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BERICHT/228: Wie höflich ist das Internet? (idw)


Stiftung Universität Hildesheim - 29.05.2013

Wie höflich ist das Internet?

Ist Kommunikation im Internet wirklich so unfreundlich, wie oft behauptet wird? Sprachwissenschaftler nehmen an der Universität Hildesheim Facebook, YouTube, Twitter und Diskussionsforen unter die Lupe. "Die sprachlichen Strategien, die Online-Nutzer verwenden, bieten auf der Höflichkeitsskala alle Möglichkeiten", sagt Prof. Dr. Christiane Maaß, Medienlinguistin an der Uni Hildesheim.



Wie regelt man das Miteinander in sozialen Medien? Wie sehr unterscheiden sich unsere Postings bei Facebook von Gesprächen Angesicht zu Angesicht? Online sind Kommunikationspartner räumlich und zeitlich getrennt - und kennen sich meistens auch nicht persönlich. Welche Auswirkungen das auf unser sprachliches Handeln hat, diskutierten Sprachwissenschaftler auf einer internationalen Tagung an der Universität Hildesheim. Wissenschaftliche Theorien zu sprachlichen Verhaltensstrategien gehen davon aus, dass jeder Mensch das Bedürfnis nach Anerkennung seiner Persönlichkeit und nach individueller Freiheit hat. Diese Bedürfnisse durchzusetzen - Sprachwissenschaftler nennen sie "Face" -, kann im Widerspruch zu denselben Bedürfnissen der Mitmenschen stehen. In der alltäglichen Kommunikation geht es neben den eigentlichen Inhalten immer auch darum, sich sprachlich so auszudrücken, dass man ohne eine Verletzung des eigenen oder fremden Face sein Ziel erreicht - also beispielsweise abzuwägen, wie deutlich Kritik formuliert werden kann.

Welche sprachlichen Strategien es dabei gibt, wurde bisher noch nicht für Kommunikation in sozialen Online-Medien untersucht. Diese Forschungslücke bot Anlass zu der dreitägigen Tagung "Face Work and Social Media", organisiert von den Hildesheimer Medienlinguistinnen Prof. Dr. Christiane Maaß und Dr. Kristina Bedijs. Sprachwissenschaftler und Psychologen stellten theoretische Ansätze und empirische Untersuchungen von Medien wie Facebook, YouTube, Twitter und Diskussions- und Hilfeforen vor. Dabei wurden Sprachen wie Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch und Russisch analysiert.

Wie sich Sprachwechsel in Diskussionen auf der Plattform Facebook entwickeln, zeigen Schweizer Forscherinnen. Englisch schreibende Nutzer wollen sich einem internationalen Freundeskreis präsentieren, Antworten in der eigenen Sprache beschränken eine Unterhaltung auf einen kleineren Kreis und werden unter Umständen als unhöflich empfunden, so ein Ergebnis von Dr. Brook Bolander und Prof. Miriam Locher.

Trotz der Verschiedenheit der Sprachen steht für Nutzer sozialer Medien die Konstruktion einer Online-Identität im Vordergrund, mit der sie Facetten ihrer Persönlichkeit präsentieren und sehr sensibel auf Lob und Anfeindungen reagieren.

"Nutzer werden durch gemeinsame Interessen zu Gruppen, die sich dann über ein YouTube-Video lustig machen oder ihr Gemeinschaftsgefühl durch gegenseitiges Lob stärken, ohne sich offline je zu begegnen", sagt Dr. Kristina Bedijs. Online werden keineswegs nur Beleidigungen ausgetauscht: Bei der Bewertung von Rezepten auf Kochportalen geben sich Nutzer oft viel Mühe, Kritik in freundliche Worte zu verpacken. Auf dem Reiseportal CouchSurfing ist das Kritisieren noch heikler, denn es geht darum, Gäste und Gastgeber zu bewerten - anstatt offen zu verurteilen, drücken die Nutzer ihre Unzufriedenheit meist indirekt und vorsichtig aus. Und auch für effektives Online-Lernen spielt ist es relevant, wie höflich Tutoren die Lernenden auf Fehler hinweisen.

In Gesprächsrunden ist nicht jede Person in gleicher Weise als Experte anerkannt. "Auch in Online-Diskussionen müssen alle Beteiligten ihre Rolle aushandeln. Man kann sich zum Beispiel als Spezialist positionieren, indem man seine Diskussionsbeiträge komplex formuliert und fachsprachliche Ausdrücke verwendet", sagt Bedijs. Wie ein solches Auftreten ankommt, ob besonders glaubwürdig oder doch arrogant, muss sorgfältig abgewogen werden.

Zur Selbstdarstellung gehören neben den Diskussionsbeiträgen auch Profilbilder, Signaturen und Nutzernamen - über deren Rolle die Hildesheimer Doktorandin Uta Fröhlich forscht. Smileys, die grafisch immer aufwendiger werden, können Teile des Face Work übernehmen. Für den Verlauf von Online-Diskussionen ist außerdem entscheidend, ob es sich um inhaltsbezogene Beiträge handelt, bei denen Nutzer vor allem ihre eigene Meinung präsentieren wollen - oder ob gegenseitige Hilfeleistung im Vordergrund steht, so die Professoren Claus Ehrhardt und Beatrix Kreß. Nutzer, die sich für all das gar nicht interessieren und Diskussionen absichtlich stören, werden Trolls genannt. Wie Online-Gemeinschaften mit solchen Saboteuren umgehen, untersucht Dr. Bettina Kluge: Von der Zurechtweisung über den Versuch einer geordneten Diskussion hin zum gemeinschaftlichen Ignorieren reichen hier die Strategien.

In Online-Medien existiert eine Bandbreite an höflichen und unhöflichen Strategien. "Internetnutzer präsentieren sich in sozialen Medien sehr bewusst", sagt Bedijs nach der Konferenz, "ob ihr sprachliches Verhalten die gewünschte Wirkung auf andere hat, hängt stark damit zusammen, wie bewusst sie auch auf die Bedürfnisse der anderen eingehen." Wie in einer Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht können manche Nutzer die Reaktion der anderen gut einschätzen, andere verhalten sich weniger rücksichtsvoll. "Die sprachlichen Strategien, die Online-Nutzer für ihr Face Work verwenden, sind jedenfalls reichhaltig und bieten auf der Höflichkeitsskala alle Möglichkeiten", ergänzt Prof. Dr. Christiane Maaß.

Abstracts, ausführlicher Tagungsbericht und Kontakt:
www.uni-hildesheim.de/facework

Weitere Informationen unter:
http://www.uni-hildesheim.de/fb3/institute/institut-fuer-uebersetzungswiss-fachkommunikation/
- Institut für Übersetzungswissenschaft und Fachkommunikation

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution102

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Stiftung Universität Hildesheim, Isa Lange, 29.05.2013
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2013