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STANDPUNKT/016: Köln - Ein Kommentar (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Köln: Ein Kommentar

von Johanna Heuveling, 10. Januar 2016


Vieles wird geschrieben und kommentiert und viele Erklärungen laufen andauernd über den Äther. Viele, denen man spontan zustimmt, um danach wieder eine andere Erklärung zu lesen, die auch in sich stimmig zu sein scheint. Wir haben lange gezögert, in dieses disharmonische Orchester einzusteigen.

Pressenza kann sich nicht zur Aufgabe machen, alles aufzuklären, was passiert ist, weder bei den Pariser Anschlägen, noch bei den Kölner Übergriffen, denn dafür fehlen uns die direkten Informationsquellen. Was wir von Pressenza, einer Nachrichtenplattform für Frieden und Gewaltlosigkeit, jedoch tun können, ist es, einen Mast zur Verfügung zu stellen, oder zumindest an ihn zu erinnern. Ich denke dabei an den Mast des Schiffes des Odysseus, an den er sich binden liess, um dem Gesang der Sirenen standzuhalten. Was wir brauchen, ist eine Art innerer Mast. Eine feste Basis unserer Menschlichkeit und Überzeugung einiger Grundwerte, auf denen unsere Entscheidungen und unsere Idee dieser Welt gründen. Das kann uns schützen vor der Irrationalität, die sich jedesmal von neuem ausbreitet bei jedem schockierenden, aufrüttelnden Ereignis, und es kann uns helfen, eine kohärente Haltung zu finden, die stimmig ist, egal was passiert.

Wir haben diesen inneren Mast gespürt, als wir die Flüchtlinge in Deutschland willkommen geheissen haben. Wir waren überzeugt davon, dass wir diesen Menschen, die vor einem wahnwitzigen Krieg, Tod und Zerstörung fliehen, Schutz gewähren müssen. Nach jahrelangen Nachrichten über ertrinkende Mittelmeerüberquerer, entsetzliche Massaker in Syrien, nach dem Zorn über die Abschottung von Europa vom Rest der Welt, waren wir froh, endlich selbst Hand anzulegen und Menschen direkt helfen zu können.

Dann wurde es schwierig. Wir sehen, nach vielen Mühen, dass es anscheinend einige Menschen gibt, bei denen unser Mitgefühl keine Früchte trägt. Dass es einzelne gibt, die uns ausnutzen oder unsere Freiheiten mißbrauchen. Oder die uns einfach nicht verstehen, nicht fähig sind, sich einer anderen Kultur und Mentalität anzupassen. Da sind Männer, die über Frauenrechte lachen, Frauen, die sich weiterhin dem Mann unterordnen wollen, Menschen, die kein deutsch lernen wollen, um nur einige Erfahrungen zu nennen, die, ganz abgesehen von den Kölner Ereignissen, Alltag der Helfer_innen sind. Wir sind maßlos enttäuscht. Wir überlegen, ob wir alles falsch gemacht haben. Vielleicht hätten wir unsere Grenzen und Herzen nicht öffnen dürfen, denn nun werden wir verletzt von denen, die wir schützen wollten. Wir beginnen, den anderen abzuwerten, um uns nicht mit der eigenen Illusionshaftigkeit zu konfrontieren.

Es ist Zeit, sich bewusst zu werden, dass es niemals falsch ist, jemandem zu helfen. Der Fehler ist, zu erwarten, dass alle Hunderttausende von Menschen dadurch auf einmal zu gewaltlosen, stabilen, freundlichen Mitbürger_innen werden. Wir können unseren Beitrag leisten zu einer besseren Welt, aber wir können nicht erwarten, dass dadurch die Welt plötzlich geheilt wird.

Und wir sollten nicht vergessen, was alles Positives bewirkt wurde durch die deutsche Aufnahmebereitschaft gegenüber Flüchtlingen, die bisher - zumindest auf politischer Ebene - als einzigartiges Beispiel dasteht. Abgesehen von all den Schwierigkeiten (LaGeSo und Co.) haben wir ein sehr klares und deutliches Signal gesandt, das in der ganzen Welt sehr wohl vernommen wird und nach dem sich ab jetzt alle anderen Regierungen beurteilen lassen müssen. Man kann nicht messen und es wird niemals in den Schlagzeilen auftauchen, wie viel Schmerz gemildert wurde, wieviel Gewalttätigkeit versöhnt, wieviele mißgünstige Anschauungen gewandelt worden sind, wieviele Traumata verhindert oder geheilt worden sind. Die unterstützenden Taten, die eine syrische Familie erfährt, werden noch in Generationen spürbar sein (so wie hilfeverweigernde, abweisende Taten ebenfalls über Generationen wirken). Wir haben einen wirklichen Beitrag geleistet für die Versöhnung zwischen den Kulturen, Religionen und Ethnien. Das ist ein Schritt, wenn es vielleicht auch ein kleiner ist, zu einer universellen menschlichen Gemeinschaft, in der wir verstehen, dass die allermeisten Menschen Frieden und Gewaltlosigkeit ersehnen, in allen Ländern.

Wir dürfen uns in unserer Enttäuschung jetzt nicht losmachen von unserem Mast, der uns sehr genau verrät, was richtig und was falsch ist. Da ist noch so viel zu tun in dieser gewalttätigen Welt.


Über den Autor

Johanna Heuveling lebt in Berlin und arbeitet als Biologin an der Humboldt Universität. Aktiv ist sie in Welt ohne Kriege e.V. und Pressenza Berlin. Journalistisch interessiert sie besonders Flüchtlingspolitik, Waffenhandel, Afrika, ausserdem Kunst und Spannendes aus den Wissenschaften. Ihr Interesse ist die Überwindung der Gewalt durch gewaltlose Methoden: Versöhnung und die Überwindung der Angst, welche die Wurzel der Gewalt ist.


Pressenza
ist eine internationale Presseagentur, die sich auf Nachrichten zu den Themen Frieden und Gewaltfreiheit spezialisiert hat, mit Vertretungen in Athen, Berlin, Budapest, Buenos Aires, Hongkong, Mailand, München, Lima, London, Madrid, New York, Paris, Porto, Quito, Rom, Santiago, Sao Paulo und Wien.


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2016

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