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BERICHT/220: "Gibt es dafür auch eine App?" - Wie das Internet die Menschen ... verändert (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2012



"Gibt es dafür auch eine App?"
Wie das Internet die Menschen und die Gesellschaft verändert

Von Aleksandra Sowa

Netzskeptiker ist heute nicht mehr derjenige, der die Nutzung des Netzes und der Internetdienste ablehnt oder verweigert, denn "es gibt kein Offline mehr", wie Markus Beckedahl und Falk Lüke in Die Digitale Gesellschaft feststellen. Das Internet ist Teil unseres Lebens geworden und tangiert auch diejenigen, die nicht "drin" sind. Inzwischen ist aber "drin" zu sein für sehr viele Menschen, vor allem die jungen, etwas völlig Alltägliches. Wenngleich "auch heute [...] Kinder erst Dreirad, Tretroller oder Fahrrad und nicht den von Apple-Chef Steve Jobs und anderen als Zukunft der Mobilität bezeichneten Elektroroller Segway" fahren, so kommen Kinder heute doch viel früher als die vorherigen Generationen mit elektronischen Geräten, digitaler Technik und Medien in Berührung.

Das hat weitgehende Konsequenzen - und zwar nicht nur in Bezug auf die körperliche Verfassung -, meint Gehirnforscher Manfred Spitzer in Digitale Demenz. Das menschliche "Gehirn ist das Produkt der Evolution", das heißt es formierte sich über die Jahrtausende durch Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen, "zu denen digitale Medien definitiv nicht gehörten". Erstmalig im Jahr 2007 haben koreanische Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass junge Menschen scheinbar immer vergesslicher werden. Aber erst, wenn die Kassiererin zwei plus zwei auf der Tastatur tippt und nicht bemerkt, dass 400 als Ergebnis falsch sein muss, kann man laut Spitzer von digitaler Demenz sprechen. Denn erst, wenn niemand mehr mitdenkt, sondern sich gänzlich auf seine digitalen Assistenten verlässt, geht es um geistige Leistungsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Denken - um die "Übersicht im Dickicht der Informationsflut". Genau genommen geht es um den Verlust dieser.

Ich erinnere mich, dass ich mein Notebook in meinem Arbeitszimmer gelassen habe. Ich kann die Erinnerung unterstützen, indem ich ein Foto von dem Computer mache, es ins Netz stelle, das heißt, einen Teil meines Wissens außerhalb meines Kopfes "auf Papier, der Festplatte meines Computers oder irgendwo in der Cloud" ablege. Das kann ich mit beliebig vielen Informationen machen - ich muss mich nicht mehr daran erinnern. Die Verführung der großen Wolke, des Cloud Computing, liegt in den unendlichen Weiten des Speichers, wo alles abgelegt werden kann, woran man sich nicht mehr zu erinnern braucht. Man braucht lediglich die Information abzurufen, den Kontext herzustellen und sie auszuwerten. Eine kleine Anstrengung des Geistes ist dafür notwendig, denn der Computer ist auch nur so schlau wie der Mensch, der davor sitzt.

Aber: "Wie leistungsfähig wir geistig sind, hängt davon ab, wie viel wir geistig leisten", ermahnt Spitzer. Das menschliche Gehirn funktioniert ähnlich wie ein Muskel und verändert sich mit seinem Gebrauch. Wird es nicht genutzt, verkümmert es; die "neuronale Hardware" wird abgebaut. Ein freiheitsliebender Mensch lernt ein Leben lang, denn "Bildung macht frei" und nur "wer gebildet ist, kann sich kritisch gegenüber sich selbst und seiner Umwelt verhalten". Diese Fähigkeit, Informationen kritisch zu bewerten und auszuwerten, scheint unentbehrlich, wenn man sich mit Hilfe des Internets informieren möchte.

Man möchte wissen, wer das Telefon erfunden hat? Beckedahl und Lücke haben recherchiert: "In den USA lernen die Kinder: Alexander Graham Beil. In Deutschland lernten sie: Johann Philipp Reis. In Ungarn Tivadar Puskàs. In Italien stritt man sich darüber, ob man diese Erfindung eher Antonio Meucci oder Innocenzi Manzetti zuschreiben soll". Im Internet prallen diese unterschiedlichen Sichtweisen aufeinander und kollidieren. "Die Informationsmasse erzeugt keine Wahrheit", pointiert Byung-Chul Han: "Je mehr Information freigesetzt wird, desto unübersichtlicher wird die Welt". Mehr Informationen bedeuten daher nicht zwingend mehr Wissen oder eine bessere Bildung. Die "vernetzte Vernunft" zeichnet sich laut Jörg Friedrich vielmehr dadurch aus, dass sie den Geist eines Menschen im Zentrum hat, "ihre Fäden und Knoten aber weit nach draußen reichen" um das, "was sie weiß, bei Bedarf immer wieder neu zu rekonstruieren".

Die Grundlagen für ein lebenslanges Lernen werden mit einer guten Bildung in Kindheit und Jugend gelegt. Heute spricht man deshalb darüber, wie mit Hilfe von Internet, Social Media und Computer das Lernen in der Schule revolutioniert wird: E-Learning für den Biologieunterricht, einen Blog über Goethes Faust, Laptops in den Kindergärten. Für Manfred Spitzer ist der Nachweis für die Behauptung, die moderne Informationstechnik würde das Lernen in der Schule verbessern, noch nicht hinreichend. Eine Reihe von Experimenten belegt laut Spitzer die negative Wirkung von Bildschirmen, sozialen Netzwerken, Internetsurfen oder Videospielen auf die geistige - und folglich körperliche - Verfassung der Menschen. Dabei hat der typische 21-jährige "Digital Native" bereits im Schnitt 250.000 E-Mails und Kurznachrichten gesendet bzw. empfangen, 5.000 Stunden Videospiele gespielt und 3.500 Stunden in sozialen Netzwerken verbracht. "In den USA verbringen Jugendliche [...] mehr Zeit mit digitalen Medien - gut siebeneinhalb Stunden täglich - als mit schlafen", stellt Spitzer fest, "in Deutschland liegt die Mediennutzung von Neuntklässlern bei knapp 7,5 Stunden täglich".

Schlechtes Erinnerungsvermögen, Schrumpfen des sozialen Gehirns oder Veränderung und Einschränkung des sozialen Umfelds seien nur einige Beispiele für Folgen exzessiver Nutzung digitaler Medien.


Neue Machtstrukturen und die Ahnungslosigkeit der Politik

Dabei erzeugen laut Byung-Chul Han soziale Medien und personalisierte Suchmaschinen noch einen weiteren Effekt: Sie "errichten im Netz einen absoluten Nahraum". In dieser "digitalen Nachbarschaft" begegnet der Teilnehmer nur diesen Ausschnitten der Welt, die ihm gefallen; das kritische, öffentliche Bewusstsein wird abgebaut. "Drin" zu sein bedeutet nicht für jedermann das Gleiche. Es gibt in der Netzgesellschaft die "Eingeborenen", die "Digital Natives", die mit dem Internet groß geworden sind sowie die Angelernten oder Angepassten, denen sich die Welt des Internets erst erschließen musste - die "Digital Immigrants". Entgegen der Erwartung wächst allerdings mit den Digital Natives keine Generation von "digitalen Wunderkindern" heran. Laut Spitzer wurde bei dieser Generation "für das Lernen notwendige Tiefe geistiger Arbeit [...] durch digitale Oberflächlichkeit ersetzt". Dies hat zur Folge, dass die sogenannten Digital Natives immer mehr Effektoren bzw. Konsumenten des Netzes und des darin Geschehenen sind, und immer weniger, wie es der Mythos möchte, sogenannte Influencer (Anbieter der Dienste und Inhalte) werden.

Die Netzgesellschaft hat sich inzwischen auch ihre eigenen "Machtstrukturen" erarbeitet - obwohl die Macht an sich nicht diabolisch ist, wie Byung-Chul Han bemerkt, und es logisch erscheint, dass "je freier Menschen in ihrer Beziehung zueinander seien, desto größer [ist] ihre Lust, das Verhalten der Anderen zu bestimmen". Ähnlich einer Gesellschaft im Mittelalter, hat die Netzgesellschaft ihre "Schäfer", "Schäferhunde" und "Schäfchen". Es gibt die "Nora Normalnutzer", die zu den Effektoren der Internet-Angebote gehören, die Oberschicht der Programmierer und Administratoren, also der "mächtigen Maschinenbediener", und - natürlich - die Politiker und Aktivisten. Letztere stellen eine Steuerungs- und Kontrollinstanz für das Netz dar, wenngleich dies bei der Politik lange nicht ganz offensichtlich gewesen ist. "Die Politik hat sich der Themen Internet und Digitalisierung lange Jahre in erster Linie ausschließlich zu Werbezwecken angenommen", schreibt einer der ersten deutschen Netzaktivisten, Markus Beckedahl. Schon als Gerhard Schröder 1998 den Wahlkampf als Kanzlerkandidat der SPD betrieb, war es klar: "Wer Internet nutzt, ist cooler als der, der kein Internet nutzt".

Für Jahre galt die Frage, die die frühere Justizministerin Brigitte Zypries - mit zuständig für viele Gesetze zum Internet - im Jahr 2007 einer Gruppe von 6-jährigen, im Auftrag des ZDF-Morgenmagazins tätigen Kinderreportern stellte, als der Standard, um das Verhältnis von Politik zum Netz zu beschreiben. "Browser, was sind noch mal Browser?", fragte sie irritiert in die Kamera, als der Reporter sie fragte, welche Browser sie zum Surfen nütze. Die Politik hat im Bereich der Digitalisierung in der Vergangenheit nicht so leistungsfähig und kompetent reagiert, wie man sich dies hätte erhoffen können, konstatieren Beckedahl und Lüke. Die Ursache für die hohe Anzahl gescheiterter IT-Großprojekte auf diesem Gebiet, die zugegebenermaßen nur teils von der Politik, teils von der Wirtschaft konzipiert wurden, sehen die Autoren von Die digitale Gesellschaft "in der Ahnungslosigkeit vieler Politiker".

Ob nun im Versagen der Politik begründet oder als selbstverständlicher Ausdruck freier Willensbildung, die den demokratischen Gesellschaften eigen ist, entwickelte sich "fernab der politischen Entscheidungsträger [...] unter denen, die eine leise Vorahnung von dem hatten, was da auf die Gesellschaft zukommt, eine lebendige und bunte Szene". Für die Netzaktivisten ist das Internet gleichwohl Träger der politischen Meinungsbildung und des Engagements sowie politisches Hauptpostulat. Denn "Netzpolitik", wie Unternehmer und Philosoph Jörg Friedrich in Kritik der vernetzten Vernunft formuliert, "ist zum großen Teil Politik im Interesse derer, die das Netz vorrangig benutzen und die deshalb diese Benutzung sichern und in ihrem Sinne gestalten wollen - und sie ist damit eine Politik der Herausforderung derer, die dieses Netz nicht oder nur im geringen Maße nutzen und ihm auch eine geringere Bedeutung beimessen".

Im Epizentrum des Netzaktivismus steht die Frage, "ob man wirklich die Gestaltung einer künftigen digitalen Gesellschaft inkompetenten Politikern und in erster Linie auf ihren Gewinn konzentrierten Unternehmen überlassen sollte - und ob die Antworten, die diese formulieren, wirklich das sind, was die Bürger wollen könnten". Das Instrument, das das Internet den Netzaktivisten dafür bietet, scheint schier unbegrenzt. Sogar "Flashmobs" wurden zum Prototyp für spontane, politische Handlungen. Wenngleich er heute noch keine politische Funktion hat, so zeigt er laut Jörg Friedrich, "wie temporär für eine konkrete Idee die Synchronisation vieler, die in einer bestimmten Frage Gleichgesinnte sind und deren Wille in diesem Moment übereinstimmt, möglich ist". Spontaneität und Unberechenbarkeit manifestieren sich besonders stark in den Aktionen von Anonymous und den anderen extremen Netzaktivisten: den Hacktivisten.

Für jüngere Formen des politischen Engagements wie Netzaktivismus gilt laut Jörg Friedrich, dass wenn durch politisches Handeln (egal, ob damit eine Demonstration auf der Straße oder ein virtuelles Sit-In gemeint ist) Konsequenzen erzwungen werden sollten, die Leiblichkeit der Handelnden, "ihre leibliche Anwesenheit" notwendig sei. Denn: "Alles Virtuelle ist auch real" und "nichts bleibt auf Dauer virtuell". Deshalb könne "keine politische Online-Meinungsäußerung jemals so wirksam sein wie eine Aktion auf der Straße".

In einem Cartoon in Jörg Friedrichs Kritik der vernetzten Vernunft stehen sich Digitale Native und Digital Immigrant gegenüber: "Ich meine Revolution, da geht man auf die Straße, mit ganz vielen Leuten und Fahnen, Plakaten und Steinen und so ..." - klärt der ältere Revolutionär einen Schuljungen mit Schulranzen und Laptop auf. "Gibt es dafür auch eine App?", kommt prompt als Antwort.


Aleksandra Sowa leitete zusammen mit dem deutschen Kryptologen Hans Dobbertin das Horst Görtz Institut für Sicherheit in der Informationstechnik. Sie ist Autorin zahlreicher Fachpublikationen und aktuell in einem großen Telekommunikationskonzern tätig.

LITERATUR

- Merkus Beckedahl und Falk Lüke:
Die digitale Gesellschaft: Netzpolitik, Bürgerrechte und die Machtfrage. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2012, 220 S., 14,90 Euro.

- Jörg Friedrich:
Kritik der vernetzten Vernunft. Philosophie für Netzbewohner. Heise Zeitschriften Verlag, Hannover 2012, 176 S., 16,95 Euro.

- Byung-Chul Han:
Transparenzgesellschaft. Matthes und Seitz, Berlin 2012, 96 S., 10,00 Euro.

- Manfred Spitzer:
Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Droemer, München, 2012, 368 S., 19,99 Euro.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2012, S. 52-55
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2012