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REZENSION/034: Dem Schlachten ein Ende setzen - Marxismus und Tierbefreiung (SB)


Kontroversen zum Mensch-Tier-Verhältnis zwischen Herrschaftskritik und Marktkonformismus


Zur Schwerpunktnummer der Zeitung antidotincl., herausgegeben von der Tierrechtsgruppe Zürich




"Dem Schlachten ein Ende setzen" - ganz oben auf der blutrot grundierten Grafik jenes Wolkenkratzers, in dessen Kellergewölbe, hermetisch gegen die Schreie der Opfer abgeschottet, Max Horkheimer "das unbeschreibliche, unaussprechliche Leiden der Tiere" als Fundament der gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse verortete, wird die Aufhebung dieser Vertikale des Schmerzes proklamiert. Nicht als moralischer Imperativ, geht dieser doch aus einem monotheistischen Bekenntnis hervor, das dem Menschen letztinstanzlich aufträgt, sich die Erde untertan zu machen, sondern als Ziel der Befreiung der Menschen und der Tiere von einem räuberischen Verhältnis, dessen Gewalt durch keine noch so idealistische Naturverklärung ignoriert werden kann. Die Tierrechtsgruppe Zürich, die für diese Ausgabe der jeweils von einem anderen Herausgeberkreis gestalteten linken Schweizer Zeitschrift antidotincl. verantwortlich zeichnet, verrät mit den schwarz abgesetzten Lettern "Marxismus und Tierbefreiung" unter dem programmatischen Titel des Hefts, daß zumindest ein Teil dieses Weges bereits ausgeleuchtet ist.

Im Editorial erklärt die Gruppe, was sie dazu bewogen hat, mit diesem Ansatz an die vielleicht nicht nur linke Öffentlichkeit zu treten. Als "revolutionäre Linke und TierbefreierInnen" treten sie an, die eigene Position zwischen den Stühlen verschiedener emanzipatorischer und revolutionärer Ansätze zu bestimmen und die jeweiligen Auslassungen in ein Instrument neuer Stärke und Einigkeit zu verwandeln. Während der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung nicht genügend bewußt sei, "dass die Tierausbeutung ihre Ursache in der kapitalistischen Klassengesellschaft hat", habe die antikapitalistische Linke "den Keller übersehen und das gesellschaftlich produzierte Leiden und dessen Aufhebung oft mit ideologischen Argumenten von ihrer Agenda verbannt". Um den Einsturz des ganzen Herrschaftsgebäudes zu bewirken, "damit an seiner Stelle ein neues Haus entstehen kann, in dem um des Lebens willen gelebt und nicht für Profite, sondern nach Bedürfnissen produziert wird", plädiert die Tierrechtsgruppe Zürich, sich "für die Befreiung der Tiere und die Abschaffung des Kapitalismus gleichermassen" einzusetzen.

Zu der Debatte, die in sozialen Bewegungen und linken Gruppierungen eher auf Sparflamme schwelt, könnte dieses Heft einiges beitragen, um sie im Sinne neuer Handlungsfähigkeit fruchtbar zu machen. Dies um so mehr, als die dort vertretenen Autorinnen und Autoren zwischen den Antipoden humanistischer und antispeziesistischer Weltanschauung angesiedelt sind, also weder der Verabsolutierung des Menschen zum einzigartigen Vernunftwesen noch der idealistischen Einebnung aller Differenzen im Mensch-Tier-Verhältnis das Wort reden.


So wird dem Antispeziesismus in dem Beitrag des italienischen Philosophen Marco Maurizi "Speziesismus und historischer Materialismus" beschieden, nicht genügend zwischen der materiellen Praxis des Speziesismus, die das ganze Elend der Tierausbeutung umfaßt, und seiner idealistischen Legitimation zu unterscheiden. Kritikern des Speziesismus wie dem Bioethiker Peter Singer, dessen Werk "Animal Liberation" maßgeblich zur ideologischen Fundierung der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung beigetragen hat, lastet Maurizi eine ahistorische und ontologische Sichtweise an, die die historisch-materialistischen Voraussetzungen des Mensch-Tier-Verhältnisses ignoriert.

Indem die Domestizierung von Pflanzen und Tieren die rasante Produktivkraftentwicklung der letzten 5000 Jahre ermöglichte, legte sie auch die Grundlagen der Versklavung des Menschen durch den Menschen, lautet die zentrale These Maurizis. Die Etablierung der "Spezies" Mensch und die Zusammenfassung höchst unterschiedlicher Lebewesen unter den Begriff des Tieres ist für den marxistischen Philosophen die Folge eines Prozesses der Entfremdung von der eigenen tierischen Herkunft und der Zurichtung der Tiere zu Objekten menschlichen Nutzens. Die relevante Frage laute nicht, wie im "metaphysischen Antispeziesismus" eines Singer gestellt, wann wir angefangen haben, die anderen Tiere zu unterdrücken, sondern wann wir vergessen haben, daß wir Tiere sind. Die Menschen beginnen damit, "sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst", so Maurizis Verweis auf "Die deutsche Ideologie" von Marx und Engels.

Damit wurde auch die Grundlage dafür gelegt, daß das anthropologisch zentrale Kriterium des Unterschieds zum Tier im Bewußtsein des geschichtlichen Werdens des Menschen, in seinem "Geist", verortet wird. Während Maurizi zugesteht, daß wir "uns und unsere Umwelt durch die Arbeit tatsächlich verändern", hält er diese Trennscheide für "illusorisch, weil wir immer noch Tiere sind, Teil der Natur, materielle Wesen". Das wiederum beweise "unsere Einzigartigkeit: Der Mensch ist das Tier, das vergisst, dass es ein Tier ist".

Die Akzeptanz dieser ungleichen Ordnung, ihre Differenzierung wie Zentralisierung im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Erwirtschaftung eines Überschusses, der die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit und damit die Ausbildung von Klassengesellschaften zur Folge hatte, bedinge die wechselseitige Entwicklung der Ausbeutung der Tiere und der Menschen:

"Auch wenn die mesopotamischen Könige den Stier nicht wie ein Ding sahen, war das dem Stier aufgezwungene Joch die Voraussetzung der Existenz des mesopotamischen Staates, da es die notwendige Akkumulation ermöglichte, um die staatliche Bürokratie zu ernähren. Wenn Tiere zum Rädchen im Herrschaftsmechanismus werden, sind sie schon nicht mehr dem Menschen überhaupt, sondern der höheren Notwendigkeit des Staates unterworfen. Es geschieht nur durch eine innere gesellschaftliche Hierarchie, dass das äussere Verhältnis zum Tier selbst hierarchisch wird (Menschen kontrollieren Menschen, die Tiere kontrollieren). Das ist wieder ein dialektischer Prozess: Hat die Sklaverei des Stiers die Sklaverei des Menschen ermöglicht, so hat die menschliche Sklaverei die Distanz zwischen der Spitze und der Basis der Pyramide vergrössert." [1]

In der Konsequenz dieses Prozesses sei "die Befreiung der Tiere mit der Befreiung der Menschen identisch". So, wie die zerstörerische Logik des Kapitals, die auf gesellschaftlichen Strukturen wie Klassenantagonismen, ökonomische Ausbeutung und Staatsgewalt beruhe, vor Tausenden von Jahren durch die Unterdrückung von Menschen und Tieren geschaffen wurde, so könne der Speziesismus nur in diesem historischen und materiellen Rahmen verstanden und bekämpft werden. Maurizis bereits im Heft stark kondensierte und hier noch einmal verkürzt wiedergegebene historisch-materialistische Analyse des Mensch-Tier-Verhältnisses könnte sich als das fehlende Glied zu einer Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus erweisen, die heute aus allerdings ganz anderen, ideologisches Hegemoniestreben betreffenden Gründen als weithin diskreditiert gilt.


Das widersprüchliche Verhältnis des Menschen zu einer Produktionsweise, deren Errungenschaften stets davon begleitet sind, daß sie "zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter" (Marx), basiert zum einen auf der bis heute unzureichend kritisierten Verabsolutierung einer Produktivkraftentwicklung, deren stoffliche Voraussetzungen zusehends in Frage gestellt sind. Zum anderen bricht es an einem Humanismus, dessen emanzipatorischer Anspruch zwar die Befreiung vom Joch der Religion möglich machte, dies jedoch auf der Grundlage einer positivistischen Erkenntnis- und Wissenschaftsdoktrin tat und tut, in deren anthropozentrischem Weltbild sich ein quasireligiöses Glaubensbekenntnis reproduziert.

Christian Stache wirdmet sich in seinem Beitrag "Marxismus und Tierbefreiung" der Einbeziehung der Tiere und der Natur in die sozialen Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise, die "auf der Organisation der Arbeit über den Markt und auf dem Klassenverhältnis zwischen KapitalistInnen und ArbeiterInnen" beruhen. Wo nichtmenschliche Lebewesen auch vielen Marxistinnen und Marxisten nichts als Produktionsmittel sind und "die von den Tieren produzierten oder die durch sie dargestellten Gebrauchswerte durch die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft zu einem Produkt gemacht" werden, "das Träger von Profiten ist", da werden Natur und Tiere nicht anders als menschliche Arbeit einer Praxis der Ausbeutung unterworfen, die ihrem ureigenen Interesse gegenüber nur fremd und feindlich sein kann.

Stache konkretisiert diese Praxis am Beispiel der elenden Arbeitsverhältnisse und oligopolistischen Konzentrationsprozesse in der Fleischindustrie sowie der Förderung des industriellen Schlachtens durch den Staat. In seinem Beitrag "Das Schlachthaus Europas", den die Tierrechtsgruppe Zürich durch einen entlarvenden Blick auf "Die Schweizer Fleischindustrie" erweitert, beschreibt er die strukturellen und kapitalistischen Voraussetzungen eines Tierverbrauchs, der das archaische Nutznießverhältnis zum domestizierten Tier in der industriellen Produktivkraftentwicklung für den einzelnen Menschen so unsichtbar macht wie alle Praktiken räuberischer Aneignung, die im abstrakten Tauschwertcharakter des Geldes rückstandslos aufgehen. Wer Mensch und Tier vor Ausbeutung und Gewalt schützen wolle, kommt, so Stache, nicht daran vorbei, den großen Akteuren des Fleisch-Kapitals "den wirtschaftlichen Zweck des Schlachtens zu nehmen, um es zu beenden".

Die Tierrechtsgruppe Zürich greift den Faden mit "Überlegungen zu den Widerstandspraxen der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung und der Frage nach einer revolutionären Strategie" auf. "Vom sozialen Widerstand zum Klassenkampf" lautet die Präzisierung ihres perspektivischen Selbstverständnisses, das zwar davon ausgeht, daß "eine sozialistische Revolution nicht automatisch zur Aufhebung der Tierausbeutung" führe, sie jedoch die materiellen Voraussetzungen dafür schaffe: "die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Ausrichtung der Produktion an den Bedürfnissen der Gesamtheit wie der einzelnen Individuen - anstatt an der Produktion von Mehrwert im Interesse einer kleinen Gruppe von KapitalbesitzerInnen."


Dementsprechend zielt der grüne Kapitalismus darauf ab, die Wurzel des Problems zu verschleiern, um den Komfort einer kleinen Zahl von Menschen zu Lasten des Gros der Weltbevölkerung zu sichern. Ohne profunde Kritik am Wachstumsprimat kapitalistischer Ökonomie und damit auch seiner vermeintlichen Rettung durch die sogenannte Effizienzrevolution als einer Form intensivierter Nutzung, die an der theoretischen Endlosigkeit des Wachstums des Kapitals und der dadurch bedingten Maßlosigkeit des Verbrauchs scheitert, wird das Feld sozialökologischer Fragestellungen administrativen Regulationen überlassen, die den Bestand kapitalistischer Wertproduktion und Herrschaftsicherung durch eine Form der Mangelverwaltung sichern, die noch mehr als bisher zu Lasten all jener Menschen gehen wird, die sich nicht am "Markt" behaupten können. Die dafür angebotene Lösung, die externalisierten Kosten industrieller Produktion durch Preisaufschläge zu internalisieren, blendet soziale Widersprüche auch deshalb aus, weil deren vorrangige Inanspruchnahme ihre Überwindung zwingend erforderlich machte.

"Wie grün kann ein Green New Deal sein?" fragt Athanasios Karathanassis in seinem Beitrag zum "Mythos grüne Marktwirtschaft", in dem er die Verbindung zur Postwachstums- und Degrowthdebatte herstellt. Wo diese ihrerseits dazu neigt, fundamentale Widersprüche der kapitalistischen Vergesellschaftung als auch im Mensch-Tier-Verhältnis zugunsten individualistischer, reformistischer oder marktwirtschaftlicher Lösungen auszublenden, so bietet sie in der Analyse sozialökologischer Probleme Einstiegsmöglichkeiten in Fragestellungen, die durch antikapitalistische Positionen sinnvoll fortzusetzen wären. Eine den Interessen und Bedürfnissen von Mensch und Natur gemäße Produktionsweise zu entwickeln bedeutete schon in pragmatischer Hinsicht, die auf den Körpern der Tiere basierende Produktionsweise als besonders verbrauchs- und verschleißintensive Möglichkeit gesellschaftlicher Reproduktion zu reduzieren und mit Hilfe einer Konversion tierischer zu pflanzlichen Nahrungsmitteln zu überwinden.

Dies aus einer prinzipiell antikapitalistischen Position heraus zu tun stößt in Anbetracht der Fortschritte, die der grüne Kapitalismus mit der Verpflichtung der Menschen auf einen nachhaltigen Lebensstil macht, auch unter Veganerinnen und Veganern auf Ablehnung. John Lütten analysiert in seinem Beitrag "Vegan for Profit" die Entwicklung des Veganismus zu einem marktförmigen und integrativen Lebensstil, der die Radikalität der Tierbefreierinnen und Tierbefreier einer doktrinären und konfrontativen Weltanschauung zuschreibt. Die zentrale Botschaft des sogenannten Lifestyle-Veganismus lautet hingegen, daß sich die Welt auch zugunsten der Tiere über Kaufentscheidungen im Supermarkt oder Bioladen verändern ließe. Lütten bestreitet nicht die Sinnhaftigkeit grüner Innovationen und nachhaltiger Produkte, sondern lastet dieser konsumistischen Ideologie die Ausblendung der ursächlichen Faktoren der Wachstumslogik und des Konkurrenzprinzips an. Neues Wachstum über die Inwertsetzung sogenannter Ökosystemdienstleistungen zu generieren und das persönliche Interesse an gesellschaftlicher Veränderung durch Aktivitäten rund um die Gestaltung eines veganen Lebensstils zu befriedigen dient sich einer Entpolitisierung an, für deren Wirkmächtigkeit die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung mitverantwortlich sei, indem sie die persönliche Lebensführung häufig in den Mittelpunkt des Aktivismus gestellt habe.

Diese Entwicklung ist auch deshalb für das Anliegen einer umfassenden Befreiung von Herrschaft und Ausbeutung bedeutsam, weil ihr zwei hochwirksame Strategien zur zweckmäßigen Kompensation individueller Ohnmachtserfahrung zugrunde liegen. Zum einen erzeugt die Behauptung, die Mißlichkeiten und Widersprüche des eigenen Lebens ließen sich durch Konsumentscheidungen in den Griff kriegen, die irreführende Suggestion persönlicher Souveränität. Diese wird weder durch den Primat einer Produktionsweise, die die Herstellung und Auswahl angebotener Waren weitreichend vorschreibt, noch durch die soziale Realität der Lohnabhängigenklasse, deren Konsumniveau durch eine Standortvorteile und Mehrwertraten nationalökonomisch bevorteilende Produktion billiger Nahrungsmittel bestimmt wird, noch durch den realpolitischen Einfluß des einzelnen Menschen auf die administrative Verfügungsgewalt gedeckt.

Zum anderen liegen Welten zwischen der Position, Tierprodukte auch dann nicht zu konsumieren, wenn dies individuelle Nachteile gesundheitlicher oder anderer Art mit sich bringt, und dem werbewirksamen Versprechen, durch vegane Ernährung schlanker, schöner und vitaler zu werden. Letzteres rückt auch deshalb in den Mittelpunkt der Debatte um Tierverbrauch in den Mainstreammedien, weil sich damit nahtlos an die Forderung leistungssteigernder Selbstoptimierung und die Ausbildung einer medizinalpolitischen Gesundheitsdoktrin anknüpfen läßt, die die körperlichen und geistigen Probleme des Marktsubjektes im Sinne der Bezichtigung, selbst an der eigenen Misere schuld zu sein und sich dementsprechend weitreichende Eingriffe in die eigene Lebensführung gefallen zu lassen, von jeglichem gesellschaftlichen Zusammenhang entkoppelt.

So soll der Mensch heute nicht mehr durch massive Disziplinargewalt in die Zange aus staatlicher Austeritätspolitik und gesundheitlich begründeter Einschränkung genommen werden. Er soll den ihm aufgeherrschten Konsumverzicht vielmehr als Selektionsvorteil in der sozialdarwinistischen Leistungskonkurrenz und als Statusvorteil im bürgerlichen Distinktionsstreben begrüßen. Dies wiederum fügt sich bestens in die Umverteilungslogik des grünen Kapitalismus ein, die nicht danach fragt, wie eine Gesellschaft zu gestalten wäre, in der die Interessen und Bedürfnisse aller verwirklicht werden können. Statt dessen soll das Problem eines ökologisch destruktiven Verbrauchs durch den Primat einer Verzichtsmoral gelöst werden, der sich der Mensch desto mehr zu unterwerfen hat, je niedriger seine sozialökonomische Stellung in der Hierarchie der Verbrauchsberechtigten ist.

Die Attraktivität dieses Regulationsmodells wurzelt nicht zuletzt in der grünen Idealisierung einer Natur, deren vermeintlich nicht hinterfragbare Systemlogik alles optimal regelt, so lange der Mensch nicht auf eine Weise interveniert, die die Voraussetzungen eigenen Überlebens gefährdet. Die reprojektive Anwendung des Naturzwanges auf Form und Funktion der Gesellschaft öffnet einem Biologismus Tür und Tor, der keine emanzipatorische oder revolutionäre Perspektive zuläßt, da dies den quasi naturgesetzlichen Ordnungsrahmen eines kausal determinierten Systems außer Kraft setzte. So mündet die Überwindung des jüdisch-christlich-islamischen Postulats von der Herrschaft des Menschen über die Natur, die durch die zeitgemäße Mahnung nach der Wahrung göttlicher Schöpfung nicht aufgehoben wird, in das systemtheoretische Glaubenspostulat vom Selbsterhalt autopoietischer Systeme. In beiden Fällen muß sich der Mensch darauf bescheiden, als alternativlos postulierte Gewaltverhältnisse zu akzeptieren und sich den Imperativen einer höheren Ordnung zu unterwerfen.

"Auch die Natur wartet auf die Revolution" - was die Gruppe Assoziation Dämmerung unter Verweis auf Herbert Marcuse zum Titel ihrer Herbstakademie 2013 erwählte und in dem Heft im Rahmen eines Interviews für den Weekly Worker, die Zeitschrift der Communist Party of Great Britain (CPGB), thematisiert wird, appelliert mithin an den Menschen.


Dessen Selbstverständnis als evolutionär fortgeschrittenstes Lebewesen und seine Einbindung in gesellschaftliche Naturverhältnisse konfrontiert ihn mit der höchst aktuellen Frage, wie die von ihm verursachte Zerstörung an der eigenen Lebenswelt, die von der Natur nicht zu trennen ist, während er sich gleichzeitig von ihr zu emanzipieren versucht, beendet werden könnte. Dieses widersprüchliche Verhältnis hat Karl Marx in den Pariser Manuskripten anläßlich der Bestimmung des Begriffs der entfremdeten Arbeit in die Kategorie des "Gattungswesen" gefaßt, zu dem der Mensch durch "bewußte Lebenstätigkeit" werde. Diese entfremde den Menschen von der Natur, die quasi sein "unorganischer Leib" sei, mit dem er "in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben":

"Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewahrung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens, d.h. eines Wesens, das sich zu der Gattung als seinem eignen Wesen oder zu sich als Gattungswesen verhält. Zwar produziert auch das Tier. Es baut sich ein Nest, Wohnungen, wie die Biene, Biber, Ameise etc. Allein es produziert nur, was es unmittelbar für sich oder sein Junges bedarf; es produziert einseitig, während der Mensch universell produziert; es produziert nur unter der Herrschaft des unmittelbaren physischen Bedürfnisses, während der Mensch selbst frei vom physischen Bedürfnis produziert und erst wahrhaft produziert in der Freiheit von demselben; es produziert nur sich selbst, während der Mensch die ganze Natur reproduziert; sein Produkt gehört unmittelbar zu seinem physischen Leib, während der Mensch frei seinem Produkt gegenübertritt." [2]

Indem Marx dem vom Warencharakter der Arbeit nicht entfremdeten Menschen prinzipiell zugesteht, seine Lebenspraxis nicht unter den Zwang zur Bedürfnisbefriedigung stellen zu müssen, weist er ihm ein Handlungsvermögen zu, das den deterministischen Charakter des Naturzwangs potentiell außer Kraft setzt. Wo das Bedürfnis den axiomatischen Charakter einer kausalen Letztbegründung für dadurch bedingte menschliche Aktivitäten aufweist, könnte der Mensch zumindest konzeptionell als naturgesetzlich ausgewiesene Gewaltverhältnisse bestreiten, anstatt ihren Vollzug akzeptieren zu müssen.

Marx hat seine Ansichten aus dieser frühen Auseinandersetzung mit dem anthropologischen Materialismus Ludwig Feuerbachs später teilweise revidiert, um die Bedeutung der gesellschaftlichen Praxis gegenüber den philosophischen Postulaten des Idealismus hervorzuheben und in ein dialektisches Verhältnis zu ihrer theoretischen Reflexion zu setzen. So sei das menschliche Wesen "kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum", sondern "das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse". Der "anschauende Materialismus" Feuerbachs, "der die Sinnlichkeit nicht als praktische Tätigkeit begreift", sei lediglich zur "Anschauung der einzelnen Individuen und der bürgerlichen Gesellschaft" in der Lage, während der Standpunkt des neuen Materialismus "die menschliche Gesellschaft, oder die gesellschaftliche Menschheit" sei. In der berühmten 11. der Marxschen "Thesen über Feuerbach" [3] - "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern" - wird denn auch die Überwindung herrschender gesellschaftlicher Verhältnisse eingefordert.

Indem Marx zur Selbstkritik aufrief und seine theoretischen Ausgangsbedingungen im Fortschritt des Erkenntnisprozesses veränderte, bekräftigte er auch die Freiheit des Menschen, die vermeintlich ehernen Grenzen der Natur in Theorie und Praxis durchlässig zu machen. In diesem Sinne könnte das Anliegen universaler Befreiung für eine revolutionäre Linke wie für Menschen, denen Tieren durch Menschen zugefügte Gewalt unerträglich ist, dadurch wirksam werden, daß es sich nicht auf Wahrheitspostulate stützt wie das eines Materialismus, der positivistisch unterstellt, was erst im dialektischen Prozeß auf der Höhe der erreichten Erkenntnis zu bestimmen ist.

So ist etwa die Vermeidung von Schmerz und Gewalt durch die Elimination des Tierverbrauchs nicht gleichbedeutend mit der Lösung des Problems, als stoffwechselbedingter Organismus Lebewesen pflanzlicher Art zu konsumieren und im Prozeß ihrer Produktion Tiere aller Art zu vernichten. Sich über den Tierverbrauch zu erheben erweist sich auch dann als Rückfall in eine bürgerliche Moral, die mit der Bemessung individueller oder kollektiver Schuld nichts anderes als die Befestigung herrschaftlicher Ansprüche verfolgt, anstatt die Gewaltverhältnisse zwischen Menschen und gegenüber der Natur anzugreifen, wenn die kapitalistische Wertproduktion dabei unkritisiert bleibt.

Wie die Inakzeptanz des Zufügens von Schmerzen keiner tieferen Begründung bedarf, so strebt der Mensch vergeblich nach Frieden in einer Welt, in der ein Lebewesen das andere frißt. Sich nicht mit einer Moral zu bescheiden, die dem Gewissen ein gutes Ruhekissen ist, sondern den Befriedungs- und Harmonisierungscharakter in Anspruch genommener Unschuld zugunsten der praktischen Beendigung des Krieges gegen Mensch und Natur zu verwerfen, mag unpopulär sein, bietet jedoch die größte Handhabe zu praktischer Erkenntnis. Keiner abstrakten Ordnung und ihrer gesellschaftlichen Realisierung in der Bezichtigungsdynamik von Gut und Böse zu unterliegen ist ein nicht minder schwieriges Unterfangen, als die Utopie der Befreiung von Mensch und Tier wider die herrschenden Gewalt- und Verbrauchsverhältnisse durchzusetzen. Dazu bieten die besprochenen und vielen weiteren Artikel des vorliegenden Heftes allen Anlaß.


Fußnoten:

[1] http://www.tierrechtsgruppe-zh.ch/wp-content/uploads/2014/11/Leseprobe.pdf

[2[ http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1844/oek-phil/1-4_frem.htm

[3] http://www.mlwerke.de/me/me03/me03_005.htm

Bezug der im November 2014 erschienenen Schwerpunktnummer der Zeitschrift antidotincl. siehe
http://www.tierrechtsgruppe-zh.ch/?page_id=1726


19. Dezember 2014


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