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REZENSION/017: Sonnenaufgang am Meeresgrund (Phoenix) (SB)


Sonnenaufgang am Meeresgrund

Die unbekannte Landschaft der Tiefsee

Vorabbesprechung einer TV-Sendung des Fernsehkanals Phoenix


Der größte Teil der Erde, rund 70 Prozent, ist von Wasser bedeckt. Da wundert es nicht, daß sich unter der Meeresoberfläche weitläufige Regionen verbergen, die nie ein Mensch zuvor betreten hat, um es mit einer bekannten SciFi-Serie zu sagen. Das Meerwasser füllt Gräben und Senken, bedeckt weitläufige Ebenen und riesige Gebirge und entzieht dieses abwechslungsreiche Relief vollständig dem Blick.

Der Produzent und Filmemacher Steve Nicholls hat in seiner 90minütigen Dokumentation "Sonnenaufgang am Meeresgrund", die der Fernsehsender Phoenix am 11. Januar 2010 in deutscher Erstausstrahlung präsentiert, virtuell das Wasser abgelassen. Er zeigt mit Hilfe von Computeranimationen, die unter anderem auf der Basis von Satelliten- und Sonarmessungen erstellt wurden, eine allgemein wenig bekannte Unterwasserlandschaft. Auf diese Weise werden plötzlich kilometerhohe Steilwände, Zehntausende Kilometer lange, teils magma-spuckende Risse, heiße Schlammvulkane und Korallenbänke größer als Wolkenkratzer freigelegt.

So beeindruckend diese rechnerbasierten Einblicke auch sind, übertroffen werden sie sogar noch von den Aufnahmen dessen, was sich in jenen kaum erforschten Regionen abspielt, wenn das Wasser genau nicht abgelassen ist. Viele Meter langes Seegras vor der Küste Kaliforniens, das dem Sonnenlicht zustrebt, Tiefseebewohner von kaum festerer Substanz als ihre Umgebung und Myriaden von lichterzeugenden Kleinstlebewesen in der ansonsten lichtlosen Sphäre tiefster Meeresregionen bieten mindestens ebenso viele Anlässe, sich faszinieren zu lassen, als die Darstellung des Reliefs des Meeresbodens.

Sprächen in dieser Dokumentation Text und Bild für sich, bedürfte es eigentlich keiner besonders antreibenden und manchmal aufdringlich kathedralischen Musikbegleitung. Die Spannung sollte sich aus dem Gezeigten ergeben, bestenfalls unterstützt durch die Musik. Daß der klangliche Eindruck zu dominieren versucht, verleiht dem Film einen allzu gewollt bombastischen Charakter. Auch wird hier eindeutig zu verschwenderisch mit überzogenen Vergleichen und Superlativen umgegangen. Da müssen die Unterwasserberge selbstverständlich spektakulärer, die katastrophalen Ereignisse gewaltiger, die Lebensformen phantastischer sein als außerhalb der Meere. Etwas weniger dick aufgetragen wäre mehr gewesen, das gaben die angeschnittenen Themen durchaus her. Zudem wäre dann - vermutlich - auch die inhaltsleere Aussage zu einem der gezeigten Naturphänomene nicht gefallen, nämlich daß es bis zu seiner "überraschenden Entdeckung vollkommen unbekannt" war. Zeichnet das nicht alle Entdeckungen aus?

Allerdings gelangt der Charakter der Übertreibung nicht zuletzt durch die Erklärungen der zu Wort gekommenen Wissenschaftler in die Dokumentation. Es läßt sich schwer unterscheiden, ob die Forscher tatsächlich so begeistert von ihrer Arbeit sind, wie es den Anschein hat, oder ob sie die Begeisterung einsetzen, um die Wichtigkeit dessen, was sie tun, zu betonen. Forscher in den USA verstehen sich in der Regel mehr noch als in Deutschland darin, die vermeintlich kolossale Bedeutung ihrer Arbeit herauszustreichen - nicht zuletzt, um sie auf diese Weise Geldgebern oder potentiellen Geldgebern schmackhaft zu machen. Da werden schon mal gern Heldentaten verbreitet, wenn beispielsweise erläutert wird, welche Schwierigkeiten überwunden und welch technischer Aufwand betrieben werden mußte, um ein Stück Meeresgrund per Sonar abzutasten und anschließend ein Computerbild von der Oberflächenform zu programmieren. Es liegt jedoch immer im Ermessen des Filmemachers, inwieweit er das Anpreisen unreflektiert übernimmt oder kritisch begleitet.

Wollte man den Gesamteindruck der Dokumentation "Sonnenaufgang am Meeresgrund" mit wenigen Worten beschreiben, so handelt es sich um eine Aneinanderreihung von "Wow!"-Effekten. Wohingegen die hinter den "Naturwundern" steckenden wissenschaftlichen Erklärungsmodelle, gemessen an anderen Wissenschaftssendungen im Fernsehen, bestenfalls ansatzweise wiedergegeben werden; ganz zu schweigen davon, daß Nicholls über kontroverse Ansichten zu einem bestimmten Naturphänomen keinerlei Worte verliert.

Beispielsweise erfahren die Zuschauerinnen und Zuschauer, daß im Atlantik sogenannte Transformstörungen auftreten. Dabei handelt es sich um scharf geschnittene Versetzungen des Meeresbodens um teils mehrere hundert Kilometer annähernd senkrecht zum mittelatlantischen Rücken. Leider wird nicht erklärt, wie sich Wissenschaftler das Zustandekommen solcher Störungen vorstellen. Es blieb bei der reinen Phänomenbeschreibung.

Vergleichsweise mehr erfährt das Publikum dagegen über die Inselkette Hawaii. Sie liegt über einem sogenannten Hot Spot, an dem aus dem Innern der Erde eine Magmablase aufsteigt. Die ist relativ ortsfest, wohingegen die Erdplatte in geologischen Zeiträumen darüber hinwegzieht und immer wieder eine neue Vulkaninsel entsteht, während die älteren erkalten und allmählich von Erosionskräften abgetragen werden. Dadurch entstand eine linienförmige Inselkette, mit dem mächtigen und heute noch hochaktiven Schildvulkan Mauna Kea an ihrem südlichen Ende.

Sicherlich diskutierenswert ist die Behauptung, daß dieser mit seinen 10.205 Metern der höchste Berg der Erde ist und nicht der Mount Everest (8.848 m). Während bei diesem Vergleich der Mauna Kea vom Meeresgrund an gemessen wird, dient dem Mount Everest das Niveau der Meeresoberfläche als Bezugsgröße. Ein Größenvergleich, bei dem von vornherein verschiedene Niveaus als Ausgangswert genommen werden, ist ebenso problematisch wie der Vergleich zwischen zwei Bergen, die auf völlig verschiedene Weise entstanden sind, einmal als aktiver Vulkan und einmal als Teil eines Faltengebirges. Der Größenvergleich erscheint nur deshalb plausibel, weil solche Faktoren ausgeblendet werden.

Didaktisch folgt die Dokumentation keiner straffen Linie. Das bringt Vor- und Nachteile. Wie oben erwähnt zeigt Nicholls nicht nur, wie die Erde ohne das Meer aussähe, sondern auch, welche Überlebensfertigkeiten die Meeresbewohner entwickelt und wie sie sich der Umgebung angepaßt haben. Ein Nachteil besteht in der mangelhaften Systematik des Gezeigten; ein Vorteil liegt darin, daß hier biologische und geologische Phänomene aus ein und derselben Region nebeneinander gestellt werden. Das verhilft zu einem Eindruck, wie sehr die Lebensformen das - vorläufige - Produkt ihrer Umgebung sind. Veränderungen des Umfelds können bekanntlich bis zum Aussterben von Arten führen, wenn es diesen nicht rechtzeitig gelingt, sich von den naturgegebenen Zwängen zu befreien.

Letztlich ist auch der Mensch eine Art unter vielen, die von ihrem Überlebensinteresse geleitet wird. Das Ausmaß der nach wie vor kaum erforschten Meere und der technologische Aufwand der Erkundung zeigen überdeutlich, daß sie nicht der natürliche Lebensraum des Menschen sind. Die menschliche Sphäre bildet vielmehr so etwas wie einen Biofilm auf der Erdoberfläche - von gelegentlichen Ausflügen des Menschen ins All und in die Tiefsee einmal abgesehen. Der Mensch lebt in einem gasförmigen Ozean, der Atmosphäre. So wie Zivilisation entwickelnde Meeresbewohner es vermutlich schwierig fänden, den Luftozean zu erforschen, fällt es den Menschen schwer, sich im Meer zu bewegen und es zu erkunden. Nicholls virtuelle Welten, die teils eigens für diese Dokumentation programmiert wurden, füllen die riesigen Lücken "echter" Aufnahmen von der Welt unterhalb der Meeresoberfläche.

Ob eine Fernsehdokumentation damit überfordert wäre, wenn sie auf den gesellschaftlichen Hintergrund der Kartierung und Darstellung des Ozeanbodens eingegangen wäre? Diese Frage stellt sich insofern, als daß die Meeresforschung wahrscheinlich nicht finanziert würde, wenn nicht die unerforschten Regionen des Planeten schon immer die Begehrlichkeiten hegemonialer Interessen geweckt und diese Forschungsrichtung nicht in der Vergangenheit bewiesen hätte, daß sie die in sie gesteckten Erwartungen erfüllt. Zugriff auf ausbeutbare Rohstoffe in den geologischen Formationen und auf biologische Ressourcen begleiten die Meeresbodenkartierung, deren Ursprung sowieso militärisch ausgerichtet war. Die Dokumentation ist somit eine Art Beifang auf der Jagd nach gänzlich anderen Schätzen der Natur. Aber, das sei hier abschließend angemerkt, der "Beifang" kann sich sehr wohl sehen lassen.


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Sonnenaufgang am Meeresgrund
Deutsche Erstausstrahlung
11. Januar 2010, 20.15 Uhr
Phoenix

23. November 2009