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INTERNATIONAL/151: China - Fluch und Segen des Internets (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 144/Juni 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Fluch und Segen des Internets
Chinas Kommunistische Partei nutzt die digitalen Medien - und muss sie fürchten

Von Giovanni Navarria



Für die Kommunistische Partei Chinas ist das Internet Segen und Fluch zugleich. Die Hassliebe der herrschenden Partei zu den neuen Kommunikationsmedien erklärt sich aus deren Ambivalenz als Kontroll- und Informationsinstrument auf der einen und potenzieller Bedrohung staatlicher Machtstrukturen auf der anderen Seite.


Als 1995 mit ChinaNet der erste Internetdienstleister Chinas offiziell an den Start ging, hatte das Netzwerk nur eine Handvoll Nutzer; es war das exklusive Privileg einer handverlesenen Elite. Seitdem haben sich die Dinge mit atemberaubender Geschwindigkeit verändert. Mehr als 600 Millionen Chinesen nutzen das Internet, die durchschnittlich über 21 Stunden pro Woche im Netz verbringen, mehr Zeit als mit jedem anderen Medium. Zwar ist die geografische Verteilung der Nutzer noch ungleich: nur 27 Prozent leben im ländlichen Raum. Aber die Bedeutung des Internets im Leben der Chinesen ist unbestreitbar groß. Kürzlich wurde dies in einem Bericht des staatlichen China Internet Network Information Center (CNNIC) bestätigt. Demzufolge wird das Internetwachstum hauptsächlich durch Mobiltelefone angetrieben, deren Nutzung ebenfalls stark zunimmt: Mehr als eine Milliarde Nutzer gibt es inzwischen, und die Hälfte von ihnen nutzt ihr Smartphone, um sich mit dem Internet zu verbinden.

Für die Kommunistische Partei Chinas (CCP) bedeuten diese Daten Fluch und Segen zugleich. Das Verhältnis zwischen der Partei und dem Internet ist kompliziert. Die Partei scheint hin- und hergerissen zu sein: Sie liebt das Internet und hasst es auch. Diese ambivalente Haltung rührt daher, dass das komplexe Kommunikationsuniversum Internet die Partei fortwährend an das enorme Potenzial wie an die Fragilität traditioneller politischer Herrschaftsformen erinnert.


Drei Segnungen

Es gibt drei Gründe, warum das Internet für die Partei ein Segen ist. Erstens treibt es die Wirtschaftsleistung des Landes kräftig in die Höhe. Seit 2009 ist der Umsatz im E-Commerce jährlich um mehr als 70 Prozent gewachsen. Ende Dezember 2013 machten Online-Einkäufe mehr als 48 Prozent der chinesischen Internetnutzung aus (das sind über 300 Millionen Kunden) - ein Anstieg von mehr als 48 Millionen Kunden gegenüber dem Vorjahr. Der Online-Umsatz im Jahr 2013 betrug über 300 Milliarden US-Dollar und lag damit deutlich höher als in den USA (263 Milliarden US-Dollar). Experten sagen voraus, dass China bis 2015 die 500-Milliarden-Dollar-Grenze überschreiten und damit zum wertvollsten Online-Markt der Welt avancieren wird. Auch für Chinas eigene IT-Firmen stellt das Internet einen zentralen Weg in die globale Geschäftswelt dar. Zum Beispiel Huawei Technologies: Binnen weniger Jahre hat sich das in Shenzhen beheimatete Unternehmen zum drittgrößten Smartphone-Hersteller der Welt entwickelt und 2013 einen Gewinnzuwachs von 34 Prozent vermeldet.

Zweitens ist das Internet mit mehr als 600 Millionen Nutzern ein zentrales Medium für Zensur und Propaganda, ein machtvolles Instrument zur Kommunikation mit dem chinesischen Volk - insbesondere mit den jüngeren Generationen -, wodurch sich die Partei verstärkte Unterstützung sichern kann. Webseiten wie xinhuanet.com (die staatliche Nachrichtenagentur) und chinadaily.com (die Online-Version der Zeitung China Daily), die täglich Millionen von Nutzern verzeichnen, machen deutlich, wie die chinesischen Machthaber das Internet zur Beeinflussung der Öffentlichkeit benutzen: Die Inhalte dieser Webseiten werden vollständig von der Kommunistischen Partei kontrolliert.

Drittens ist das Internet für viele Chinesen inzwischen das Hauptmedium, um ihre Unzufriedenheit mit der Regierung und anderen staatlichen Stellen zum Ausdruck zu bringen. Deshalb hat die Partei gelernt, das Internet als wichtiges Frühwarnsystem zu behandeln: Tausende Menschen sind Tag und Nacht damit beschäftigt, das Netz zu überwachen, erste Anzeichen gefährlich abweichender öffentlicher Meinungen aufzuspüren, den Ursachen für Unmut nachzugehen und so den Behörden zu helfen, prompt zu reagieren. Bezeichnend für diesen Trend ist die Erklärung des Gouverneurs der Provinz Shanxi, Yu Youjun, im Anschluss an den 2007 bekannt gewordenen Skandal um mehr als 500 Wanderarbeiter, darunter über 60 Kinder, die in Ziegeleien und Bergwerken als Sklaven arbeiten mussten. Der Gouverneur erklärte, er und seine Verwaltung hätten schneller handeln und die Eskalation des Skandals verhindern können, wenn sie stärker auf die empörten Kommentare im Internet geachtet hätten. Yu zog seine Lehre daraus. Um künftigen öffentlichen Krisen besser begegnen zu können, ordnete seine Verwaltung an, künftig ein wachsames Auge auf alles zu haben, was im Internet vor sich geht.


Drei Flüche

Steigende Nutzerzahlen deuten nicht nur auf ein gesundes Wirtschaftswachstum hin. Sie sind auch ein Fluch für die Kommunistische Partei, weil sie deren Machterhalt mit drei unerwarteten neuen Herausforderungen konfrontieren.

Erstens wird das Internet in einem Land, in dem alle Mainstream-Medien durch den Staat kontrolliert werden, von den Nutzern als der einzig verbleibende Raum wahrgenommen, in dem es noch möglich ist, der Kontrolle zu entgehen und unzensierte Informationen zu verbreiten. Wenig überraschend gehen daher mehr als 71 Prozent der chinesischen Internetnutzer online, um Nachrichten zu lesen, und 54 Prozent posten Kommentare zu aktuellen Ereignissen auf Microblogging-Seiten wie Weibo.com, dem chinesischen Pendant zu Twitter. Ende 2013 gab es mehr als 280 Millionen Microblog-Nutzer, und im vergangenen Jahr nutzten fast 250 Millionen ihr Smartphone zum Anschauen oder Herunterladen von Video-Inhalten, ein Anstieg von 81 Prozent gegenüber 2012. Über 55 Prozent dieser Nutzer sind jünger als 30.

Im 2012 verabschiedeten Fünf-Jahres-Plan zur Entwicklung des Internet-Sektors ist offen davon die Rede, dass die Regierung heute täglich vor "schwerwiegenden Herausforderungen bei der Handhabung schädlicher Informationen" steht. Tatsächlich sind Strategien zur Verbreitung von Information und zur Produktion von Inhalten in Zeiten des Internets komplexer und schwerer zu kontrollieren als jemals zuvor.

Zweitens bedroht das Internet die Dominanz der Partei- und Herrschaftssprache. Deshalb steht die Entwicklung und Steuerung der Internetkultur und die Förderung einer "guten Cyber-Umgebung" seit einiger Zeit ganz oben auf der Prioritätenliste der KP. Im Jahr 2008 betonte deren Generalsekretär, Hu Jintao, die Bedeutung der "Kanalisierung der öffentlichen Meinung" (yulun yindao). Dies ist eine Wende weg vom Mantra der Jiang-Zemin-Zeit ("Lenkung der öffentlichen Meinung", yulun daoxiang). Die Agenda hat sich jenseits von Kontrollfragen und dem Ausschalten von Dissidenten-Stimmen verschoben. Im Vordergrund steht nun die strategische Notwendigkeit im Vordergrund, dass die Stimme der Partei nicht nur hörbar gemacht, sondern auch akzeptiert werden muss.

In jüngerer Zeit spricht Hus Nachfolger Xi Jinping von der "Dringlichkeit" des Umgangs mit Fragen der "Internetsicherheit und Informatisierung" und geht dabei noch über den von seinem Vorgänger ausgerufenen Weg hinaus: So betont Xi nicht nur die Notwendigkeit für die Partei, innovative Methoden zur Lenkung der öffentlichen Meinung zu entwickeln. Er weist seine Genossen auch warnend darauf hin, dass die Zukunft Chinas und das Ergebnis des Kampfs um die öffentliche Meinung eng mit der Zukunft des Internets verknüpft ist. Kampf ist heute der Schlüsselbegriff. Für Xi lauten die Gleichungen: "Keine Internetsicherheit - keine nationale Sicherheit. Keine Informatisierung - keine Modernisierung". Das Internet solle bei der Prognose von Chinas Zukunft als "größte Variable" und als schwerstwiegende "Sorge in unseren Herzen und Köpfen" betrachtet werden, sagt Xi.

Drittens ist das Internet in den Augen der Partei ein Medium, das kontinuierlich die Fundamente staatlicher Autorität untergräbt, indem es die Bürger in die Lage versetzt, andere zu mobilisieren und die Grundzüge der Politik offen infrage zu stellen. Auch kann es dabei nützlich sein, in Krisensituationen die Regierung (auf lokaler wie auf nationaler Ebene) vollständig zu umgehen, wie es 2013 nach dem tödlichen Erdbeben in der Provinz Sichuan der Fall war. Während das Militär damit beschäftigt war, auf den Straßen zu patrouillieren und die elektrischen Leitungen zu überwachen, nutzten private Bürger die sozialen Medien, um selbst aktiv zu werden und Rettungs- und Hilfsaktionen in dem vom Unglück betroffenen Gebiet zu koordinieren. Gleichzeitig wurde dadurch das Unvermögen der Regierung offenkundig, sich um die eigene Bevölkerung zu kümmern.

Neuere Vorschriften können als Versuch gewertet werden, diese Herausforderungen zu bändigen. Die chinesische Regierung verlangt nun von allen Nutzern, die eine eigene Webseite erstellen möchten, dass sie diese persönlich bei der Regulierungsbehörde anmelden und ihren Personalausweis vorlegen. Im Jahr 2012 wurde die Klarnamenpflicht auf Microblog-Nutzer ausgeweitet. Informationsminister Wang Chen erläuterte die Gründe lakonisch mit den Worten: "Microblogging ist ein neues Medium, das Informationen sehr schnell verbreiten und einen großen Einfluss ausüben kann. Es erreicht ein großes Publikum und kann Menschen mobilisieren." So erklärt sich auch die neueste Vorschrift, die alle Internetnutzer gesetzlich dazu verpflichtet, ihren Klarnamen zu nennen, wenn sie Videos ins Netz hochladen.


Macht als gemeinsame Schwäche

Das Kernproblem der komplexen Hassliebe zwischen Partei und Internet geht zurück auf die dezentrale Natur von Netzwerken, die kein alleiniges Machtzentrum zulassen und Hierarchien als hinderlich für ihr reibungsloses Funktionieren betrachten. Die Philosophie, die Netzwerken zugrunde liegt, steht in völligem Gegensatz zur historischen Vision der Kommunistischen Partei von ihrer Führungsrolle in der chinesischen Gesellschaft. Aber die Würfel sind gefallen. Während das neue digitale Kommunikationsuniversum unverzichtbar wird, gestaltet es sich für die Partei immer schwieriger, ihre Macht zu erhalten. Seine Segnungen sind untrennbar mit seinen Flüchen verknüpft. Denn insofern als das Internet entscheidende ökonomische und politische Vorteile mit sich bringt und der Partei eine mächtige Propagandamaschine und Abhörposten zur Verfügung stellt, ist es eine zentrale Vorbedingung für das Überleben der Partei. Was in der Internetgalaxie geschieht, sagte Präsident Hu im Jahr 2007, "hat Auswirkungen auf die Entwicklung der sozialistischen Kultur, die Informationssicherheit und die Stabilität des Staates".

Dabei bleibt die Partei zutiefst besorgt über die destruktiven Auswirkungen, die das Internet auf die "harmonische Gesellschaft" Chinas (héxié shèhui) haben könnte. Im Fünf-Jahres-Plan von 2012 findet sich der Ruf nach einer Verbesserung des "Notfallsystems" im Umgang mit "plötzlichen Ereignissen" bei gleichzeitiger Stärkung des gesetzlichen Rahmens zur Verbesserung der Steuerung (sprich: Kontrolle) des Internets.

Die Netzwerkqualität des Internets, seine strukturelle Widerspenstigkeit gegen jegliche Kontrolle von oben, fügen der komplexen Macht- und Konfliktdynamik zwischen dem Partei-Staat und seinen Bürgern ein gewisses Maß an Unsicherheit und "Schwäche" hinzu. Der Begriff Schwäche bezieht sich hier auf die praktische Unmöglichkeit, dass irgendein einzelner Akteur innerhalb dieses neuen Kommunikationsuniversums vollständige Kontrolle über ein stark dezentralisiertes Netzwerk innerhalb des Netzwerks aller Netzwerke, das wir Internet nennen, ausüben kann. Sich dieser gemeinsamen Schwäche bewusst zu sein, ermöglicht auf machtvolle Weise mutige und respektlose neue Formen des Widerstands, die darauf hindeuten, wie stark sich das Internet von traditionellen Mustern vermittelter Dominanz unterscheidet. Eben weil das Internet den Bürgern Chinas die Möglichkeit gibt, das Machtmonopol der Partei offen infrage zu stellen und zu beschränken, ist der Kommunistischen Partei so sehr daran gelegen, Informationsflüsse zu kontrollieren, und eben deshalb hat sie solche Angst davor, wie die Menschen sich verhalten werden, wenn sie das Internet nutzen, insbesondere in Zeiten gesellschaftlicher Unruhe.

Aus den tragischen Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Mai/Juni 1989 hat die Regierung in Peking eine wichtige Lehre gezogen: Die Medien können Proteste nicht nur verstärken, indem sie ihre Eigendynamik zusätzlich befeuern; auch wenn die Proteste vorbei sind, können die Medien zum Aufbewahrungsort potenziell gefährlicher kollektiver Erinnerungen werden. Ein Vierteljahrhundert später steht den Bürgern Chinas eine weitaus größere Palette machtvoller neuer Medien zur Verfügung, um direkt und kostengünstig miteinander zu kommunizieren, die Bewegungen der Mächtigen kontinuierlich zu beobachten und Widerstand schnell zu organisieren. Dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren wahrscheinlich noch verstärken. Das weiß die politische Führung genau und daher rührt auch ihre größte Angst: dass die Kombination aus Volkswillen und vernetzten Medienkompetenzen dazu führen könnte, dass Panzer bald nicht mehr in der Lage sein werden, die Partei vor dem harten Urteil der Geschichte zu retten.


Giovanni Navarria ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sydney Democracy Network an der Universität Sydney. Er forscht über neue Medien und Demokratie, Macht-Theorien, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft sowie über China. 2012 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des WZB.
giovanninavarria@gmail.com


LITERATUR

Gang, Qian/Bandurski, David: "China's Emerging Public Sphere: The Impact of the Media Commercialization, Professionalism, and the Internet in the Era of Transformation". In Susan Shirk (Ed.): Changing Media, Changing China. Oxford University Press 2011, S. 38-76.

Herold, David K./Marolt, Peter: Online Society in China. New York: Routledge 2011.

Lagerkvist, Johan: After the Internet, before Democracy. Bern: Peter Lang 2010.

Yang, Guobin: The Power of the Internet in China. New York: Columbia University Press 2009.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 144, Juni 2014, Seite 18-21
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2014