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FESTIVAL/407: 69. Internationale Filmfestspiele Berlin - Brutalität und easy love (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 164 - Heft 02/19, 2019
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Brutalität und easy love
Bericht von den 69. Internationalen Filmfestspielen Berlin

Von Ilse Eichenbrenner


Das Goldene Handtuch

Einige Tage vor der Berlinale findet traditionell eine Pressekonferenz statt, bei der das Programm vorgestellt wird. Dieses Jahr habe ich zum ersten Mal teilgenommen, denn es war die letzte des langjährigen Leiters Dieter Kosslick: Die Journalisten werden im Bundespresseamt direkt an der Spree mit Softdrinks und einer Menge Papier empfangen. Dann geht Kosslick zum Pult, neben ihm eine Art Sidekick, der weiterhilft, wenn Kosslick einen Hänger hat. Das ist äußerst selten der Fall. Er hat alle Titel und Regisseure und alle Anekdoten drum herum auf der Platte. Man kann von ihm lernen, wie man aus kleinen Dusseligkeiten Funken schlägt. Statt "Der Goldene Handschuh" (von dem noch die Rede sein wird) sagt er "Das Goldene Handtuch", und es braucht keinen Freudianer, um das zu deuten. Kosslick hätte - das weiß jeder - gerne noch ein wenig weitergemacht, deshalb verbittet er sich Sentimentalitäten in der Fragerunde am Ende der Veranstaltung. Er sagt einfach nur Tschüss. Das gefällt mir. Für Gejammere ist er zu stolz.

Es ist auch Tradition, dass die Berlinale mit einem Film eröffnet wird, der einem breiten Publikum gefällt und die Herzen öffnet. In diesem Jahr war das "The Kindness of Strangers" von Lone Scherfig. Eine Mutter und ihre zwei artigen Jungs fliehen vor dem brutalen Vater ins winterliche New York. Das Auto wird ihnen samt Habseligkeiten geklaut, und sie landen mittellos im Milieu der Suppenküchen, Wärmestuben und Selbsthilfegruppen Manhattans. Der Titel will sagen, dass sich diejenigen, die ganz unten sind, gegenseitig helfen - der Trost von Fremden. Alles fügt und findet sich auf märchenhafte Weise. Das nennen dann die einen Sozialkitsch, die anderen sind einfach happy. Ich fand es ganz clever, dass in der Zuckerwatte die bittere Pille Obdachlosigkeit versteckt war.

Systemsprünge

Der eigentliche Wettbewerb wurde mit einem furiosen deutschen Spielfilm eröffnet, der ohne jede Einschränkung den SP-Lesern hiermit auf den Zettel geschrieben wird. "Systemsprenger" ist also Pflicht, deshalb nur wenig zur Handlung. Der Film beginnt mit einer Untersuchung der neunjährigen Benni in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo sie bereits bestens bekannt ist. Sie ist wegen ihrer gewaltsamen Ausbrüche schon wieder aus einer Wohngruppe geflogen. Die nette Frau Bafané vom Jugendamt bringt sie erst einmal in eine Kriseneinrichtung - sie kennt das schon. Benni nennt alle Mitarbeiter "Erzieher", Namen benutzt sie nicht. Weshalb sie denn so viele Fotoalben habe, wundert sich jemand beim Einzug. "Jedes Mal, wenn ich aus einer Wohngruppe fliege, bekomme ich eines zum Abschied." Benni möchte zu ihrer leiblichen Mutter und versucht, das zu erzwingen, Helferkonferenzen finden statt. Die überforderte Mutter sagt ja, macht dann wieder einen Rückzieher, Benni rastet aus. Ein Schulbegleiter taucht auf, der eigentlich mit schwierigen Jugendlichen arbeitet. Micha soll nun Benni bei der Integration in der Schule helfen. Der kleinste Anlass genügt, und Benni rastet aus. Sie schlägt ihren eigenen Kopf oder den anderer Kinder auf unglaublich brutale Weise auf den Boden oder gegen die Wand, sie droht mit dem Messer. Diese gewaltsamen Durchbrüche enden in unsäglichem Geschrei, das filmisch brillant umgesetzt wird. Das System der Kinder- und Jugendhilfe ist ratlos. Immer wieder ist eine erlebnispädagogische Maßnahme in Kenia im Gespräch. Micha schlägt als Alternative vor, mit Benni für drei Wochen in seine einsame Hütte in der Lüneburger Heide zu fahren. Das wird für beide anstrengend, zwischendurch erfreulich, später enorm gefährlich. Wohin mit diesem Kind? Für die geschlossene Psychiatrie sei sie noch zu jung, erfahren wir, eine Pflegefamilie ist bereits gescheitert. ist das System am Ende?

Regisseurin Nora Fingscheidt hat den Begriff "Systemsprenger" bei den Recherchen zu einem Dokumentarfilm in einer Obdachloseneinrichtung für Frauen kennengelernt, wo er für eine 14-Jährige benutzt wurde. Wir kennen ihn nur zu gut als Unwort aus der Arbeit mit erwachsenen psychisch Kranken. Kann es sein, dass er nun salonfähig wird? Auf der diesjährigen Berlinale war er in aller Munde. "Systemsprenger" wurde mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Das gut recherchierte Drehbuch ist mit enormer cineastischer Wucht umgesetzt. Geradezu unfassbar ist die Performance der elfjährigen Schauspielerin Helena Zengel in ihrer Rolle als Benni.

Ich finde, der Film zeigt ein System, das sehr wohl flexibel ist, aber nicht für jedes Problemkind eine belastbare, kontinuierliche Beziehungsperson vorhalten kann. Ein wirklich starres System hingegen beschreibt der österreichische Spielfilm "Der Boden unter den Füßen", der ebenfalls schon am ersten Tag im Wettbewerb lief. Die junge und dynamische Lola arbeitet in einer Unternehmensberatung. Gerade ist ihre Firma in Rostock zugange, um einen Betrieb zu sanieren. Von ihrer aufgeräumten Wohnung in Wien fliegt Lola im Business-Outfit nach Rostock, schläft im Hotelzimmer und mit ihrer Chefin, joggt am frühen Morgen durch die Stadt oder trainiert im Gym. Als sie gerade in Wien ist, erreicht sie ein Anruf aus dem Spital; ihre ältere Schwester Conny hat versucht, sich mit 120 Schlaftabletten zu suizidieren. Lola ist Vormund ihrer Schwester und kennt das schon. Conny leidet an einer paranoiden Schizophrenie, ungefähr einmal im Jahr gerät sie in eine Krise. Lola versucht nun, die Besuche im Krankenhaus, die Versorgung von Connys Kater und ihre 100-Stunden-Woche in Rostock unter einen Hut zu bekommen. Ein paar Tage später: Conny soll entlassen werden mit regelmäßigen Besuchen durch den ambulanten psychosozialen Dienst. Das will Conny nicht, und Lola akzeptiert die Weigerung ihrer Schwester. Sie verkauft deren Wohnung, holt sie zu sich und organisiert die Versorgung mit Mahlzeiten. Lässt sich tatsächlich alles effektiv organisieren?

Der Film fokussiert sehr stark auf die junge, gehetzte Managerin, schnurstracks auf dem Weg in den Burn-out. Die große Schwester findet hingegen wenig Beachtung; für die psychische Störung und die Unterstützung nach der stationären Behandlung interessieren sich der Film und die ehrgeizige Lola nur am Rande. Geht es darum, wer denn nun eigentlich das verrücktere Leben führt? Dann wäre es schön gewesen, der psychosekranken Schwester ein wenig Recovery zu gönnen. Der Film wolle zu viel auf einmal, war eine mehrfach geäußerte Kritik. Und gleichzeitig wagt der Film zu wenig, findet Filmknäcke.

Unzumutbarkeiten

Der umstrittene Spielfilm "Der Goldene Handschuh" von Fatih Akin ist bei Erscheinen dieser Ausgabe der SP bereits in den Kinos gelaufen. Es gab unzählige Artikel, Kommentare und Meinungen. Bleibt mir also nur, meine ganz persönliche Erfahrung zu berichten. Der Roman von Heinz Strunk, der dem Film zugrunde liegt, hatte mich überzeugt und auf die Brutalität vorbereitet.

Fatih Akin konzentriert sich ganz und gar auf die Jahre, in denen der Serienmörder Fritz Honka vier ältere Frauen in seiner Wohnung ermordet, zerstückelt und versteckt hat. Diese Wohnung - das zeigen die Originalaufnahmen der Polizei im Abspann - hat genau so ausgesehen. Sie ist heruntergekommen, die Wände sind mit pornografischen Zeitungsausschnitten beklebt. Auf einem Plattenspieler laufen Schlager aus den Siebzigern, die man nicht mehr unbefangen wird hören können. Es ist diese Wohnung, dieses Milieu, das in mir Erinnerungen an Hausbesuche als junge Sozialarbeiterin weckt und mich überwältigt.

Honka wird verkörpert von dem jungen, schönen Schauspieler Jonas Dassler, den der Maskenbildner vor jedem Dreh in stundenlanger Arbeit in das hässliche Monster verwandelt hat. Viele halten Dasslers Darstellung des Honka für einen Geniestreich. Bei mir hat es nicht wirklich funktioniert; ich war mir immer bewusst, eine schauspielerische Bravourleistung zu sehen. Vermutlich war nicht nur ich vor allem damit beschäftigt, diese 110 Minuten durchzustehen. Tapfer schaut man auf die Leinwand, hört die entsetzlichen Geräusche der Säge und versucht den Gestank, der unweigerlich imaginiert wird, zu verkraften. Zweifellos: Ein großes Erlebnis und eine große Erleichterung, wenn das alles vorbei ist. Erst Stunden später fing ich an zu zweifeln: Wozu ist das nun gut, weshalb muss man sich das antun? Jeder Vorgeschichte beraubt, dient das Drehbuch auch nicht dem Verständnis, das in unserer Disziplin grundsätzlich immer zu fordern ist.

Ich war also bereits etwas mürbe, als in immer mehr Filmen geschlagen, geprügelt und geschossen wurde. Das fing an mit der bereits erwähnten "Benni", setzte sich fort in Filmen über Neonazis, über eine jugendliche Mafiabande in Neapel, über eine israelische Agentin und kulminierte in "Marighella", einem brasilianischen Spielfilm, der drei Jahre aus dem Leben dieses revolutionären Terroristen beschreibt. Manchmal war die Gewalt nicht direkt: In einem schwedischen Dokumentarfilm ("Rekonstruktion Utøya") reinszeniert eine Gruppe von Jugendlichen bei einem Workshop die Ereignisse des Massakers auf der Insel Utøya, unter ihnen auch einige Überlebende. Hier genügen dann die zur Pistole gestreckten Finger der Akteure oder die Schläge auf eine Metallplatte, um Todesangst zu erzeugen.

Abgehängt

Im Kontrast zu diesen Bildern lieferten junge Filmemacher sanfte und spielerische Szenen aus ihrer Welt der sozialen Medien, der Romanzen und Beliebigkeiten. In dem semi-dokumentarischen "Easy love" spielen sich die Akteure selbst. Sie sind auf der Suche nach Sex und Zärtlichkeit und finden beides, hier oder dort, oben oder unten und überhaupt. Weil der Job in einem Biomarkt so langweilig ist, tut die Tochter einer feministischen Mutter es eben für Geld - easy money. Die Mutter schüttelt den Kopf.

Nur um eine einzige Person geht es in "Searching Eva", einer ursprünglich aus Italien stammenden jungen Frau, die in wechselnden Identitäten und Outfits von einer WG - Rom, Athen, Berlin - in die andere zieht, und sich mal als Model, dann wieder als Sexarbeiterin verdingt. Sie lebt in den und für die sozialen Medien, wo sie unzählige Follower hat, deren Fragen und Kommentare in diesen Dokumentarfilm montiert sind. Die beiden Filme sollen nur exemplarisch genannt sein für ein neu aufgepopptes Genre, das mir zeigte: Ich bin endgültig abgehängt. Umso dankbarer bin ich, dass die Berlinale mir auch auf diese Selbstbespiegelungen einen voyeuristischen Blick erlaubt.

Sorgenkinder

Vater, Mutter und "Dafne" hatten einen schönen Urlaub am Meer. Alles ist bereit für die Rückfahrt, nur die Mutter fehlt. Eine Ambulanz wird gerufen, doch es ist zu spät. Der plötzliche Tod der Mutter trifft Dafne und ihren alten Papa hart. Denn Dafne ist ein Mädchen mit Down-Syndrom.

Gemeinsam mit Verwandten besuchen sie das abgelegene Haus, in dem die Mutter aufgewachsen ist. Dort wird sie nun auf dem Friedhof beerdigt. Dann fahren Vater und Tochter in die gemeinsame Wohnung in der Stadt zurück und versuchen, ihr gewohntes Leben fortzuführen. Dafne hat einen Arbeitsplatz im Recycling eines großen Supermarkts, wo sie mit einer kleinen Feier von ihrem Team begrüßt wird. Sie ist beliebt und überaus tüchtig; die Mutter hat ihr alles beigebracht, was für ein eigenständiges Leben wichtig ist. Es geschieht nichts Spektakuläres in diesem warmherzigen Film. Dem Vater geht es schlecht; er steht kaum noch auf, und es ist nicht sicher, ob er die Lebenskrise überwindet. Dafne mit ihren oberschlauen Sprüchen geht ihm und den Zuschauern auf die Nerven, dann wird es auch mal laut. Eines Tages schlägt sie vor, man könne doch eine Fußwanderung zu dem ländlichen Friedhof machen und das Grab der Mutter besuchen. Das Wetter ist nicht optimal, trotzdem stapfen die beiden los. Die Übernachtung in einem Landgasthaus und das Gespräch des Vaters mit den freundlichen Wirtsleuten gehört zu den schönsten Szenen des Films. Allmählich gewinnt auch der Vater wieder etwas Lebensmut. Forstarbeiter nehmen die beiden in ihrem Jeep ein Stück mit, und Dafne flirtet mit beiden, dass es kracht.

Diese junge Frau mit einer kognitiven Beeinträchtigung nervt und macht ihre Umwelt glücklich. Ihre Marotten - zweimal pro Woche zum Friseur - akzeptiert der Vater mit einem Lächeln. Nach der Weltpremiere in der Sektion Panorama präsentierte der Regisseur die Hauptdarstellerin auf der Bühne. Und die redete mit ihrer unglaublich tollen Stimme, die man ja aus dem Film schon kannte, und war so schlagfertig und herzlich, dass den Müttern und Vätern um mich herum plötzlich die Nase lief.

Es war ein großer Sprung innerhalb der Sektion Panorama von Italien nach Tokio, wo Menschen mit einer körperlichen Behinderung anscheinend gut integriert sind. Der Spielfilm "37 Seconds" lebt ebenfalls ganz und gar von einer hervorragenden, von einer Behinderung betroffenen Hauptdarstellerin. Mei Kayama sitzt wie ihre Filmfigur Yuma wegen einer Zerebralparese im Rollstuhl; sie kann sich auf dem Boden kriechend fortbewegen und mit ihren verkrümmten Fingern einen Stift halten. Yuma ist 23 Jahre alt, lebt behütet und umsorgt bei ihrer Mutter, die in einer anrührenden Eingangssequenz ihre Tochter in die Wanne hievt und mit ihr ein Bad nimmt. Morgens fährt Yuma mit dem Bus zur Arbeit als Zeichnerin bei einer Bloggerin, die mit ihren Mangas im Internet sehr populär ist. Aber Yuma möchte gerne eigene Mangas veröffentlichen und gerät mehr durch Zufall an eine Verlegerin, die "Erwachsenen-Mangas" publiziert. Yuma solle erst einmal eigene sexuelle Erfahrungen machen, meint die Verlegerin, und Yuma macht sich auf den Weg. Sie ordert telefonisch die Dienste eines Callboys, trifft sich mit ihm in einem Hotelzimmer und scheitert zunächst. Doch zuvorkommende Helfer kümmern sich um sie, unter ihnen eine erfahrene Sexarbeiterin, die einen älteren Mann im Rollstuhl begleitet. So lernt sie eine ganze Reihe von Mitgliedern einer speziellen Community kennen, mit denen sie von nun an Kontakt hält. Die Mutter sorgt sich, doch Yuma fasst den Entschluss, sich endlich von ihr abzunabeln und das Schicksal des Vaters zu ergründen. Dazu ist eine Reise nach Thailand erforderlich, wo Yuma - unterstützt von einem der jungen Helfer - wichtige Erkenntnisse gewinnt.

Der Film ist ein ungewöhnlicher Mix, wie er in deutschen Filmen dieses Genres kaum denkbar ist. Yumas Exkursionen ins Rotlichtmilieu hätten leicht ein Anlass für Fremdschämen werden können, doch der Film bleibt neugierig und offen.

Sowohl "Dafne" als auch "37 Seconds" wurden von unterschiedlichen Jurys als bester Film der Sektion Panorama ausgezeichnet. Das vergrößert natürlich ihre Chancen, irgendwann in unsere Kinos zu kommen.

Gesichert hingegen ist der Kinostart der "Goldfische", so heißt eine Wohngruppe von Menschen mit Behinderung im gleichnamigen Film. Akkreditierte konnten den Film und einige der Protagonisten am Rande der Berlinale kennenlernen.

Tom Schilling verkörpert Oliver, einen Investmentberater, der auf der Überholspur lebt und scheitert. Nach einem Crash auf der Autobahn sitzt er in der Reha im Rollstuhl. Auf der Suche nach einem besseren WLAN gerät er an die Wohngruppe "Goldfische". Dort arbeitet die frisch gebackene Sonderpädagogin (Jella Haase) mit einem Dreamteam von Menschen mit Behinderung. Jeder und jede hat eine andere Verhaltensauffälligkeit, eine andere Störung, und alle träumen von einem besseren Leben. Oliver hat noch eine Menge Schwarzgeld in Zürich, das er mithilfe der "Goldfische" in Sicherheit bringen will. Er organisiert einen Ausflug zum Kamelreiten in die Schweiz, um so ganz nebenbei sein Geld zu schmuggeln. Man ahnt schon, dass Peinlichkeiten, Pannen und spöttisches Gelächter den Trip dieser furiosen Crew begleiten.

Geisterschiffe

Die große Zerreißprobe, der ich auf jeder Berlinale ausgesetzt bin, wird den SP-Leser nicht mehr überraschen. Das kennen Sie schon: auf der einen Seite die bereits erwähnten Befindlichkeitspirouetten saturierter Großstadtbewohner, auf der anderen Seite das himmelschreiende Elend in den Ländern der Dritten Welt. Noch immer - kaum auszuhalten. Ich greife hier nur ein Thema heraus.

Gleich zwei Filme beschäftigten sich in diesem Jahr mit der Versklavung von Menschen auf Fischereibooten in Südostasien. Der Spielfilm "Buoyancy" folgt dem 15-jährigen Chakra aus den Reisfeldern Kambodschas auf der Suche nach einem besseren Leben. Mit einem Freund will er in einer Fabrik arbeiten und viel Geld verdienen. Unterwegs gerät er in die Fänge von Menschenhändlern und wird verkauft. Auf einem thailändischen Fischkutter muss er fast rund um die Uhr unter unbeschreiblichen Bedingungen arbeiten. Jeder Protest wird umgehend bestraft; die jungen Männer werden verprügelt oder über Bord geworden und nur manchmal wieder herausgezogen. Chakra gewöhnt sich allmählich an die Brutalität. Er ist klug und beobachtet die Arbeit der beiden Chefs, bis er sie schließlich überwältigen kann. In Landnähe gelingt ihm schließlich die Flucht, und er schafft es, in seinen Heimatort zurückzukehren. Im Abspann wird deutlich gemacht, dass dies kein böses Märchen ist, sondern harte Realität.

Der Dokumentarfilm "Ghost Fleet" greift den Faden auf. Menschenrechtsaktivisten machen sich auf die Suche nach versklavten Menschen auf dem Meer. Unterstützt werden sie dabei von einem jungen Mann aus Burma, dem die Flucht gelungen ist. Während die Crew in die berüchtigten Gewässer fährt, erhält der Zuschauer Informationen. Die Weltmeere sind leergefischt, sodass die Flotten weit hinausfahren müssen und die Fischer monatelang keinen Landkontakt haben. Dazu ist freiwillig kaum noch einer bereit. So werden Männer mit K.O.-Tropfen betäubt und gekidnappt oder unter Vortäuschung falscher Tatsachen verschleppt. Die Fischkutter legen niemals an; der Fang wird von großen Mutterschiffen abgeholt, und das kärgliche Essen - Wasser und ein paar Säcke Reis - geliefert. Viele leben zehn Jahre und mehr als Sklaven, bis es manchen von ihnen gelingt, bei einer günstigen Gelegenheit an Land zu schwimmen. Viele ertrinken dabei. Unser engagiertes Team findet tatsächlich etliche Männer dieser Geisterflotte, die es in den Dschungel geschafft haben. Vermutlich ist das nicht die Intention dieser Filme, oder vielleicht doch? Der Appetit auf Fisch ist mir erstmal vergangen.

Der Tänzer

In der Sektion "Perspektive Deutsches Kino" wurde der bemerkenswerte Dokumentarfilm "Das innere Leuchten" von Stefan Sick gezeigt. Er taucht ein in den Kosmos einer Pflegeeinrichtung für Demenzkranke in Stuttgart, das Gradmann-Haus. Sick trifft auf einen ungewöhnlichen Menschen, den ich hier einmal "den Tänzer" nennen möchte. Der alte Mann bewegt seine Hände, als wolle er einen unsichtbaren Chor dirigieren. Oder beherrscht er eine geheimnisvolle Zeichensprache, macht er Reiki, oder betreibt er Eurythmie? Der Tänzer spricht zu seinen eleganten Bewegungen in einer unverständlichen Sprache; er tänzelt durch die Gänge der Einrichtung und tritt in Kontakt mit den Bewohnern, besonders gerne aber mit den Mitarbeiterinnen. Auch sie lernen wir allmählich kennen; sie sind sanft und freundlich und beherrschen die Technik der Validation. Wenn jemand schimpft und brabbelt, dann nehmen sie den Impetus auf, und führen ein Gespräch. Es sind einige jüngere Demenzkranke, die sich unbedingt ausdrücken wollen, und darunter leiden, dass es ihnen nicht gelingt.

Ich weiß nicht, ob Sick diesen Film ohne seinen wichtigsten Protagonisten, den "Tänzer", hätte drehen können. Er gibt den Ton an, bezaubert die Kamera und den Filmemacher. Der Sohn kommt zu Besuch, setzt sich ans Klavier und spielt die Geige. Der Tänzer tanzt, der Sohn lächelt. Bevor der Film in einer Harmoniesoße davonschwimmt, gibt es ein wenig Ärger: Die Herrschaften klauen sich gegenseitig die Schuhe oder verlangen, dass man mit ihnen das Bett teilt. Das ist zum Kaputtlachen, und man muss sich dafür nicht schämen.

88 Filme

Einschließlich der Presseverführungen vor der Berlinale konnte ich 88 Filme sehen. Ich habe mich gefürchtet, geekelt, gelangweilt und unglaublich amüsiert. Ich habe mich über die "Schlaumeier-Filme" geärgert, auch wenn sie wieder einmal Preise gewonnen haben. Ich räche mich, indem ich sie nicht erwähne.

Wer jetzt die Schnauze voll hat von Narzissmus und Gewalt, der freue sich mit mir bei einem absolut unverdächtigen Genre: Musikfilme. Im Wettbewerb lief "Amazing Grace" mit Aretha Franklin; ein Film, den Sidney Pollack eigentlich schon bei einem Gospel-Konzert 1972 gedreht hat, der aber erst jetzt fertiggestellt werden konnte. Der Saal hat gebebt bei der Vorstellung im Friedrichstadt-Palast.

"Weil wir nur einmal leben" begleitet die "Toten Hosen" 2018 auf ihrer Tour. Tolle Stimmung, volle Stadien. Plötzlich muss die Tour abgebrochen werden, weil Campino einen Hörsturz hat. Hörsturz? Stress? Da fängt man schon wieder zu grübeln an. Abschalten!


37 Seconds
Japan 2019; 115 Min.
Regie: Hikari
Darsteller: Mei Kayama, Misuzu Kanno

Amazing Grace
Dokumentarische Form
USA 2019; 87 Min.
Mit Aretha Franklin

Buoyancy
Australien 2019; 93 Min.
R: Rodd Rathjen
D: Sarm Heng, Thanawut Kasro, Mony Ros

Dafne
Italien 2019; 94 Min.
R: Federico Bondi
D: Carolina Raspanti, Antonio Piovanelli, Stefania Casini

Das innere Leuchten
Dokumentarische Form
Deutschland 2019; 95 Min.
Von Stefan Sick

Der Boden unter den Füßen
Österreich 2019; 108 Min.
R: Marie Kreutzer
D: Valerie Pachner, Pia Hierzegger, Mavie Hörbiger
(Kinostart: 16. Mai)

Der Goldene Handschuh
Deutschland/Frankreich 2019; 110 Min.
R: Fatih Akin
D: Jonas Dassler, Margarethe Tiesel, Katja Studt, Hark Bohm

Die Goldfische
Deutschland 2019; 111 Min.
R: Alireza Golafshan
D: Tom Schilling, Jella Haase, Birgit Minichmayr, Axel Stein

Easy love
Deutschland 2019; 88 Min.
R: Tamer Jandali
D: Stella Vivien Dhingra, Niclas Jüngermann, Sönke Andersen, Sophia Seidenfaden

Ghost Fleet
Dokumentarische Form
USA 2018; 89 Min.
Von Shannon Service,
Jeffrey Waldron

Marighella
Brasilien 2019; 155 Min.
R: Wagner Moura
D: Seu Jorge, Adriana Esteves, Bruno Gagliasso

Rekonstruktion Utøya
Dokumentarische Form Schweden/Norwegen/Dänemark
2018; 98 Min.
R: Carl Javér

Searching Eva
Dokumentarische Form
Deutschland 2018; 85 Min.
R: Pia Hellenthal

Systemsprenger
Deutschland 2019; 118 Min.
R: Nora Fingscheidt
D: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide
(Kinostart: vermutlich Herbst 2019)

The Kindness of Strangers
Dänemark/Kanada/Schweden/Deutschland/Frankreich 2019; 112 Min.
R: Lone Scherfig
D: Zoe Kazan, Andrea Riseborough, Tahar Rahim, Bill Nighty
(Kinostart: vermutlich Herbst 2019)

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 164 - Heft 02/19, 2019, Seite 52 - 56
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2019

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