperative, um Mais zu trocknen, zu lagern und in die Städte zu bringen, um dann einen ordentlichen Preis zu bekommen. Es geht nicht darum, daß sie in der Subsistenzwirtschaft gehalten werden, sondern sie sollen durchaus und können das auch, mithelfen, die Städte zu ernähren.


Valentin Thurn - Foto: © by Schattenblick 2015

Foto: © by Schattenblick 2015

SB: Geht die derzeitige EU-Agrarpolitik entgegen der Zusicherung im Lissabon-Vertrag auf Kosten der armen Länder? Kann man das so pauschal sagen?

VT: Leider ja. Und es ist nicht nur die reine Agrarpolitik, sondern auch die Handelspolitik. Die EU zwingt afrikanische Länder, ihre Grenzen zu öffnen für unsere hochsubventionierten Agrarprodukte. Das Gegenteil sollte der Fall sein. Man sollte sie ihre Landwirtschaft schützen lassen. Momentan setzen wir unsere Interessen durch, damit wir Agrarprodukte verscherbeln können.

SB: Das heißt, es gibt sehr starke Interessen, die dagegen sprechen, einen agrarischen Wandel herbeizuführen. Wie kann man sich dagegen zur Wehr setzen?

VT: Man kann tatsächlich sagen, daß es bei uns darum geht, eine Agrarwende zu einer nachhaltigeren Produktion einzuläuten, aber in vielen Entwicklungsländern ist es noch gar nicht soweit, daß die Landwirtschaft schon dermaßen industrialisiert wäre. In Thailand beispielsweise, einem Schwellenland, das nicht mehr so arm ist, verwendet die Mehrzahl der Bauern noch gar kein Hybridsaatgut. Das ist noch eine schön kleinstrukturierte Landwirtschaft. Maschinen gibt es dort schon, es geht eher darum, die Konzentration, den Einfluß der Agrarriesen weiterhin fernzuhalten. Man muß verhindern, daß man sich eines Tages dort, so wie hier bereits, bemühen muß, die letzten bäuerlichen Betriebe zu erhalten. Da gibt es sie noch und sie sind dominierend, Gottseidank. Die Struktur ist also längst nicht überall so wie in Europa oder Deutschland.

SB: Ihr Film "10 Milliarden" endet ja im Grunde mit einem Appell an den Verbraucher, nur bestimmte Produkte zu kaufen, deren nachhaltige und regionale Erzeugung erwiesen ist. Könnte eine konsequente Veränderung der Nachfrage tatsächlich in gleichem bzw. ausreichendem Maße bedient werden?

VT: Meinen Sie durch Initiativen wie solidarische Landwirtschaft oder ähnliches? Gut, es sieht jetzt vielleicht ein bißchen niedlich aus, wenn man sich das so anschaut: Da ist eine kleine SoLaWi, da ist ein Gemeinschaftsgarten irgendwo in der Stadt. Ich glaube dennoch nicht, daß es niedlich ist, weil es kleine Bausteine sind, die zusammengenommen eine große Lösung ergeben. Bei einem Gemeinschaftsgarten geht es auch nicht darum, daß eine Stadt wie Hamburg sich aus den Stadtgrenzen heraus ernährt. Das war vielleicht im 19. Jahrhundert einmal so, aber da stand auch das Vieh mitten in der Stadt. Also eine solche Situation wäre unrealistisch. Sie können durchaus Mengen erzeugen, aber nicht zu hundert Prozent eine Großstadt versorgen. Es geht eher um einen mentalen Effekt. Diejenigen, die vielleicht auch nur einen Sommer lang Salatköpfe oder was auch immer großgezogen haben, kriegen den Bezug zum Lebensmittel, sie konsumieren dann auch anders. Auch die, die mit den Bauern in direktem Kontakt stehen in der solidarischen Landwirtschaft. Inzwischen gibt es auch viele Food-Coops, die nach einem solchen Prinzip funktionieren.

Ich habe hier eine Postkarte dabei von der Food Assembly. Das ist ein neues Modell, eine Art Hofladen 2.0 übers Internet. Die Bauern kommen an einem Tag in der Woche in die Stadt und man bestellt vorher übers Internet. Ich habe das in Frankreich entdeckt und ihnen gesagt, Leute, wenn ihr das nach Deutschland bringt, müßt ihr in Köln anfangen, damit ich auch etwas davon habe. Und das haben sie gemacht, weil ich das dann auch ein bißchen promotet habe. Seit einem halben Jahr bin ich glücklicher Bezieher regionaler Gemüse, Milch, Obst, Brot. Das funktioniert eigentlich ganz gut. Es sind nicht nur Biobetriebe, sondern auch ein paar andere dabei, bäuerliche, kleine Lieferanten, die aus irgendeinem Grund nicht zertifiziert sind, aber doch nahezu ökologisch produzieren. Es gibt mir ein gutes Gefühl. Bei allen Sachen im Supermarkt, die irgendwelche Siegel tragen, von denen ich nicht weiß, wie gut das überprüft wird, habe ich nicht halb soviel Vertrauen.


Teilnehmer der Demonstration mit Transparent 'Gentech und Pstizide -Bauernfeind und Bauerntod' - Foto: Bewegungsfotos (CC BY-NC-SA 2.0)

"Wir haben es satt Demo" am 17. Januar 2015
Foto: Bewegungsfotos (CC BY-NC-SA 2.0)

Für eine Stadt wie Hamburg braucht man sicherlich einen größeren Umkreis, hundert Prozent werden auch die solidarischen Landwirtschaften sicherlich nicht schaffen. Es reichen ja schon fünf oder zehn Prozent des Marktes. Wenn es so viel wäre, würden sich die Händler auch verändern. Die wollen ihre Kunden nicht verlieren und fangen ja jetzt schon an zu reagieren. Wenn es Kundenströme in eine Richtung gibt, wird natürlich versucht, uns wieder zurückzuholen. Da gibt es viele Mogelpackungen. Bei regionalen Produkten steht leider tatsächlich, wenn man dann hinten genau draufguckt, oft "Herkunftsort Deutschland" drauf. Das ist also sehr weit gefaßt. Aber es gibt auch in Supermärkten die Kisten vom Bauern, dessen Name dransteht. Das sind dann wirklich regionale Produkte. So etwas könnte man noch sehr viel weiter ausbauen.

SB: Taste the Waste, der Film zur Verschwendung und jetzt auf der anderen Seite der Aufruf, die regionale Landwirtschaft über den eigenen Verbrauch zu fördern - erzeugt man damit nicht ungewollt das Problem, daß sich die konventionellen Lebensmittelmüllberge noch weiter erhöhen, weil das nicht nachhaltig produzierte "Zeugs" geschmäht wird?

VT: Die Marktwirtschaft funktioniert durchaus so, daß die Produktion runtergefahren wird, wenn Kundenströme sagen, wir wollen wieder mehr Produkte, die vom Bauern und nicht aus der Massentierhaltung stammen. Ich wäre ja schon froh, ehrlich gesagt, wenn das Bauernhofsterben aufhört, wenn wir von der Tendenz her das, was wir noch haben, stabilisieren können. Das wäre schon mal ein Riesenerfolg, denn dieses "Wachse oder Weiche" geht ja tatsächlich immer weiter und weiter.

SB: Wie ist es mit dem Problem durch die Bodenspekulation? Ein bäuerlicher Produzent, der Land dazukaufen möchte, bekommt es entweder nicht oder kann es sich nicht mehr leisten, weil die großen Konzerne die Preise in die Höhe treiben.

VT: Es sind nicht nur die Konzerne. Wir haben blöderweise durch die Energiewende eine Situation geschaffen, einen unsinnigen Seitenpfad, der dazu führt, daß Mais auf dem Acker, den man zur Biogasanlage fährt, mehr einbringt, als wenn man irgend etwas anderes anbaut. Das ist eine Verzerrung durch Subventionen. In Deutschland macht die Summe, die über das Erneuerbare Energien Gesetz in Richtung landwirtschaftliche Rohstoffe fließt, fast die Hälfte der EU-Subventionen aus. Es ist eine gigantische Summe Geld, die dafür sorgt, daß die Bodenpreise hochgetrieben werden. Ein anderer Faktor ist einfach: Boden wird knapp. Man kann sich langsam darauf einstellen, daß es in Deutschland zumindest auf absehbare Zeit keine sinkenden Bodenpreise mehr geben wird.

SB: In Afrika nimmt dieser Trend teilweise brutale Formen an, daß ausländische Investoren Landflächen pachten, die gar nicht verpachtet werden dürften, weil man damit Kleinbauern ihre Existenzgrundlage wegnimmt, um darauf Agrosprit oder andere nachwachsende Rohstoffe anzubauen. In Ihrem Film kommen Betroffene zu Wort, denen große Versprechungen gemacht und nicht gehalten wurden. Wie wehren sich die Kleinbauern, mit denen Sie Kontakt hatten, dagegen?

VT: Also in Afrika ist es tatsächlich so, daß es verbriefte Rechte gibt. Im Fall Mosambik steht in der Verfassung, daß das Land grundsätzlich vom Eigentumstitel her erst einmal dem Staat gehört. Die Bauern, die dort wirtschaften, haben ein Besitzrecht, das heißt, sie können dort bleiben. Aber das wird in keinem Grundbuch eingetragen. Wenn man dann als Kleinbauer tatsächlich, wie wir das in dem einen Dorf gesehen haben, von einem Großbauern vertrieben wird, hat man nichts in der Hand. Die Bulldozer kamen einfach mitten aufs Feld und haben die Hütten der Kleinbauern plattgewalzt und von einem auf den anderen Tag gehörte das Land einer großen Farm. Sie haben tatsächlich protestiert beim Provinzgouverneur, keine Reaktion. Dann haben sie versucht, eine Klage einzureichen, die wurde noch nicht einmal angenommen. Da hatte offenbar jemand bessere Beziehungen zum Provinzgouverneur und zum lokalen Gericht. Es ist leider so, daß man dieses Recht, das eigentlich in der Verfassung steht, nicht einklagen kann, wenn man kein Geld hat. Das sind leider etwas vordemokratische Zustände. Das ist nicht immer so. In Mosambik hat man eine Demokratie, dort wird gewählt. Es gibt durchaus auch Gruppen, die ihre Interessen durchsetzen können, doch sie sind meistens in der Stadt und können sich besser mobilisieren. Aber so ein paar Menschen auf dem Dorf, die sind machtlos, leider.

SB: In diesem Fall ist es ganz deutlich eine reine Gewaltfrage.

VT: Ja. Das ist tatsächlich letztendlich physische Gewalt. In dem Land gab es lange Bürgerkrieg und es gibt auch Situationen, in denen Kugeln fliegen. Meistens ist das aber gar nicht erst nötig, weil sowieso ein großes Ungleichgewicht bezüglich der Machtfrage herrscht. Es ist weniger so, daß man sie wirklich mit vorgehaltener Pistole vertreibt, sondern da ist eines nachts dann die Hütte plattgewalzt, oder sie machen Versprechungen und geben ihnen eine Ausgleichsfläche. Die ist dann aber kleiner und schlechter. 'Ja, dafür bekommst du dann noch irgendwann eine Straße gebaut und einem Wasseranschluß', und der kommt dann halt nie. So war es in dem Dorf, in dem wir gefilmt haben. Man kann es also meistens auch billiger haben, ohne gleich mit brutaler Gewalt zu kommen.

SB: Ist es angesichts dieser Verhältnisse nicht etwas zu einfach zu sagen, der Verbraucher kann das regeln? Wäre bei den mächtigen Interessen, die im Spiel sind, nicht auch die Politik gefragt?

VT: Absolut, ja. Wir haben sicherlich mit einen Einfluß darauf, weil in der Tat unser Fleischkonsum mit solchen Entwicklungen zusammenhängt. Sojafarmen werden in diesem Ausmaß angelegt, um Kraftfutter für Tiere zu erzeugen. Aber das Problem lösen kann nur die Politik. Das Problem lösen kann eigentlich noch nicht einmal eine nationale Politik, sondern es müssen mehrere zusammenspielen. Es gibt von der Weltbank tatsächlich Spielregeln für Investments in Land, die den Landraub verhindern sollen. Sie sind sogar gar nicht einmal schlecht formuliert, aber ein bißchen zahnlos, weil keine Sanktionen vorgesehen sind. Das Problem wird also gesehen, und man sucht nach Lösungen. Leider wird das nicht wirklich vor Ort überall umgesetzt. Ich glaube, der Dreh- und Angelpunkt ist da, wo man Einfluß von uns aus machen könnte, zumindest unsere Regierungen, wenn Geld aus westlichen Ländern im Spiel ist bei so einer Farm. Das ist oft so. Dort, wo wir gedreht haben, war es eine portugiesische Firma. Das heißt, von seiten der EU hätten wir durchaus Einfluß nehmen können. Das ist aber nicht geschehen.


Vorschaukasten des ABATON mit dem Plakat und zwei Artikeln zum Film. Das Plakat zeigt eine hängende Möhre, auf die Menschen von rechts und links zulaufen - Foto: Schattenblick 2015

Foto: Schattenblick 2015

SB: Sie haben auch den Film "Die Milchrebellen" gedreht, in dem ein Bauer sagt: In Umfragen heißt es immer, die Verbraucher würden für bäuerlich produzierte Lebensmittel gerne etwas mehr zahlen, aber dann rennen sie doch alle zu ALDI. Wie steht es um unsere Bereitschaft und was ist mit den Menschen, die es sich einfach nicht leisten können, mehr zu bezahlen?

VT: Man sagt ja, wir haben noch nie so wenig ausgegeben für Lebensmittel. In Deutschland ist das ein Durchschnittswert, der diejenigen, die knapp bei Kasse sind, nicht betrifft. Von diesem Durchschnittswert können sie sich nicht viel kaufen. Es hat trotzdem auch für Hartz IV-Empfänger schon mit Prioritäten zu tun, wobei die natürlich sehr viel schwerer durchzusetzen sind. Ich habe eine gute Freundin, die als alleinerziehende Mutter einmal Hartz IV bezogen und aus der Not eine Tugend gemacht hat. Sie hat das Buch "Arm, aber bio" geschrieben. Sie hat den Selbstversuch unternommen, ein Jahr lang nur von Bio zu leben, und es war tatsächlich möglich. Sie mußte allerdings auf Fleisch verzichten, das war relativ schnell klar. Sie beschreibt das ganz schön. Das Gemüse ist 20, 30 Prozent teurer, aber es ist noch erschwinglich, wenn man sich genau überlegt, was man nimmt und vor allem nicht auf den Schwindel reinfällt, die ganzen Fertigprodukte seien billiger, sondern selber kocht. Das spart unglaublich viel Geld. Aber Fleisch, das dreimal so teuer ist, schlägt schon zu Buche, da wird es dann schon schwierig. Also das ging nicht. Ich will das nicht als Lösung propagieren, sondern ich glaube, daß jeder für sich selbst überlegen sollte, wie weit er geht. Ich habe früher auch bei ALDI eingekauft, ich will mich da jetzt nicht von ausnehmen. Aber seit ich bei der Food Assembly bin, weiß ich, ehrlich gesagt, noch nicht einmal mehr, wie REWE aussieht. Ich halte das aber für ein gutes Zeichen.

SB: In Ihren Filmen haben Sie von der Entfremdung gesprochen, davon, daß man gar nicht mehr weiß, wo das Essen herkommt. Bei Will Allen mit seinen Würmern, die einen guten Boden garantieren, wird es ganz besonders deutlich.

VT: Will Allen ist ein großartiges Beispiel, weil er aus einer entsprechenden Kultur stammt. Der Begriff Junk Food kommt nicht zufällig aus den USA. Die Umgebung, in der er seine Farm errichtet hat, nannte er Food Desert. Fünf Meilen in alle Richtungen gibt es nur ein paar McDonald's und Burger Kings und das war's. Da ist kein Lebensmittelladen, in dem man normales frisches Gemüse kriegt, nichts in der Richtung, obwohl dort viele Menschen leben. Es sind vor allem Schwarze oder sozial Schwache, die auf den Bus angewiesen sind. Im Winter ist es dramatisch für sie, sich Essen zu besorgen. Dann holt man sich einmal richtige Mengen und das muß dann ein bißchen länger reichen.

SB: Das ist schwierig mit Gemüse.

VT: Ja, eben, also Gemüse fällt da einfach flach. Das ist zum Teil auch ganz absurd, Fleisch ist dann billiger als Gemüse in den Supermärkten, weil das von den Mengen her so wenig ist, daß es dann wieder teurer wird. Von der Produktion her ist das natürlich absurd. Will Allen stammt selber aus einer bäuerlichen Familie, obwohl er Schwarzer ist, das gibt es durchaus. Das heißt also, er wußte, was gutes Essen ist und wollte das in die Städte bringen. Er hat die riesigen Brachflächen dort gesehen, die leider betoniert sind. Was konnte man da machen? Er kam darauf, daß man den Boden selber herstellen kann. Dort gibt es viele Brauereiabfälle. Milwaukee wurde einmal von Deutschen gegründet, die sind schon längst weg, aber auf dem Friedhof sieht man lauter deutsche Namen. Die Brauereien sind geblieben, und es gibt nicht nur die Brauereien, er holt auch von Walmart die ganzen Abfälle, das, was nicht verteilt werden kann, und kompostiert das Zeug. Mit seinen Regenwurmzuchten gibt es den allerbesten Boden, den man sich vorstellen kann, der liegt in Hügelbeeten auf dem Betonboden. Die Mengen, die er damit produziert, sind beachtlich. Es ist keine Freiwilligengruppe, sondern schon ein kleines Unternehmen, die Mitarbeiter werden bezahlt. Trotzdem ist es preislich so günstig, daß sich die Leute aus dem Viertel das leisten können. Er hat die Menschen aus diesem Viertel von Milwaukee natürlich auch deshalb als Kunden, weil sie ihn als ehemaligen Basketballspieler wie einen Rockstar verehren. Basketball ist in Amerika etwas Riesiges. Aber es ist auch einfach so, daß der Preis stimmt. Das war ihm wichtig, und es ist trotzdem bio. Was in den Innenstadtmärkten verlangt wird, könnten die Menschen dort sich nicht leisten.

SB: 2014 ging das Thema "Versteckter Hunger" durch die Medien, das heißt Unter- oder Mangelernährung trotz ausreichender Kalorien. Immerhin 2,5 Milliarden Menschen sind davon betroffen. Wäre das ein Anschlußthema für einen nächsten Film für Sie? Von Taste the Waste über 10 Milliarden zur Mangelernährung?

VT: Ich bin jetzt noch nicht soweit, daß ich über neue Filmprojekte reden möchte, da haben wir durchaus etwas in der Pipeline. Es wäre jedenfalls wirklich ein Thema, weil eine Milliarde Menschen hungern und zwei Milliarden vielleicht den Bauch voll haben, aber quasi nur Kohlehydrate zu sich nehmen, wodurch jede Menge Mangelkrankheiten entstehen. Wer krank ist, der braucht mehr Kalorien und das ist natürlich auch wieder Verschwendung. Das Gehirnwachstum wird zum Teil beeinflußt, die Entwicklung ganzer Landstriche wird damit verhindert. Die Zahlen werden immer wieder runtergerechnet, weil die UNO gerne Erfolge präsentieren möchte. Aber es tut uns keinen Gefallen, das zu beschönigen. Wir haben eine Zweiteilung der Menschheit: Die einen kämpfen mit Übergewicht und die anderen kämpfen mit Fehlernährung. Nur, wenn man sich das klarmacht heißt das nicht, daß die Lösung darin besteht, unsere Überschüsse da runterzuschicken. Bitte nichts schicken! Sie sollen es selber machen. Wir sollen sie lassen und darin unterstützen, es selber zu machen.

SB: Dieses Runterrechnen der Zahl der weltweit Hungernden durch eine Änderung der Berechnungsmethode und der Definition von Hunger, ist kurz einmal in den Medien beleuchtet worden und dann wieder aus der öffentlichen Kritik verschwunden.

VT: In dem Buch zum Film haben wir genau diese Geschichte, daß die Zahlen schwachsinniger Weise, gar nicht mehr vergleichbar sind. Man kann vor allem nicht eine Reihe machen, wenn man die zugrundegelegte Kalorienzahl zu einem Zeitpunkt runtersetzt. Dann ist das eine andere Datenlage, dann muß man sagen, okay, die Zahlen von davor und die jetzigen Zahlen können wir leider nicht vergleichen. Dann wäre das fair, aber daß man so tut, als ob der Hunger abgenommen hätte, ist geradezu unlauter.

SB: Bei Wikipedia gibt es eine lange Abhandlung darüber, was man als Foodsaver alles beachten muß und wozu man sich verpflichtet. Es gibt doch eigentlich ein deutsches Gesetz, das es dem Handel erschwert, abgelaufene Lebensmittel kostenlos abzugeben, weil er in dem Fall weiter dafür verantwortlich ist, wenn irgendwelche Schäden dadurch entstehen.

VT: Genau, es ist nicht verboten, sondern es ist so, daß die Haftung am Tag des Mindesthaltbarkeitsdatums vom Hersteller auf den Handel übergeht. Und der sagt, ich kann nicht zehntausend Produkte in meinem Laden überblicken. Grundsätzlich könnte er das schon machen. Wir haben damals Foodsharing gegründet, weil wir gesagt haben, als Privatperson müssen wir da keine Rücksicht drauf nehmen. Jeder darf das weiterverschenken.

SB: Das heißt, das wird dann so umgangen und es wird privat abgeholt beim Lebensmittelhändler ...

VT: ... vor dem Datum und dann kann man das verteilen. So etwas wie Foodsharing gab es nirgends auf der Welt. Wir haben uns vorher genaue Gedanken darüber gemacht, warum es das nicht gibt. Wir dachten, juristisch könnte es vielleicht ein bißchen haarig werden. Wenn sich einer den Magen verrenkt, sind wir vielleicht noch schuld daran. Wir sind dann eigentlich relativ schnell darauf gekommen, daß "mindestens haltbar bis" heißt, es ist kein Gesundheitsrisiko damit verbunden. Man kann auch Tage oder Wochen danach noch dran riechen, dran schmecken, ein Löffelchen probieren, man wird nicht krank davon. Man merkt dann schon, daß es doch nicht mehr gut ist und dann läßt man es einfach. Während "zu verbrauchen bis" ein anderes Datum ist. Es ist leider zum Verwechseln ähnlich, aber das heißt Gesundheitsgefahr. Wir haben unseren Foodsavern gesagt, so etwas bitte nicht an öffentlichen Orten teilen. Wir sind nicht die Profis, wir können nicht die Kühlkette nachweisen, da gibt es rein theoretisch Gesundheitsgefahren. Am schlimmsten ist es bei Hackfleisch. Von außen sieht es noch gut, aber drinnen ist es das vielleicht schon nicht mehr. Also das wollen wir nicht riskieren. Das kann man vielleicht von privat an privat machen, wenn man sich gut kennt und wenn man sich vertraut, aber nicht über einen Verteiler, den wir da an einem öffentlichen Ort stehen haben.

SB: Gibt es ein Schlüsselerlebnis, wieso Sie sich jetzt ausgerechnet mit diesem Thema so intensiv beschäftigen? Sie haben vier oder fünf Filme dazu gemacht.

VT: Ja, ich bin da aber auch ein Spätberufener, muß ich sagen. Ernährung hat mich schon immer privat interessiert, aber Filme darüber mache ich noch nicht so lange, seit 2007. Es ist ein Herzensthema, das stimmt. Es hat etwas mit Erziehung zu tun und auch mit der Familiengeschichte. Meine Großmutter ist im Lager gestorben, an Entkräftung. Da hat Hunger ganz entscheidend zu beigetragen. Meine Mutter hatte mir das lange vorenthalten und es mir erst erzählt, als ich vierzig war, glaube ich. Ich weiß nicht, ob das der entscheidende Punkt ist. Dann habe ich als 18jähriger einmal auf einer Fahrradtour erlebt, daß es ganz leicht ist, in einer Großstadt wie London ohne Geld zu überleben, wenn man die entsprechenden Orte aufsucht. Ich meine, es war natürlich nicht pure Not, die mich dazu getrieben hat, sondern Abenteuerlust. Eigentlich sind das solche Erfahrungen. Mit den Mülltauchern einmal eine Nacht hinter die Supermärkte zu gehen, war für mich ein Erlebnis: Sie machen die Tonnen auf und machen auch meine Augen auf. Es war ein Gefühl des Zorns, das mich damals gepackt hat, eigentlich war das der Ursprung. Ich war wütend darüber, daß soviele gute Lebensmittel weggeschmissen werden und habe dann, als der Film ausgestrahlt wurde, festgestellt, daß das Publikum genauso wütend war. Das war eigentlich der Beginn.

SB: Es hat wohl auch viele Menschen sehr überrascht. Daß Nahrungsmittel weggeschmissen werden, wußte man, aber daß es in dem Maße geschieht, nicht. Für Menschen, die den Krieg und die Nachkriegszeit erlebt haben, war das sicherlich ein Unding.

VT: Ja klar. Aber es war nicht nur die Nachkriegsgeneration, die sich geärgert hat. Auch heute sitzen hier im Publikum, was ich sehr schön finde, viele junge Leute. Sie interessieren sich also wieder dafür, wo das Essen herkommt.

SB: Sind Sie zufrieden mit der Resonanz?

VT: Ja, es ist voll, also ja. So muß es sein.

SB: Herr Thurn, vielen Dank für dieses Gespräch.

15. April 2015


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