Soziale Psychiatrie Nr. 15 - Heft 2/17, 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Die hellste Mitte
Exklusiver Bericht von den 67. Internationalen Filmfestspielen Berlin
von Ilse Eichenbrenner
Jedes Jahr wieder das Genöle, weil die Berlinale 1978 vom Sommer in den Winter verlegt wurde. Gut, auch in diesem Jahr fing es mit klirrender Kälte an. Doch dann wurde es immer wärmer, und eine kaum fassbare Sonne schob sich über die Bauten am Potsdamer Platz. Nach der morgendlichen Pressevorführung gab es nur eine kleine, bereits schattenfreie Insel der Glückseligen, wo die Journalisten sich drängelten und in die kostbare Sonne lächelten. Ab und zu nippten sie aus ihrem glänzenden Thermobecher, der diesmal mit der üblichen Rucksacktasche ausgehändigt worden war. Die Automaten einer bekannten Kapsel-Firma wurden im Pressezentrum von strengen jungen Menschen bedient. Lediglich am ersten Tag gab es noch einen Pappbecher, mit Ermahnung. Danach wurde nur noch der Thermo-Becher befüllt, mit dem man sich dann vor dem Hyatt in die Sonne stellen konnte. Ich belauschte die Moderatoren diverser Sender. Ich kaute meine Stulle. Ich beobachtete den Schnösel, dessen Filmanalyse ich bei YouTube abonniert habe und der sich jeden Tag von einem anderen Follower anschmachten ließ. Eine Migrantin beklagte mit einem beschrifteten Umhang ihr Schicksal als Flüchtling; ein dunkelhäutiger Mann hatte sich Schilder umgeschnallt und machte auf eine weltweite Verschwörung der Zionisten aufmerksam. Jeder fotografierte ihn, Schulklassen und Touristen zückten ihre Smartphones. Ende der Pause.
Im Pulk schlenderten wir ein paar Meter zum Berlinale-Palast und tauchten wieder ein. Ich werde diese Tage und ihren kostbaren Kontrast nie vergessen. Ich stand in der leuchtenden Mitte, umringt von den Dunkelkammern der Welt. Jede von ihnen prall gefüllt mit Geschichten von Gier, Grausamkeit und Glück.
Qui
Allein die fünfstündige Dokumentation »Qiu« machte mir diese Berlinale
zu einem herausragenden Ereignis. 1997 hatte ich bei einer
Mabuse-Reise spärliche Eindrücke von modellhaften Projekten in Wuhan
gewinnen können, Heinz Klätte und Rainer Nathow waren damals vor Ort
engagiert (ich hatte in der »SP 79« berichtet). Zwei Jahre später
konnten wir bei einer weiteren Reise in Nepal einen kurzen Blick in
eine desolate Verwahrpsychiatrie werfen. Doch »Qiu« erschreckt und
verstört nicht, sondern ermöglicht einen beispielhaften Blick in das
Anstaltsleben der Moderne. Die Aufnahmen sind nahezu farblos,
entsättigt. Alle Patienten tragen identische weiße, gemusterte
Schlafanzüge; nur selten sticht als Farbtupfer ein Pullover oder eine
Hose heraus. Das Zimmer ist mit sieben Betten ausgestattet, bezogen
mit gemusterter Bettwäsche. Alles ist klinisch sauber und erschreckend
unpersönlich; ab und zu taucht weiß gekleidetes Personal auf, vor
allem, wenn jemand fixiert werden soll, was rasch und erstaunlich
undramatisch geschieht. Dann werden Arme und Beine mit langen Bändern
festgebunden. Einmal wird die Medikamentenausgabe inklusive Zwang
beobachtet, dann eine Visite, die von der behandelnden Ärztin vor dem
üblichen Tross von Auszubildenden durchgeführt wird. Nahrungsaufnahme
und therapeutische Maßnahmen werden ausgeblendet - oder finden nicht
statt? Regisseurin Ma Li fokussiert auf die alltägliche Kommunikation
zwischen den Patienten. Sie erzählen sich ihre Lebensgeschichten,
klagen über Stimmen und Halluzinationen und Geldmangel und darüber,
dass sie von ihren Angehörigen hierhergebracht wurden. Mütter und
Schwestern kommen zu Besuch, sitzen besorgt am Bettrand.
Abhängigkeitserkrankungen spielen eine Rolle, längst scheinen alle
illegalen Substanzen verfügbar zu sein. Doch nicht nur Ma Li kann
einige illegale Geschäfte beobachten; vor einem Monitor sitzen
Krankenpfleger und amüsieren sich. Immer wieder neu grübeln die
Patienten, ob sie nun krank oder gesund, normal oder verrückt seien -
oder nicht eher die anderen. Durchgängig verfolgt Ma Li den Aufenthalt
eines manisch entgleisten Hochschullehrers, der auf seinen Größenideen
beharrt, bis er am Ende doch so etwas wie Krankheitseinsicht äußert.
Zur Vorgeschichte des Films gibt Ma Li im Presseheft einige Infos:
Drei Monate lang habe sie sich nur auf der Station aufgehalten, bis
sich die Patienten an sie gewöhnt hatten. Dann drehte sie über ein
Jahr lang. Sehr wohl habe sie auch therapeutische Maßnahmen und die
Mahlzeiten aufgenommen, sich aber beim Schnitt dann doch für diese
Auswahl entschieden.
»Qiu« bietet einen beispiellosen und beispielhaften Blick in das Innere einer Akutpsychiatrie, wie sie - genauso - auch im Rest der Welt noch immer aussieht oder vor zwanzig Jahren ausgesehen haben mag. Nichts Spektakuläres, sollte man meinen. Deshalb war ich erstaunt über einige Formulierungen eines Journalisten, der sich immerhin der fünfstündigen Doku ausgesetzt hat. Von »jovialer Folter« ist die Rede, und von der »falschen Freundlichkeit« der Pflegekräfte (Tagesspiegel). Woher sollen die Berichterstatter es auch besser wissen? Denn die europäische Langzeitbeobachtung, das Pendant zu »Qiu«, muss erst noch gedreht werden. Sobald »Qiu« in irgendeiner Form verfügbar sein wird, gebe ich Bescheid.
Qiu (Inmates), Dokumentarfilm, Volksrepublik China 2017,
287 Min., Mandarin mit engl. UT; R: Ma Li
Das kalte Herz schlug in den asiatischen Filmen. Ist es die Mentalität, der fehlende Ausdruck an Schwingungsfähigkeit in der Mimik der Akteure? Die Gesichter sind starr, oder es wird fast hysterisch gebrüllt und gelacht. Zeigt eine Schauspielerin einmal »europäische« Emotionen, wie Kim Minhee in dem koreanischen Spielfilm »On the Beach at night alone«, dann bekommt sie sofort den Silbernen Bären (»Beste Darstellerin«). Das kalte Herz schlägt in den chinesischen Müttern und Vätern, die sich als Wanderarbeiter in der Ferne durchschlagen und ihre Kinder bei ähnlich kaltherzigen Großeltern, Onkeln und Tanten zurücklassen. Sie haben keine Skrupel bei ihrem alltäglichen Kampf ums Geld. Haben diese Filmemacher noch eine Rechnung mit ihren Eltern offen? Aus dem breiten Spektrum hervorragender chinesischer Filme habe ich ein paar herausgegriffen.
Ben Niao
Der Film »Ben Niao« (»The foolish bird«) lief zwar in der Sektion
Generation, also der Reihe für Jugendliche, doch ob er wirklich
jugendfrei ist? Alles dreht sich um Smartphones und Internetcafés.
Während viele Spielfilme im ländlichen China verortet sind, befinden
wir uns hier in einer modernen, unwirtlichen Stadt. Natürlich wachsen
auch hier die Kinder bei den Großeltern auf; es sind Jugendliche und
Kleinkinder jener erwachsenen Söhne und Töchter, die in einer der
Metropolen den Lebensunterhalt verdienen. Die 16-jährige Lynn soll
nach dem Willen ihrer abwesenden Mutter unbedingt auf die
Polizeiakademie. Im Lehrerzimmer erhält sie deshalb Nachhilfe; sie
benutzt die Gelegenheit und stiehlt konfiszierte Smartphones. Zusammen
mit ihrer besten Freundin verbringt sie die Zeit in einem
Internetcafé, dort verscherbeln sie auch ihre Beute. Für das Geld
wollen die beiden eine neue Frisur, doch sie geraten im Salon an eine
Clique, die ihnen K.o.-Tropfen in ihre Getränke mischt und sie
vergewaltigt. Erst durch Lynns schreckliches Bauchweh wird dem
»törichten Mädchen« klar, dass etwas passiert ist. Sie ist schwanger.
Ihre Freundin nimmt sich das Leben. Taoistische Priester singen das
Totengebet, am Ende dieses harten Porträts einer Jugend in der Lücke
zwischen Tradition und Moderne.
Ben Niao (The foolish bird), Volksrepublik China 2017,
118 Min., R: Huang Ji Ryuji Otsuka, D: Yao Honggui, Xiao Liqiao
*
Shi Tou
Noch das freundlichste Bild bietet ein weiterer Film aus der Reihe
Generation: »Shi Tou« (»Stonehead«). Auch dieser Junge wächst bei
seiner Großmutter auf. Wegen seiner guten Leistungen darf er mit dem
Lehrer auf dem Moped in die nächste große Stadt fahren, wo er eine
Urkunde und einen Ball erhält. Um diesen Ball dreht sich von nun an
alles; er sorgt für beständiges Unglück. Shi tou will den Fußball für
sich alleine, der Lehrer besteht darauf, dass er für die ganze Klasse
ist. Er weigert sich zunächst, doch dann holt er den wertvollen Ball
von zu Hause. Schon nach wenigen Fußstößen ist der Ball kaputt. Die
Mitschüler sind aufgebracht und verlangen von ihm, einen neuen Ball zu
besorgen. Sie mobben, schlagen, erpressen und drohen. Er wiederum
lügt, stiehlt und versucht, in der großen Stadt einen neuen Ball
aufzutreiben. Immer wieder versucht er vergeblich, seinen Vater zu
erreichen; dazu muss er an eine Bude, wo es anscheinend das einzige
Telefon gibt. Alles geht schief, und am Ende teilt der Vater mit, dass
er an Neujahr nicht wie versprochen nach Hause komme. Rundherum ziehen
bereits die heimkehrenden Wanderarbeiter ihre Rollkoffer, und mit den
ersten Feuerwerkskörpern wird das Neujahrsfest begrüßt.
Shi Tou (Stonehead), Volksrepublik China 2016,
90 Min., R: Zhao Xiang, D: Zhu Hongbo, Cai Jiakun
*
Ciao Ciao
Auch in diesem Film der Sektion Panorama sind die jungen Leute
verloren, erst recht, wenn sie in ihre Heimat zurückgehen.
Faszinierende Landschaftsaufnahmen aus Yunnan, übersättigt mit Grün,
weisen zunächst auf ein romantisches Leben hin. Doch das ist ein
Irrtum. Ciao Ciaos Eltern verkaufen schwarzgebrannten Maisschnaps und
bestechen die Polizei. Das ganze Dorf scheint korrupt, doch dann
fliegt der Schwindel auf. Ciao Ciao hat einige Jahre in der Großstadt
gelebt und ein ganz anderes Leben kennengelernt. Mit ihren
Stöckelschuhen und ihrer Handtasche ist sie fehl am Platz. Nun soll
sie heiraten und den Ruhestand der Eltern absichern. Ganz
selbstverständlich und unbeteiligt schläft sie mit wechselnden
Männern, wird zum Skandal und zur Heirat genötigt. Doch sie gibt sich
mit diesem Leben nicht zufrieden und fährt zurück in die Stadt.
Die junge Regisseurin meint in einem Interview, noch nie seien die Menschen im ländlichen China so materialistisch gewesen wie heute.
Ciao Ciao, Frankreich/Volksrepublik China 2017,
83 Min., R: Song Chuan
Es gibt immer merkwürdige Paare und Paarungen, im wirklichen Leben und auf der Berlinale sowieso, aber 2017 sind sie definitiv im Wettbewerb gelandet. Und das allererste Mal hat der von mir favorisierte Film den Goldenen Bären gewonnen!
Mit Leib und Seele
»On Body and Soul« beginnt mit betörenden Aufnahmen eines Hirsches und
einer Hirschkuh in einem winterlichen Wald. Die beiden nähern sich,
umkreisen einander, in späteren Szenen werden sie sich berühren.
Abrupter Wechsel in einen Schlachthof in Budapest samt Einführung in
das effektive Töten und Verarbeiten der Kadaver. Eine sehr junge
Veterinärin namens Maria tritt ihre Arbeit als Qualitätskontrolleurin
an. Sie ist merkwürdig. In der Kantine sondert sie sich ab, das von
ihr geprüfte Fleisch stuft sie als zweitklassig ein. Man tuschelt,
Endre, der ältere Vorgesetzte mit der gelähmten Hand, fragt nach: Die
Fettschicht sei zwei Millimeter zu dick, meint sie ganz sachlich. Er
lächelt amüsiert über die Präzision dieser jungen Frau, die eine
Affinität zu Zahlen und ein enormes Gedächtnis hat. Sie ist unhöflich,
scheinbar gefühllos, doch durchaus attraktiv. Die Kamera begleitet sie
in ihre kahle Wohnung, beobachtet sie vor ihrer pedantisch
arrangierten Mahlzeit. Nach dem spektakulären Diebstahl eines
Potenzmittels für Bullen müssen alle Beschäftigten zu einem
Einzelgespräch bei einer Gutachterin, einer Psychologin, die auch nach
den nächtlichen Träumen fragt. So stellt sich heraus, dass beide von
jenen Hirschen träumen, ja im Traum jene beiden Hirsche sind. Ab und
zu sprechen sie darüber.
»Warum sind Sie heute Nacht nicht zur Wiese gekommen?« Man beschließt, die Nacht nebeneinander zu verbringen, der Träume wegen. Maria fragt ihren Therapeuten, wie man eine sexuelle Beziehung führt. Er windet sich und rät ihr, endlich zu einem Therapeuten für Erwachsene zu gehen. Sie erkundigt sich bei anderen - vielleicht hilft das Hören romantischer Songs? Endre zieht sich immer mehr zurück, seine Tochter macht sich Sorgen um ihn. Es gibt dramatische Zuspitzungen, und erneut fließt Blut in diesem perfekt komponierten Film, dem man atemlos bis zu seinem sparsamen Happy End folgt.
Bei der Vorführung des Siegerfilms seien im Friedrichstadtpalast mehrere Menschen kollabiert, war in der Zeitung zu lesen, ein Zuschauer musste sogar ins Krankenhaus. Ich hoffe, dieser blutige Beigeschmack schadet dem Film nicht, der im Herbst in die Kinos kommen wird. Ich fand die Begegnung zwischen autistischen Tieren und Menschen wirklich traumhaft.
On Body and Soul, Ungarn 2017, 116 Min.,
R: Ildikó Enyedi, D: Alexandra Borbély, Géza Morcsányi
(Kinostart Herbst)
*
Maudie
Die nicht mehr ganz junge Maud lebt nach dem Tod ihrer Eltern bei
ihrer Tante an der kanadischen Atlantikküste. Hände und Füße sind
aufgrund einer rheumatischen Arthritis deformiert. Trotzdem malt sie
mit großer Begeisterung und ist fröhlich. Und sie will endlich auf
eigenen Beinen stehen.
Sie entdeckt im Laden einen Zettel, den der verschrobene Fischhändler und Hausierer Everett Lewis dort hat anbringen lassen: »Haushaltshilfe gesucht. Putzmittel sind mitzubringen.« Sie klopft an die Tür des abgelegenen, winzigen Häuschens und lässt sich von dem mürrischen Sonderling nicht vertreiben. Eine Schlafgelegenheit ist nicht vorgesehen, aber sie darf sich neben ihn legen. Maud bleibt und putzt und lacht und wackelt auf ihren kaputten Füßen neben ihm her, wenn er ausliefert. Sie fängt an, direkt auf die Wände bunte Blumen zu malen. Everett ist es egal. Als er mit ihr schlafen will, besteht sie darauf, dass erst mal geheiratet wird. Also wird eben geheiratet, und nun ist Maud die stolze Miss Everett, und trotzdem von allen geächtet. Er ist grob zu ihr und schlägt sie, und sie läuft weg und lässt sich von ihm zurückholen. Sie malt ihre Blumen und Landschaften auf Karten für die Kundschaft und verdient allmählich ein paar Dollar damit. Everett nagelt stolz Werbeschilder ans Haus, und ab und zu hält ein Auto. Das seltsame Paar findet seine Routine, auf eine ganz eigene Art. Maudie lacht ihr breites Lachen und wehrt sich, wenn Everett poltert und schimpft. Nur noch mit großer Mühe kann sie den Pinsel festhalten, in ihrer verkrüppelten Hand. Viel zu rasch stirbt sie an einem Emphysem. Everett kann es nicht fassen.
Die naive Malerin und Volkskünstlerin Maud Lewis wird in Kanada verehrt; das winzige Haus kann in einem Museum (und auf YouTube) bestaunt werden. Sally Hawkins ist es gelungen, Mimik und Gestik der kleinen Nationalheldin zu imitieren. Ethan Hawke ist ein wenig zu adrett als verschrobener Kauz, doch das macht nichts. Gelungen ist die Darstellung der wundersamen Liebe der beiden so ungleichen Partner. Bei der Pressekonferenz geht eine Journalistin davon aus, dass Regisseurin Aisling Walsh wohl auch im Besitz einiger Bilder sei. »Oh no«, antwortet diese ganz aufgeregt, »natürlich nicht. Ja, dann hätte ich wohl ausgesorgt, wenn ich ein Bild von Maud Lewis hätte.«
Maudie, Kanada/Irland 2016, 116 Min.,
R: Aisling Walsh, D: Sally Hawkins, Ethan Hawke
(Kinostart Herbst)
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Loving Pia
Pia ist 60 Jahre alt und geistig behindert; mit ihrer 84-jährigen
Mutter lebt sie auf der dänischen Insel Langeland im eigenen Haus. Sie
besucht eine Tageseinrichtung, in der das Thema Beziehung eine große
Rolle spielt. Auch Pia möchte endlich einen Freund haben. Ihre Mutter
bereitet Schritt für Schritt den Umzug ins betreute Wohnen vor. Am
Hafen lernt Pia den dicken Jens kennen, und die beiden beschließen,
einen Ausflug nach Kopenhagen zu machen. Werden sie ein Paar? Der
junge Regisseur hat sich bei diesem Spielfilm auf das Tempo seiner
Protagonisten eingelassen.
Auch der Zuschauer braucht Zeit, bis Pia endlich mit der Dusche im Hotelzimmer klarkommt und Jens seine Uhr gefunden hat. Die Gans Lola muss gefüttert werden, und es ist immer Zeit für eine Teepause. Das Publikum war sichtlich berührt, und nicht wenige von ihnen schienen die Materie bestens zu kennen.
Loving Pia (At Elske Pia), Dänemark 2017, 100 Min.,
R: Daniel Borgmann, D: Pia Skovgaard, Céline Skovgaard
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Ana, mon amour
Toma mit seinen Locken ist wunderschön, vor allem, wenn er lacht. Ana
ist wunderschön, und die beiden lieben sich und ihre intellektuellen
Debatten. Sie führen ein interessantes Leben an der Uni mit vielen
Freunden. Sie sind ein glückliches Paar. Sie fahren zu Anas Eltern in
die Provinz, wo sich Toma ein wenig ekelt vor dem Stiefvater, dessen
Schlafanzug er tragen und dessen Bett er teilen soll. Doch das tut
seiner Liebe zu Ana keinen Abbruch. Die beiden meinen es ernst. Er
stellt Ana seinen eher gutbürgerlichen Eltern vor, und es gibt Krach.
Doch das schweißt die beiden eher noch stärker zusammen. Ab und zu hat
Ana eine Panikattacke, vielleicht ist sie sogar medikamentenabhängig?
Toma ist fürsorglich; er sucht mit ihr nach der besten Behandlung, den
besten Ärzten. Der Psychiater meint, sie sei abhängig, müsse
ausschleichen, Trevilor und ein Blindmedikament werden stattdessen
verordnet. Ana ist verzweifelt. Eines Tages findet Toma sie mit einer
Überdosierung und vollgemachter Hose in ihrem Zimmer im Wohnheim.
Bevor er den Krankenwagen ruft, schleift er sie unter die Dusche und
säubert sie. Ana ist schwanger, die Ärztin befürchtet eine postnatale
Depression. Als Prophylaxe beginnt Ana mit einer Psychoanalyse. Sie
sucht nach Erklärungen in ihrer Kindheit, in ihrem Elternhaus.
Ist Ana von ihrem Stiefvater missbraucht worden? Inzwischen haben sich Ana und Toma völlig isoliert, sind nur noch mit sich und dem kleinen Jungen beschäftigt. Vor allem Ana sucht immer wieder Trost und Hilfe in der Kirche. Doch dann scheint die Therapie zu greifen, Ana blüht allmählich auf. Doch nun geht es Toma immer schlechter. »Ich wünschte, wir wären zusammen gewachsen«, meint Ana später einmal, und natürlich wäre es wunderbar, wenn sich beide gleichermaßen entwickelt hätten. Doch je unabhängiger Ana wird, desto mehr klammert Toma. Nur wenn sie schwach ist, ist er stark. Er ist ein kleinlicher, zänkischer Mann geworden. Er verliert seinen Job in einer Redaktion, später wird Ana genau diese Stelle angeboten. Es kommt zur Trennung, und Toma findet einen Therapeuten. Er erinnert sich und blickt zurück.
Der Film erzählt zunächst chronologisch, um dann immer häufiger vor- und zurückzuspringen. Es gibt zahlreiche Bezüge zu kulturellen und politischen Konflikten Rumäniens. In der Psychoanalyse erinnert sich Toma an die Szenen seiner Ehe, was zu langen Rückblenden führt. Insgesamt wird so ein Zeitraum von ca. zehn Jahren umgepflügt.
Nicht alle waren mit dieser Erzählweise einverstanden. Die etwas hektische Kamera und die vielen Szenenwechsel ließen nicht wenige Rezensenten leiden. Doch genau für diesen Schnitt wurde der Film mit einem Silbernen Bären (für eine herausragende künstlerische Leistung) ausgezeichnet. Mich hat vor allem die Fallhöhe beeindruckt: Auf die sinnlichsten Momente des ganzen Festivals folgt fast schleichend die Destruktion. »Ana, mon amour« ist eine gelungene Studie über Abhängigkeiten.
Ana, mon amour, Rumänien/Deutschland/Frankreich 2016, 127 Min., R: Calin Peter Netzer, D: Mircea Postelnicu, Diana Cavallioti
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Die Familien lösen sich auf, das wissen wir ja längst. Auch auf der Berlinale sprach man gerne von der »dystopischen« Familie. Sie trennen sich und finden wieder zueinander - oder auch nicht.
Die Tochter
Luca ist die kleine Tochter, Jimmy und Hannah sind ihre Eltern. Die
haben sich getrennt, Luca lebt nun bei der Mama. Aber Jimmy hat seine
Besuchstage. Endlich kommt er und erfüllt all ihre Wünsche. Sie lässt
ihn nach ihrer Pfeife tanzen, sie darf natürlich mit ihm das Bett
teilen. Sie liebt ihn, und Mama ist doof. Geplant ist ein kurzer
Urlaub auf einer griechischen Insel, wo die beiden ein Ferienhaus
haben. Das soll nun endlich verkauft werden, doch vorher ist einiges
zu erledigen. Hannah beobachtet eifersüchtig das innige
Vater-Tochter-Gespann. Doch dann geschieht ein Wunder: Hannah und
Jimmy werden wieder ein Paar. Nun wollen sie auch die Nacht
miteinander verbringen. Luca pocht auf ihre älteren Rechte als
Bettgenossin, also schleicht sich Jimmy erst nachts zu seiner neuen
alten Geliebten. Luca ist sauer, sie wird es den beiden zeigen. Ein
kleiner großer Film, gut inszeniert und beobachtet, über Manipulation
in der Triangulation.
Die Tochter, Deutschland 2017, 103 Min.,
R: Mascha Schilinski; D: Helena Zengel, Karsten Antonio Mielke,
Artemis Chalkidou
*
Barrage
Catherine hat in der Schweiz gelebt, nun kehrt die junge Frau zurück
nach Luxemburg. Hier lebt ihre Tochter Alba, die von Catherines Mutter
großgezogen wurde. Sie beobachtet beide auf dem Tennisplatz und
erinnert sich an ihr eigenes, unerbittliches Training als Kind. Sie
möchte Alba bei sich haben, und eine kurze Besuchszeit dehnt sie
einfach aus. Sie fährt mit Alba in das schicke Sommerhaus der Familie.
Nichts ist vorbereitet, nichts ist geplant, Catherine ist ganz und gar
ihren wechselnden Emotionen ausgeliefert. Mal ist sie albern und
kindlich, dann wieder schroff und aggressiv.
So langsam ahnt der Zuschauer, weshalb ihre Tochter nicht bei ihr aufwachsen durfte.
Die drei weiblichen Rollen sind exzellent besetzt - das rettet den Film. Isabelle Huppert hält sich als Großmutter zurück, um ihrer Tochter, der Schauspielerin Lolita Chammah, als Borderline-Mama die Bühne zu überlassen. Vor allem aber glänzt Thémis Pauwels als hin- und hergerissene Tochter.
Barrage, Luxemburg/Belgien/Frankreich 2017, 112 Min., R: Laura Schroeder; D: Lolita Chammah, Thémis Pauwels, Isabelle Huppert
*
Die beste aller Welten
Am Anfang ein wunderschönes Lagerfeuer am Ufer der Salzach. Junge
Männer singen zur Gitarre, sie rauchen, kiffen und trinken, unter
ihnen der siebenjährige Adrian und seine Mutter Helga. »Ich will auch
einmal ein Abenteurer werden«, sagt er, als er eine Pfeilspitze
findet. Ein kleines Feuerwerk ist der perfekte Abschluss dieser
Sommernacht. Helga packt Adrian an der Hand, gemeinsam rennen sie nach
Hause, und routiniert räumen sie blitzschnell auf und putzen die
Wohnung. Pünktlich klingelt der Sozialarbeiter vom Jugendamt. Er ist
skeptisch, ob Helga Adrians Erziehung trotz ihrer Sucht bewältigt.
Plötzlich hechtet ein Langhaariger über das Balkongeländer und steht
im Zimmer. Verblüfft verabschiedet sich das Jugendamt, und Helga
schimpft mit dem »Griechen«, ihrem Dealer. Dann kehrt der Alltag in
der kleinen Wohnung wieder ein. Adrian spielt und träumt und sitzt
zwischen den Junkies, die einer nach dem anderen in der Schlafstube
verschwinden, um dann bedröhnt herumzuliegen. Er wundert sich nicht,
er kennt es nicht anders. Seine Mutter versucht, alle Widersprüche
auszugleichen, trotz ihrer Sucht eine gute Mutter zu sein. Ihren Job
an einer Würstelbude verliert sie wieder. Ab und zu taucht die Polizei
auf, dann verschwindet einer der Besucher im Bettkasten. Adrian
schmuggelt Zigaretten und Feuerwerkskörper in die Schule und bekommt
Ärger. Er soll in den Hort, doch er weigert sich hartnäckig. Er liebt
es, mit seiner Mutter Helga zusammen zu sein, an der Salzach oder in
der verräucherten Wohnung. Bis eine kleine Katastrophe zu einer Wende
führt.
Obwohl der Film ein gutes Ende hat, bin ich mir sicher, dass der Junge - aufgewachsen in diesem Milieu - unter einer schweren Störung leiden wird. Ich weiß es genau. Da zeigt der Abspann, dass der Film von eben diesem Jungen gedreht wurde. Adrian Goiginger studiert an der Filmakademie in Ludwigsburg und hat sein Studium für zwei Jahre für die Realisierung dieses Spielfilms unterbrochen. Seine Mutter ist mit 39 Jahren an Krebs gestorben; für sie hat er diese Liebesgeschichte realisiert.
Für mich ist »Die beste aller Welten« ein Meisterwerk über Sucht und Resilienz. Er überzeugt auch technisch, z.durch die wunderbare Umsetzung der Abenteurer-Fantasien des kleinen Adrian. Er wurde als bester Film der Reihe »Perspektive deutsches Kino« ausgezeichnet. Ab Herbst in den Kinos!
Die beste aller Welten, Deutschland/Österreich 2017, 103 Min.,
R: Adrian Goiginger, D: Verena Altenberger, Jeremy Miliker
(Kinostart Herbst),
http://diebesteallerwelten.at/
Ja ja, ich weiß, die wichtigste Frage: Welchen dieser Filme kann ich denn nun im Kino sehen? Bei einigen ist der Kinostart avisiert, dann habe ich es auf der unten stehenden Liste angegeben. Einige hier nicht erwähnte Filme sind bereits »durch«, z.»Die wilde Maus« mit Josef Hader. Bruno Ganz' hervorragende Performance als Patriarch in »Zeiten des abnehmenden Lichts«, einem der vielen Beiträge zur deutschen Geschichte hüben und drüben, ist ab 1. Juni zu sehen. Vielleicht müssen Sie Ihre Couch gar nicht verlassen? Erstaunlich viele Filme wurden von TV-Sendern koproduziert und werden früher oder später sowieso auf Ihrem Flatscreen landen. Die Serie »Der gleiche Himmel« startet im Frühjahr im ZDF. Die ersten beiden Folgen konnte ich sehen: Viele Klischees, von der Stasi-Ausbildung bis zu den Schwulen in Prenzlauer Berg, aber dank Tom Schilling und Ben Becker beste Unterhaltung.
Hinweis
Aktuelle Filminfos ständig unter:
www.psychiatrie.de/bibliothek/aktuelle-kinofilme/
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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 156 - Heft 2/17, April 2017, Seite 53 - 57
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2017
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