Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → REPORT


BERICHT/006: Täglich Brot - Fragen, Antworten, Zweifel ... (SB)


Plädoyer für die verantwortungsbewußte Eigeninitiative in Sachen Ernährung

Bericht zur Präsentation des Films
"10 Milliarden - Wie werden wir alle satt?"
am 10. April 2015 Hamburger ABATON



Das Filmplakat zeigt eine Möhre, um die sich zwei Lager gebildet haben. Darüber der Filmtitel '10 Milliarden - Wie werden wir alle satt' - Foto: © 2015 by PROKINO Filmverleih GmbH

Es geht um die Möhre, nicht um die Wurst,
denn weder konventionelle Agrarindustrie noch ökologische Alternativen können die Welt ernähren, solange der Fleischkonsum anhält.
Foto: © 2015 by PROKINO Filmverleih GmbH

Fremdländische Klänge, aus dem Dunkel der Leinwand treten leuchtende Kreise und -punkte, dann ein futuristisches Lichtgefährt, das sich bei näherer Betrachtung, die uns die Kamera ermöglicht, als ein abenteuerlicher Motorradbeiwagen eines fliegenden Händlers entpuppt. Nicht nur mit vielen bunten Lämpchen, sondern auch mit überdimensionalen "Hautflüglern" aus Plastik geschmückt, lenkt sein Fahrer es auf regennasser Straße durch das thailändische Nachtleben. Eine Jahrmarktstimme preist über ein Megaphon in unverständlichen Lauten etwas an, das dem Kinobesucher der Untertitel übersetzt: "Hier gibt es frittierte Insekten. Frittierte Insekten - nicht teuer!"


Valentin Thurn kostet Spezialitäten eines thailändischen Insekten-Imbißstands, daneben ein Löffel davon in Nahaufnahme - Foto: © 2015 by PROKINO Filmverleih GmbH

Vielleicht werden wir alle bald nicht mehr wählerisch sein können.
Foto: © 2015 by PROKINO Filmverleih GmbH

"... Ganz klar", erläutert eine Stimme aus dem "Off", "Heuschrecken, Grillen und Maden sind nicht jedermanns Sache. Aber vielleicht werden wir alle schon bald nicht mehr wählerisch sein können."

Die Stimme gehört Valentin Thurn. Sein neuer Film "10 Milliarden - Wie werden wir alle satt?", der am 16. April 2015 Premiere hat, lud das buntgewürfelte Kinopublikum aus sachkundigen Umwelt- oder Lebensmittelbewußten, Studenten, überzeugten Förderern oder Angehörigen von Solidarischen Landwirtschaftsgemeinschaften, Foodies, Aktivisten und anderen Interessierten, die am 10. April zu einer Film-Preview mit anschließender Podiumsdiskussion erschienen waren, zu einer Weltreise in Sachen Ernährung ein. Das Interesse kam nicht von ungefähr. Bereits mit seinem letzten Film, dem u.a. mit dem Umwelt-Medienpreis 2011 der Deutschen Umwelthilfe ausgezeichneten Kino-Erfolg "Taste the Waste" [1] löste Valentin Thurn eine gesellschaftliche Debatte aus, die er seit 2008 fast jährlich mit weiteren Fernsehdokumentationen zum Thema wie "Gefundenes Fressen - Leben vom Abfall" und "Essen im Eimer: Die große Lebensmittelverschwendung" (2008), "Frisch auf den Müll - Die globale Lebensmittelverschwendung" (2010), "Die Essensretter" (2013) oder die "Milchrebellen" (2014) unterfüttert.

Von der Verschwendung nun zur Produktion von Lebensmitteln zu gehen, sei im Grunde ein Publikumsauftrag gewesen, erklärte der Regisseur im Anschluß an den Film [2]: Jede Diskussion nach dem ersten Kinoerfolg habe beim Haltbarkeitsdatum in der eigenen Küche begonnen und endete beim Welthunger. Tatsächlich leben derzeit etwa 7,32 Milliarden Menschen auf der Erde, vor 35 Jahren waren es noch 4,45 Milliarden. Wenn die Bevölkerung auf diese Weise weiterwächst, sind die planetaren Leitplanken bald erreicht. Das gilt nicht nur für fossile Energieträger wie Öl und Gas, auch Wasser, Mineralien wie Kalium und Phosphor und nutzbare Agrarfläche zählen ebenso wie guter Humusboden zu den essentiellen, aber endlichen Ressourcen, die in weiteren 35 Jahre von 10 Milliarden Menschen in zunehmendem Maße gebraucht, beansprucht oder zugebaut werden und gleichzeitig die Grundlage unserer landwirtschaftlichen Nahrungsproduktion sind.


Ökobauer Felix Prinz zu Löwenstein und Labor einer japanischen Pflanzenfabrik - Foto: © 2015 by PROKINO Filmverleih GmbH

Boden, unersetzliche Grundlage des Lebens?
Bereits heute zeigen 20 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Flächen Degradationserscheinungen.
Foto: © 2015 by PROKINO Filmverleih GmbH

In seinem jüngsten Film geht der Regisseur aus der Perspektive des unvoreingenommen wißbegierigen Forschungsreisenden in Indien, Afrika, Japan, Großbritannien, Holland bis den Vereinigten Staaten der Frage nach, wie haltbar die bereits existierenden Ideen oder Lösungsansätze aus Landwirtschaft, Industrie und Wissenschaft sind, die genug Nahrung für alle zu beschaffen versprechen, wobei er auch vor einigen gewöhnungsbedürftigen Beispielen nicht Halt macht.

Von Schauplatz zu Schauplatz bzw. Tatort zu Tatort ergibt sich dabei ein durch die Kommentare des "Forschers" lose geknüpfter Faden, der die drängendsten Fragen, schlimmsten Befürchtungen sowie die gruseligsten und machbarsten Antworten zur künftigen Ernährung in verdaulichen Häppchen zusammenfaßt.

Sicher nicht unbeabsichtigt beginnt er bei der Ernährungsgrundlage schlechthin, dem Saatgut als Ursprung aller Pflanzen, dessen ehemalige Vielfalt bereits heute stark bedroht ist. Von 8500 nutz- und eßbaren Pflanzen werden heute hauptsächlich noch acht Kulturpflanzen angebaut. Darüber hinaus konzentriert sich das globale Saatgutgeschäft auf nur wenige Konzerne - derzeit teilen sich Monsanto, Syngenta und DuPont 53 Prozent des Weltmarkts -, die mit ihrem eigenen Hochleistungs-Saatgut, nicht vermehrungsfähige Hybrid-Saat wie auch genetisch veränderten Sorten traditionelles Saatgut vom Markt verdrängen und Landwirte in die Abhängigkeit zwingen, immer wieder neue Saat im agrochemischen Gesamtpaket einkaufen zu müssen. Der Vorstandsvorsitzende des BayerCropScience-Konzerns Liam Condon, der erste Protagonist, der im Film zu Wort kommt, glaubt an eine gentechnische Lösung des Welternährungsproblems. Er hält eine Agrarrevolution für unabdingbar, um die Menschen aufzurütteln, ehe niemand mehr genug zu essen hat. Was dies für ihn bedeutet, ist eigentlich ein Quantensprung in eben dieser Entwicklung, die samt ihrer bereits bekannten Nebenwirkungen für Mensch, Umwelt und Ernährung längst begonnen hat.

Nun reichen 100 Minuten wohl kaum, um allein der Problematik gentechnisch veränderten Saatguts im Hinblick auf Gesundheit und Umwelt sowie dem Einfluß von derzeit zehn führenden Agrarindustriekonzernen auf Politik und Wirtschaft gerecht zu werden. Thurn greift daher auch nur einen Aspekt, nämlich die wachsende Abhängigkeit von Landwirten auf, um sie einem Saatgutbank-Projekt in Indien gegenüberzustellen, das mit traditionellen 727 Reissorten Kleinbauern zwar nicht die gleichen Erträge, aber neben Unabhängigkeit auf Dauer eine höhere Krisensicherheit z.B. angesichts zunehmender Klimawandelfolgen (Zyklone, Tsunamis, Überschwemmungen) versichern kann. Lokale Sorten benötigten auch weniger Chemie, leitet der Kommentator zum nächsten Schauplatz, einem Düngemittelproduzenten über, um von da zur alternativen Bodenbearbeitung und schließlich auf den zunehmenden Fleischkonsum zu kommen, der eigentliche Grund für den wachsenden Futtermittelbedarf in Industrie- und zunehmend auch in Schwellenländern, weshalb der erste Teil der Reise zu Sojafarmen in der Ukraine oder Afrika weitergeht und schließlich auf einem deutschen Biohof inmitten beschaulich grasender Kühe und freilaufender Hühner Rast macht, die dem Zuschauer zu der Erkenntnis verhelfen, daß es heute noch alte Hühnerrassen gibt, die sowohl Fleisch ansetzen, als auch Eier legen, und das alles ohne Soja aus Übersee ...

Der zweite Teil der Reise nimmt dann Konzepte künftiger Nahrungsmittelproduktion unter die Lupe wie synthetisches, durch Stammzellenvermehrung gewonnenes Fleisch, gentechnisch veränderte Superlachse oder eine von 250 japanischen Pflanzenfabriken, in der Gemüse gezogen wird, ohne daß die Blätter je mit Sonne, Boden oder Luft in Berührung kommen. Dafür kann der Inhaber der Fabrik neun Mal pro Jahr auf 16 Etagen ernten.


Landarbeiter einer Soja-Farm in Mosambik und Laborarbeiter der Planzenfabrik Spread Inc. in Japan - Foto: © 2015 by PROKINO Filmverleih GmbH

Welche Rolle spielt der Mensch bei der Suche nach noch mehr Effizienz?
Foto: © 2015 by PROKINO Filmverleih GmbH

Im vorletzten Teil der Reise geht es um Nahrungsmittel als willkürliche Spekulationsobjekte der Börse und wie es dazu kommt, daß Lebensmittelpreise immer genau dann gesenkt werden, wenn Kleinbauern in den ärmsten Ländern der Welt ihre Produkte verkaufen müssen, die Preise für Saatgut aber ansteigen. Kleinbauern in Malawi, die sich mit Hilfe eines Entwicklungsprogramms von den Schwankungen der Weltmarktpreise durch die Rückbesinnung auf traditionellen permakulturellen Anbau bzw. Mischanbau krisenunabhängig machen konnten, lokale Währungen, die sicherstellen, daß der Handel in der Region gefördert wird, aber auch "Urban Farming" (Gemüseanzucht in Städten), "Solidarische Landwirtschaftsgemeinschaften" (sogenannte "SoLaWis") und Projekte wie "Incredible Edible", eine "eßbare Stadt" in Todmorden, England sind die kleinen, farbenfrohen, optimistischen Gute-Laune-Gegenmodelle, mit denen die Machtstrukturen der Welt subversiv untergraben werden sollen.


Verhaltene Kritik eher durch Kameraführung und Fragen

Es lohnt sich, ganz genau hinzuschauen, denn fast mehr als die begleitenden Worte lassen die stummen Bilder Fragen im eigenen Kopf entstehen, wenn etwa gefühlte Minuten lang eine überdimensionale Petrischale mit gelartigem Nährsubstrat und einigen vergewaltigten grünen Pflanzenzell-Agglomeraten in den Fokus gerückt werden oder behandschuhte Hände unter sterilem Licht Setzlinge in einen ähnlichen, ästhetisch-klaren Glibber pikieren: Welche unvorhersehbaren Konsequenzen werden durch solche Praktiken überhaupt erst hervorgerufen?

Scheinbar ganz Alltägliches, wie das unnachahmlich genußvolle Ausspachteln der aufgequirlten, synthetischen Fleischmasse, die der Gewebezüchtungs- oder "tissue engineering" Experte Prof. Mark Post, aus einem Meßbecher in die Pfanne praktiziert - Ekelfleisch für 250.000 Dollar den Burger - lassen über die Position des Filmteams zu diesem Thema keinen Zweifel, auch wenn die Darstellung rein äußerlich keine tendenziöse Wertung enthält.


Nichts wirklich Neues?

Das sei doch alles nichts Neues, ginge an den Kernproblemen der Überbevölkerung vorbei und würde die Menschen nicht dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern, bemängelte im Anschluß ein Besucher der "Premiere vor der Premiere" die Dokumentation.

Im Vergleich zu seinem letzten Kinoerfolg, der vielen möglicherweise erstmals die Augen für die reale Verschwendung im eigenen Umfeld öffnete, mögen die ohnehin knietief in politischen Ernährungs-Debatten steckenden Kinogänger vielleicht den spektakulären Eröffnungen oder den erwarteten, überraschenden Impuls vermissen. Jedes einzelne oberflächlich angerissene Puzzleteil des Films könnte jedoch dazu beitragen, in eine tiefergreifende Diskussion einzusteigen, wenn man es denn will.

So macht der Film in einem der vielen kleinen Ausschnitte zwar auf die Börsenschwankungen der letzten Zeit aufmerksam, und 'die gäbe es auch noch nicht so lange' (seit 2008 etwa), wie der Regisseur seinem - im übrigen einzigen - Kritiker entgegenhielt. Nicht angesprochen wurden wohlweislich, weder im Film noch in der Diskussion, die Hungeraufstände und Unruhen, die durch die Preisexplosion von Grundnahrungsmitteln in den Jahren 2007, 2008 hervorgerufen worden waren, was die positive Grundstimmung auch versauern würde, die der Film mit seinem Appell, "mit dem eigenen Konsumverhalten etwas zu verändern" nach vorne tragen will.


Oberes Bild: Sterile Kantinenatmosphäre, unten: Bunte Salatplatte beim Stadtgarten-Picknick - Foto: © 2015 by PROKINO Filmverleih GmbH

Können wir durch unser Eßverhalten die globale Entwicklung beeinflussen?
Mitarbeiter einer japanischen Pflanzenfabrik und Mary Clear, Initiatorin von Incredible Edible in England
Foto: © 2015 by PROKINO Filmverleih GmbH

Auch weitere grundlegende Mechanismen und wirtschaftliche Machtinteressen werden nicht weiter hinterfragt, die immer noch ganze landwirtschaftliche Regionen unterwerfen. Statt dessen wird bestenfalls das "Unheimliche des produktiven, ungebrochenen Wachstums" beschrieben: Es bringt eine Landwirtschaft hervor, die sogar noch Hunger macht - ein tragischer Kollateralschaden also, der jedoch mit einer politischen Kursänderung und viel Eigeninitiative, so der Tenor des Films, zu korrigieren wäre.

Noch mehr kritische Analyse würde vermutlich auch den Rahmen eines solchen filmischen Projekts, das auch noch Kasse machen und Zuschauer einbinden soll, sprengen. Das gleiche gilt für viele weitere Denkansätze und Fragen zur Welternährung wie das Ausweichen auf andere Eiweißquellen oder Kohlehydratquellen beispielsweise Meeresfrüchte oder Algen, die durch Ressourcenausschöpfung, Ausbeutung, Überfischung und zunehmende Umweltzerstörung kaum noch eine Alternative darstellen. Dennoch bleiben auch in diesem unverkennbaren "Thurnfilm" genügend Widersprüche übrig, die er seinem Publikum zu verdauen gibt, indem er auf bewährte Weise Versprechen und Realitäten gegenüberstellt.


Blick auf das Kino - Foto: © 2015 by Schattenblick

Das Hamburger ABATON
Foto: © 2015 by Schattenblick


Anmerkungen:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0070.html

[2] Ein Interview, das im Rahmen der Preview mit dem Regisseur Valentin Thurn stattfand, finden Sie hier:
http://www.schattenblick.de/infopool/medien/report/mrei0007.html

16. April 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang