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STANDPUNKT/013: Johan Galtung - "An Satire gibt es an sich nichts auszusetzen, wohl aber an verbaler Gewalt" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 23. Januar 2015

Medien: 'An Satire gibt es an sich nichts auszusetzen, wohl aber an verbaler Gewalt'

von Johan Galtung



Johan Galtung ist Professor für Friedensforschung, Rektor der TRANSCEND-Friedensuniversität und Autor von mehr als 150 Büchern zu Frieden und relevanten Themen. Im folgenden Kommentar setzt er sich mit dem westlichen Konzept der Meinungsfreiheit auseinander und warnt davor, sie durch verbale Gewalt auszuhöhlen.


Kuala Lumpur, 23. Januar (IPS) - Was sich in Paris am 7. Januar zugetragen hat und niemandem auf der Welt verborgen blieb, ist vollkommen inakzeptabel und unentschuldbar. Ebenso unentschuldbar wie der Anschlag vom 11. September, der sich anschließende Gegenschlag des Westens und der islamistische Terror.

Ebenso unentschuldbar wie die westlichen Umsturzversuche und die massive Gewalt in muslimischen Staaten seit 1953, als es im Iran [infolge eines von den USA unterstützten Putsches gegen den iranischen Premierminister Mohammad Mosaddeq] zu Massakern an Menschen kam, die ebenfalls eine Persönlichkeit und Identität besaßen wie die ermordeten französischen Karikaturisten. Für den Westen sind diese Menschen noch nicht einmal Zahlen, sondern 'Militärgeheimnisse'.

Das Unannehmbare ist aber nicht unerklärlich.

Um Auswege aus dieser traurigen Geschichte westlich-islamischer Gewalt zu finden, ist es wichtig, den zugrunde liegenden Konflikt zu identifizieren und nach Lösungen zu suchen. Ich frage mich, wie viele Menschen, die derzeit über Paris schwadronieren - einer Stadt, die in unser aller Herzen einen besonderen Platz einnimmt -, sich wohl die Mühe machen, sich mit einem angeblichen Al-Kaida-Sympathisanten zusammenzusetzen, um ihn zu fragen: "Wie müsste die Welt aussehen, in der du gerne leben würdest?"

Auf diese Frage hat man mir immer die gleiche Antwort gegeben: "In einer Welt, die nicht länger auf dem Islam herumtrampelt, sondern ihn respektiert." Der Wort 'herumtrampeln' deutet per se schon auf einen Akt physischer Gewalt hin. Es gibt Formen der Gewalt, die darauf abzielen, zu verletzen: die körperliche Gewalt, die mit Muskeln, Waffen und Armeen ausgeübt wird, und die verbale Gewalt, die mit Worten, Symbolen und zum Beispiel mit Cartoons zugefügt wird.

Die Einfältigkeit, die hinter dem Vorwurf an die Adresse der Geheimpolizei steckt, die Brüder [und Attentäter Chérif und Said Kouachi] nicht rechtzeitig enttarnt zu haben, schreit zum Himmel. Was 'Charlie Hebdo' zugestoßen ist, war so vorhersehbar wie die Reaktion auf den Cartoon im 'Jyllands-Posten', dessen Kulturredakteur sich dazu berufen fühlte, die dänischen Medien von der Selbstzensur zu befreien, die er bei sowjetischen Journalisten beobachtet hatte.

Eine Sache ist die politische Auseinandersetzung mit und in der ehemaligen UdSSR, eine ganz andere jedoch der bedrohliche Messerstich ins Mark menschlicher Lebensgrundlagen. Sich über das spirituelle Lebensverständnis von Menschen lustig zu machen, wie von Charlie Hebdo weltweit betrieben, ist eine Form der verbalen Gewalt, die ihrerseits Reaktionen hervorrufen kann.

Einigen der vielen anderen, die sich durch den kulturellen Autismus der Charlie Hebdo-Macher und ihre giftigen Pfeile zutiefst verletzt fühlen, hat das Massaker möglicherweise ein Gefühl der Genugtuung verschafft. Doch würden sie dieses Gefühl niemals öffentlich zum Ausdruck bringen.

In der Debatte über verbale Gewalt, die das spirituelle Selbstverständnis von Menschen angreift, verfügt der Westen über das schlagende Argument der Meinungsfreiheit - eine wundervolle Freiheit, die von denen, die etwas zu sagen haben, besonders geschätzt wird.

Und doch kann sie leicht ausgehöhlt werden - nicht durch die Selbstzensur oder die Zensur der anderen, sondern durch die 'Freiheit', verbale Angriffe nicht auf sich wirken zu lassen: Sollen sie doch ihre Meinung äußern, sollen sie doch reden und schreiben, was sie wollen, hör doch einfach nicht hin, verschließe deine Augen vor dem, was sie schreiben. Mache diese Leute zu Nicht-Personen.

Das Recht der freien Meinungsäußerung ist eine Errungenschaft des Westens für den Westen, die nirgendwo sonst auf der Welt so sehr geschätzt wird wie im Westen.

Wie viel einfacher hätte es die Meinungsfreiheit, wenn es den Menschen leichter fiele, von der Freiheit, sich nichts zu Herzen zu nehmen, Gebrauch zu machen. Doch Menschen sind keine Steine, keine leblosen Dinge.

Natürlich haben die Zielscheiben verbaler Gewalt die Möglichkeit, sich innerlich abzuschotten, ihre Augen und Ohren zu verschließen. Doch ist es wirklich das, was wir wollen? Eine durch Karikaturen polarisierte Gesellschaft, in der sich das eine Lager köstlich amüsiert, sich das andere hingegen gekränkt fühlt und leidet?

Das wollen wir sicher nicht. Das beweist allein schon die Tatsache, dass es Werte und Normen wie Rücksichtnahme, Anstand und Respekt gegenüber dem Leben gibt. So genießen wir beispielsweise einen gesetzlich verankerten Verleumdungsschutz, durch den Gehässigkeiten, etwa im politischen Diskurs, unterbunden werden sollen.

Wie verbieten Hassreden, Folterpropaganda, Völkermord, Krieg und Kinderpornographie. Menschen, denen die Argumente ausgehen, neigen dazu, andere zu beleidigen. Das ist ein Grund, warum sie häufig - vielleicht nicht häufig genug - aufgefordert werden, bei der Sache zu bleiben.

Weil es vielen an dem Verständnis und an der Fähigkeit fehlt, mit französischen Konvertiten sachlich zu diskutieren, kommt es dazu, dass sie die Grenzen des Anstands überschreiten.

Muslime haben zurückgeschlagen und in Paris gegen den islamischen Grundsatz der Barmherzigkeit verstoßen. Menschen wurden getötet, um religiöse Respektlosigkeit zu rächen.

Allerdings gibt es andere, die ähnlich verfahren: die USA, die bei jeder Kritik hellhörig werden, da sie ja ein Hinweis darauf sein könnte, dass jemand anti-amerikanistisch ist oder gar eine Bedrohung darstellt, die es auszumerzen gilt. Könnte das sogenannte Recht auf Meinungsfreiheit am Ende gar ein Köder sein, um Personen aus der Deckung zu locken und umbringen zu lassen?

Was hätte die islamische Seite tun können? Sie hätte den Weg, den Muslime in Dänemark zum Teil erfolgreich eingeschlagen haben, wählen können: den Dialog. Sie hätten die 'Charlies' zu privaten und öffentlichen Gesprächen einladen, ihre Sicht der Dinge darlegen und an das gemeinsame Verständnis der Menschlichkeit appellieren könnnen.

An Humor und Satire gibt es an sich nichts auszusetzen, wohl aber an verbaler Gewalt, die andere demütigt, verletzt und niedermacht.

Auf westlicher und islamischer Seiten stehen Millionen wenn nicht gar Milliarden Menschen, die sich sicherlich leicht darauf verständigen könnten, dass Gewalt extremistischer Regierungen und anderer radikaler Akteure das größte Problem darstellt. Die Aufgabe besteht darin, diesen Stimmen zu erlauben, eigene Ideen vorzubringen. Wie wäre es, wenn Charlie für die nächste Ausgabe einen muslimischen Berater engagieren würde, der eine Grenze zwischen Freiheit und Rücksichtslosigkeit zieht? (Ende/IPS/kb/2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/01/opinion-after-the-terrorist-attacks-in-paris/

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IPS-Tagesdienst vom 23. Januar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2015


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