Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

WILDCAT/023: Ausgabe 88 - Winter 2010


Wildcat 88 - Winter 2010



Inhalt:
Editorial
Liberalismus am Ende
Europa - gegen die Krisenpolitik kämpfen?
England: krise kriegen in hackney
Frankreich: Mobilisierung gegen die Rentenreform
Spanien: Generalstreik als Ventil
Griechenland: Kein heißer Herbst?
Commons, Common Wealth, Commonismus
Heiße Kartoffel
Was war die Allmende?
Kampf um Wert oder Klassenkampf?
Vom Empire zum Commonwealth
Stuttgarter Momente
Nach dem Castor...
Bücher
...aus Italien
...zur Gentrifizierung in Hamburg
...zum Organizing
Was bisher geschah

Raute

Zur Beilage in diesem Heft

Gilles Douvé & Karl Nesic:
Arbeiter verlassen die Fabrik

Loren Goldner:
Der historische Moment, der uns hervorgebracht hat

Globale Revolution oder kapitalistische Neuzusammensetzung?
1789 1848 1871 1905 1917 1968 20??
Insurgent Notes 1


Die beiden Texte der Beilage drehen sich um eine zentrale Frage: Nur die Arbeiterklasse kann die Revolution machen - aber warum hat sie sie nicht einmal 1918 in Deutschland gemacht? Und Loren Goldner fügt im Untertitel seines Artikels hinzu: Warum nicht 1789, 1848, 1871, 1905, 1917 oder 1968? Beide Texte suchen die kommunistische Perspektive. Und auch wenn die Texte genau entgegengesetzte Positionen zur kapitalistischen Krise einnehmen - sie hat Fragen nach Arbeiterklasse, Revolution und Kommunismus wieder auf die Tagesordnung gesetzt.


ArbeiterInnen verlassen die Fabrik

Wie ist eine Revolution möglich, wenn "die" ArbeiterInnen sich in der Fabrik einrichten? Nur "Arbeit" sind und nicht "Klasse" - während doch überall das "Leiden an der Arbeit" zunimmt? Wer ist heute das Proletariat? Und wo haben die Kämpfe ihren Ort, wenn das Arbeiterviertel verschwunden ist?

Der Text von Dauvé/Nesic zeigt auf, wie sich 2009 aktuelle Ereignisse (Kämpfe gegen Betriebsschließungen, Boss-Napping) in Frankreich vom Klassenstandpunkt aus entschlüsseln lassen - und kommt dann auf ein heftiges Problem zu sprechen: Wie lässt es sich erklären, dass gleichzeitig große Arbeiterkämpfe in den französischen Überseegebieten laufen, und beide Auseinandersetzungen völlig getrennt voneinander stattfinden? Wie ist das möglich in Zeiten der Globalisierung und Herausbildung eines weltweiten Proletariats?

Gilles Dauvé hat uns das Heft zusammen mit einem Brief geschickt, in dem er auf die vielen Anregungen hinwies, die ihm die (englischsprachigen) Artikel auf wildcat-www.de über die weltweite Proletarisierung und das "Ende der Bauernfrage" gebracht haben. Trotzdem scheint uns, dass Dauvé/Nesic unsere Thesen zur globalen Proletarisierung nur "soziologisch" zur Kenntnis nehmen und die politischen Schlussfolgerungen nicht diskutieren. Die Krise des Kapitalismus interessiert sie nur, wenn sie eine von den Arbeitern bewusst betriebene Krise der Lohnarbeit ist.

Sie leisten eine gute Kritik an neueren Diskussionen wie z.B. zum Prekariat/Kognitariat - aber letztlich stellt sich ihr Klassenbegriff als ziemlich "geschlossen" heraus. Zwar stellen sie immer wieder die Frage, welche Kategorien der Klasse wie handeln, aber im Grunde suchen sie nicht in den realen Bewegungen, sondern in den Köpfen der ArbeiterInnen den Kommunismus. Begriffe wie Klassenzusammensetzung oder die Diskussion um die Zentralität bestimmter Kategorien (Facharbeiter, Massenarbeiter) in historischen Etappen kapitalistischer Produktion ignorieren sie komplett (etwa Sergio Bolognas Kritik der facharbeiterzentrierten Rätebewegung).

Der Arbeitsprozess selbst bleibt außen vor: Zwar werden die OS [Massenarbeitet] am Fließband erwähnt, aber die Kooperation in der Produktion, wie sie die ArbeiterInnen entwickeln, ist für Dauvé/Nesic kein Thema. Im Grunde verstehen sie den Antagonismus im Produktionsprozess nicht.

Nach vielen Seiten Lektüre ist man am Ende etwas enttäuscht, doch nur mit der Frage konfrontiert zu sein, wie der Proletarier "an sich" zum Proletarier "für sich" kommt, "denn nur das Proletariat wird im Stande sein, diese Frage zu stellen und zu lösen." Das heißt auch: Der Text gibt keine Hinweise auf hoffnungsvolle Neuansätze oder darauf, was wir selbst tun können. Ob Kämpfe revolutionär werden können, bleibt für Dauvé/Nesic an einen möglichen kapitalistischen Boom gebunden, in dem die Arbeitskraft gebraucht wird und deshalb Macht entwickeln kann.

Sie grenzen sich strikt von allen Strömungen ab, die auf eine "Selbstverwaltung" der ArbeiterInnen im Kapitalismus hinzielen. Ziel könne nur die "Vergemeinschaftung" sein, wie sie an den "griechischen Weihnachten" 2008 kurz aufgeblitzt sei. Hierin sehen sie wohl auch die Überwindung der nur quantitativen Beschreibung der Proletarisierungsprozesse. (Wir selber graben diesbezüglich in den Kämpfen entlang der globalisierten produktiven Kooperation - ebenfalls mit mäßigen Erfolgen.)

Die Autoren setzen sich mit allen gängigen Klassentheorien links der KP auseinander (allerdings findet sich keine Kritik bzw. Selbstkritik an eigenen, älteren Texten). Auch wenn man manchmal das Gefühl hat, sich in eine Spirale hineinzulesen: Der Text versucht so systematisch wie möglich, all diese Theorien der letzten 150 Jahre über die Arbeiterklasse durchzugehen. Man spürt regelrecht, wie dabei die gesamte linkskommunistische Tradition auf den Autoren lastet. Ihre Argumentation windet sich, lässt spüren, wie sie um die Sätze gerungen haben. Kaum ein Satz, der nicht mit einer Konjunktion oder Einschränkung (wenn dann) beginnt. Sie versuchen, das festzuhalten, was klar ist, um sich (vorsichtig) neuen Einsichten zu öffnen.

Während sie die Geschichte der "Arbeiterlinken" akribisch diskutieren, positionieren sich die Autoren in der heutigen Debatte, ohne die Namen ihrer politischen Kontrahenten zu erwähnen. Die Bezüge wird also nur verstehen, wer in der französischen Debatte bewandert ist - aber man kann den Text auch ohne Kenntnis dieser Debatte verstehen, und ihre Darstellungsweise hat den Vorteil, dass sie die Potenziale und Grenzen der Arbeiterkämpfe im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit halten. Zum Beispiel sehen sie die materielle Grundlage des Reformismus im Arbeiterverhalten: Solange diese was kriegen, ohne zu kämpfen oder ohne bestimmte Grenzen zu überschreiten, tun sie das auch nicht.


Loren Goldner setzt im zweiten Text der Beilage einen anderen Schwerpunkt. Die unterschiedlichen Sichtweisen werden z.B. am Verhältnis zum Reformismus deutlich. Goldner kritisiert scharf die "nichtmarxisrische Linke", die dem Kapitalismus bei seiner Reform behilflich ist. Sie habe "wiederholt eine essentielle Rolle dabei gespielt, den Kapitalismus für eine neue Akkumulationsphase umzugestalten." Aber die Bewegung kritisiere eben nicht "die globalen Keynesianer Stiglitz, Sachs, Soros, Krugman usw., die zu den führenden Kandidaten für die Umgestaltung des Kapitalismus auf Kosten der Arbeiterklasse und ihrer potentiellen Verbündeten gehören."


Der historische Moment, der uns hervorgebracht hat

Loren Goldner gibt zusammen mir anderen GenossInnen seit Juni 2010 die Online-Zeitschrift Insurgent Notes heraus. Der von uns übersetzte Text ist der Einleitungsartikel der Nummer 1. Darin stellt Goldner die vergangenen Krisen in einen Zusammenhang, um die historische Bedeutung der aktuellen Krise zu fassen. Angemessen seine Verachtung in der Darstellung der kapitalistischen Angriffe der letzten 30 Jahre, die auch das Denken und die Kultur durchdrungen haben. Sie seien ein Kampf gegen die Wirklichkeit, denn die globale Arbeiterklasse habe schon lange (produktive) Möglichkeiten, die weit über die kapitalistische Produktionsweise hinausgehen. Dieses "verkehrte" Potential ist der positive Fixpunkt, dessen Bedeutung hinter all der Zerstörung herausgearbeitet werden muss, denn das Kapital kann nur noch durch Rückentwicklung weiterexistieren. Statt die Zerstreuung von Produktion und ArbeiterInnen identitätspolitisch zu glorifizieren, müssen wir mit einem neuen - dem einzig möglichen - "universellen Projekt" den globalen "Gesamtarbeiter" (Marx) befähigen, die Gesellschaft zu revolutionieren.

Logischerweise endet Lorens Text mit einer Art Übergangprogramm. Erstmal gut, dass er seine eigene Analyse so ernst nimmt, dass er ihre praktischen Konsequenzen aufzuzeigen versucht. Aber weder halten wir seine Vorschläge (Kernfusion!) für praktikabel, noch teilen wir seine Überzeugung, ein solches Programm sei für die nächsten Schritte dringend notwendig. Es geht aus der falschen Analyse hervor, revolutionäre Bewegungen wie z.B. in Argentinien seien immer am Fehlen eines solchen Programms gescheitert - stattdessen ist gerade Argentinien ein Beispiel dafür, wie die Klasse auch in Kämpfen ihre Zersplitterung nicht überwindet.


Von Beilagen zur gemeinsamen politischen Debatte

Beide Texte regen produktive Debatten an, weil sie uns zwingen, unsere eigenen Überlegungen weiterzutreiben - und weil sie eine ganze Menge zu diesem Prozess beizutragen haben. Wir wollen ihre unterschiedlichen Schwerpunkte und Einsichten, ihre Stärken in den Zusammenhang einer gemeinsamen Debatte stellen.

Das ist die dritte "theorielastige" Beilage in kurzer Zeit. Es ist die letzte. Denn wir wollen mehr.

Theoriebildung ist wichtig in der aktuellen Phase. Das geht nur gemeinsam und in Zusammenhang mit praktischen Versuchen. Um eine gemeinsame Debatte zu befördern, wollen wir weg von den kostenlosen Beilagen (die wir ehrlich gesagt auch gar nicht auf Dauer finanzieren können) und eigenständige Broschüren! Bücher veröffentlichen, die es nur im Abo gibt. Keine Chance, Leute, Ihr werdet sie in den Buchläden nicht finden! Wer lesen und mitdiskutieren will, muss also abonnieren. Schreibt eine Mail mit dem Betreff "Theorieabo" an

versand@wildcat-www.de

[Beilage im Schattenblick nicht veröffentlicht.]

Raute

Wir alle sind Integrationsverweigerer!

Wenn im Voraus alle vom Heißen Herbst reden, hat es noch nie einen gegeben. Deshalb legen wir gleich das Winterheft vor. Trotzdem ganz schön viel passiert seit dem Sommerheft!

Nachdem die globale Krise Ende 2009 (Dubai) zur Staatsschuldenkrise und Anfang 2010 zur »Eurokrise« geworden war, folgte Anfang Mai die Weichenstellung. Sie konnten Griechenland nicht »fallen lassen« wegen der Konsequenzen für französische und deutsche Banken, für die Euro-Zone insgesamt und für das globale Finanzsystem. Die scheinbare europäische Solidarität der »Rettung« wurde mit drakonischen Sparauflagen verbunden und ideologisch flankiert mit einer krassen Hetze gegen »die faulen Griechen«. In der ersten Phase war die Kritik am Kapitalismus auf »die gierigen Banker« umgeleitet worden, nun wurden diese durch »die Faulenzer« ersetzt. Im gleichen Zug wurde die Krise europaweit in Form beinharter Austeritätsoffensiven in voller Breite gegen die Klasse gewendet.

Was im europäischen Maßstab die »faulen Griechen« sind, im Sarkozy-Frankreich »die Zigeunerin«, war in Deutschland Anfang des Jahres die »dekadente Hartz IV-Empfängerin« und ist seit dem Sommer der »integrationsunwillige Einwanderer«. Das Entscheidende an diesen sozialrassistischen Diskursen: sie machen die Schuldigen der Misere innerhalb der Klasse aus (und rechtfertigen Denunzierungen, Bestrafungen und Disziplinierung). Dafür reichte der »muslimische Barbar/Terrorist« nicht, weil er äußere Bedrohung repräsentiert. Er hält für innere Aufrüstung und koloniale Feldzüge her, aber mit ihm lässt sich nicht die Verschärfung des Arbeitszwangs und das ganze Arsenal neuer Druck- und Kontrollmittel legitimieren. Der »integrationsunwillige Migrant« steht für alle Formen sozialer Verweigerung; Hartz IV und das neue »Ausländergesetz« sind nicht zufällig am selben Tag (1.1.2005) in Kraft getreten. Der rote Faden dieses Staatsrassismus ist die weitere Unterschichtung des Arbeitsmarkts und schärfere soziale Polarisierung.


Sozialstaat und Währungskrieg

Noch im Herbst 2009 hatte der Harvard-Professor Dani Rodrik in einem Beitrag für die Financial Times die Ursache für den großen Unterschied zur Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren - es gebe keinen Rückfall in den Protektionismus - im Sozialstaat gesehen: »Wenn die Welt während der Krise nicht in einen protektionistischen Abgrund gefallen ist wie in den 30er-Jahren, ist dies im Wesentlichen den sozialen Programmen zu verdanken.« Zwar war bereits an der Art der Bankenrettung seit dem Herbst 2008 erkennbar, in welche Richtung die Weichen gestellt waren: Abwälzung der Krisenfolgen auf die ProletInnen, größte Umverteilung von unten nach oben in der Geschichte der Menschheit. Aber nun gut, inzwischen sieht auch der eine oder der andere Harvard-Prof klarer, derselbe Dani Rodrik kommentierte im Frühjahr 2010 die »Griechenlandkrise« wiederum in der Financial Times als »weitere Manifestierung des Phänomens, das ich 'das politische Trilemma der Weltwirtschaft' nenne: wirtschaftliche Globalisierung, politische Demokratie und der Nationalstaat sind nicht miteinander vereinbar. Wir können höchstens zwei gleichzeitig haben. ­... wenn wir Demokratie zusammen mit Globalisierung wollen, müssen wir den Nationalstaat beiseite schieben.« Dieses 'Trilemma' hatte er im Juni 2007 in seinem Blog beschrieben. Es konkretisiert sich im Moment an Merkels Forderung, »Defizitsündern« Stimmrechte zu entziehen, und kulminierte in den letzten Wochen im Gezerre um die »Rettung« Irlands. Den Leuten kann es egal sein, ob die drastischen Sozialkürzungen von ihrer nationalen Regierung oder vom IWF beschlossen werden. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Stärke der kapitalistischen Entwicklung und »Ausgestaltung« der Demokratie. Aber inwieweit die nationale Souveränität dabei eingeschränkt wird, hängt viel mehr mit der Position im internationalen Staatensystem zusammen. Zwei Beispiele:

Die USA überschwemmen die Welt mit billigen Dollars und Staatsanleihen. Damit drücken sie den Dollar, verbilligen also ihre Schulden und erleichtern Exporte - und heizen weltweit Inflation und Preisblasen an, v.a. bei Rohstoffen und Nahrungsmitteln, und am extremsten in den Schwellenländern. Der brasilianische Finanzminister sprach deshalb vom »Währungskrieg«.

Die BRD steigert ihre Exporte im atemberaubenden Tempo - und verschärft damit die Krise in der europäischen Peripherie; die griechische und die irische Regierung sprechen das entgegen aller diplomatischen Gepflogenheiten inzwischen offen aus. Die Reaktion der BRD auf die Krise reißt die Eurozone auseinander. Ihr großer Standortvorteil ist das gewaltige Anwachsen eines Billiglohnbereichs in Kombination mit einer im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch immer konsistenten Industriestruktur. Selbst die Financial Times Deutschland kommentierte das neulich mit »Hartz IV vergiftet Europa« (Münchau, 30.9.2010).


Europa: Die Klasse zwischen Spar- und Gewerkschaftspolitik

Uns war erstmal wichtig, dass Leute aus den europäischen Ländern selber aufschreiben, was ihrer Ansicht nach gegen die herrschende Krisenpolitik läuft. Die Berichte (s.12) ziehen keine »großen Linien«, sondern behandeln die (alltäglichen) Konflikte in der Grauszone zwischen Krisenangriff und linken Strategien. Die Gewerkschaften stecken offensichtlich zu tief in der Politik der Klassenspaltung und sind nicht mehr in der Lage - sei es nur aus Selbsterhaltungstrieb! - umzuschwenken und zum Bremsklotz der massiven Sparpolitik zu werden. Nicht nur in der BRD, auch in Spanien, Griechenland und Großbritannien haben sie ein harmloses Sommertheater aus kontrolliertem Dampfablassen, Appellen an den Sozialstaat und zeitlichem Weitwurf von Protesten aufgeführt. Sie hatten wenig Mühe, damit durchzukommen. Denn noch immer sind die harten Einschnitte nicht wirklich auf der »sozialen Ebene« angekommen. Allerdings kam es in Griechenland im November vermehrt zu Streiks, und der Angriff der Studies auf die Londoner Parteizentrale der Tories war doch ein netter Auftakt! Da wird mehr kommen.

Vor allem in Frankreich scheint das politische Ende der lahmen gewerkschaftlichen (De-)Mobilisierungen erreicht. Dort haben vom 27. Mai bis zum 6. November zehn »Aktionstage« gegen die Rentenreform stattgefunden, acht davon im September und Oktober. Ein weiterer ist für den 23. November geplant. Viel wichtiger als diese gewerkschaftlich organisierten Proteste ist aber die fortwährende Gärung an der »Basis«, überall haben sich branchenübergreifende Aktionskomitees gebildet. In ihren Reden und Flugblättern artikulieren sie eine fundamentale Kritik an der Lohnarbeit. Und das Spannende ist, dass keine institutionelle Kraft diese Substanz der Protestbewegung vertritt.


dèjá vu

In den 70er Jahren war es immer ein bisschen schwierig, unseren GenossInnen in Europa die Situation in der BRD zu erklären. Bei ihnen tobten revolutionäre Bewegungen und Arbeiterkämpfe - bei uns gab es ­... Bürgerinitiativen. Schon das Wort erregte Anstoß. So auch neulich wieder bei einem Treffen mit französischen FreundInnen: »Bei uns läuft seit Monaten eine breite Bewegung gegen die Rentenreform, die SchülerInnen sind auf den Straßen, es gibt landesweite Koordinationen... - und bei Euch protestieren sie gegen einen Bahnhofsneubau? Geht's noch??«

Nun wissen wir spätestens seit dem Problem des Postkutschenstaus im Vorfeld der Französischen Revolution, dass Verkehrs- und Gesellschaftsordnung eng zusammenhängen, und dass eine Gesellschaft, die ihre Mobilitätsprobleme nicht mehr lösen kann, dem Ende entgegengeht (wir haben uns damit z.B. in der Wildcat 72 auseinandergesetzt). Trotzdem haben wir ehrlich gesagt große Probleme damit, den Faden von S21 zum Kommunismus zu spannen - und auch hier wieder ein deja vu: Toni Negri war in den 70er Jahren der einzige in Italien, der die Bürgerinitiativen in der BRD als proletarische Organisationsform der Zukunft sah und seine GenossInnen aufforderte, diese gefälligst zu studieren und draus zu lernen! Negri hat vor kurzem ein Buch rausgebracht, in dem er das auch wieder zur Bewegung gegen S21 ausführt (siehe die Besprechung S. 39). Wir sind weniger schnell als der Heilige Antonio aus Padua und machen im nächsten Heft einen Schwerpunkt dazu, ob und was in diesen Protesten Neues passiert - einleitende Fragestellungen und den Aufruf an Euch alle, sich daran zu beteiligen, findet Ihr ab Seite 31.


Ende der Demokratie oder neue Bewegungen?

Im Sommer 2009 wurde in Hamburg das Gängeviertel besetzt; es war die erste erfolgreiche Hausbesetzung der letzten Jahre. Gruppen und Initiativen in vielen anderen Städten beziehen sich darauf (»Recht auf Stadt«). Ein Buch, das wir auf Seite 48 besprechen, macht weitere, sehr aktuelle Bezüge deutlich: Hamburg wird von einem schwarz-grünen Senat regiert, und die GAL - einst der Linksaußen-Flügel der Grünen Partei - an der Macht positioniert sich massiv gegen soziale Bewegungen. Auf ihrem Freiburger Parteitag konnten die Grünen letzte Woche die Frage nicht klären, wie sie auf ihr - vor allem durch die Bewegung gegen Stuttgart21 - neu gewachsenes außerparlamentarisches Standbein treten sollen. Einerseits sind sie in Wahlumfragen massiv nach oben geschossen, andererseits sind die Umfragewerte im Zug der Gorlebenproteste abgerutscht. »Alerte Grüne haben das Dilemma begriffen. Boris Palmer etwa, der Tübinger Oberbürgermeister, der bei den Stuttgarter Schlichtungsgesprächen die Projektgegner mit teilweise brillanten Voten gut aussehen lässt, hält nichts von einem Kniefall vor der neuen Protestkultur. Wenn Parlamente ihre Arbeit nicht mehr machen könnten, drohe Weimar. Dann sei die Demokratie am Ende.« (NZZ) Die Neue Zürcher Zeitung bezog sich damit auf einen Vorfall am 8. November, als das Bündnis »Wir zahlen nicht für eure Krise« mit einer Sitzblockade vor dem Ratssaal die anstehenden Sparbeschlüsse (2011 sollen 6,5 Millionen Euro eingespart werden) des Tübinger Stadtparlaments um eine Stunde verzögerte. Als OB Palmer Fahnenstangen entfernen wollte, mit denen die Tür verriegelt war, gab es eine kleine Rangelei. Danach erklärte er: »Wer Parlamente an ihrer Arbeit hindert, ist kein aufrechter Demokrat. Wenn Parlamente nicht tagen können, ist die Demokratie am Ende. Dann droht Weimar.« Die widerliche Art der Grünen, ihre Schweinepolitik als antifaschistischen Kampf auszugeben, kennen wir, seit Joschka Fischer antifaschistische Nato-Bomber gegen Jugoslawien losschickte. Aber vom Antidemokratie-Vorwurf sollten wir uns nicht abhalten lassen! Globalisierung, Demokratie und Nationalstaat sind deshalb nicht miteinander vereinbar, weil die kapitalistische Dynamik ans Ende gekommen ist. Die Finanzkrise hat die Lüge ein für allemal blamiert, die Globalisierung würde den Wohlstand aller steigern. Die Grünen haben, wie alle anderen Parteien, nur noch Sozialkürzungen und atomare Endlagerstätten übers Land zu verteilen.

Bei unseren Feinden ist das »Zeitalter des Pessimismus« und Endzeitstimmung angebrochen. Aber Liberalismus braucht den optimistischen Glauben in die kapitalistische Entwicklung. Und Parteiendemokratie braucht beides als Grundlage, Fortschritt(sglauben) und liberale Überzeugungen.

Bitte umblättern!

Stuttgart, 21. November 2010

Raute

Liberalismus am Ende...

Im Gefolge der Französischen Revolution entstanden drei Weltanschauungen, welche die nächsten zwei Jahrhunderte geprägt haben: der Konservativismus, der Liberalismus und der Sozialismus. Der Konservativismus, eine europaweite Gegenrevolution, wollte in Reaktion auf die Französische Revolution eine Restauration. Dagegen entstand der Liberalismus, der für Fortschritt, Entwicklung und Modernität eintrat. Später spalteten sich daraus die Sozialisten ab, sie wollten die Geschichte beschleunigen, Revolution. In dieser ersten Phase waren alle drei Ideologien gegen den Staat: den Liberalen und Sozialisten war er zu repressiv, den Konservativen war er zu sehr gegen ihre gesellschaftlichen Grundpfeiler Familie und Kirche vorgegangen.

Nach der gescheiterten Revolution 1848 änderten alle drei Strömungen ihr Verhältnis zum Staat: nun erwartete man sich von ihm auf konservativer Seite Rettung vor den "gefährlichen Klassen", auf seiten der Staatssozialisten Reformen, die schließlich zum Sozialismus führen sollten (Bernstein, SPD...). Und die Liberalen sahen nun im Staat den Garanten für Ordnung und Fortschritt im Kapitalismus. Der Liberalismus war zur kapitalistischen Hauptideologie geworden, die den kapitalistischen Fortschritt und die institutionell abgesicherte Verteilung seiner Früchte propagierte.

Dieser allgemeine Bezug auf den Staat wurde 1968 ff. von links aufgesprengt. Eine weltweite egalitäre Bewegung von unten stellte neben der bürgerlichen Familie auch den "Beruf" und somit die kapitalistische Arbeitsteilung infrage, die Grundlagen des Staates. 1968 war eine Kampfansage an den Liberalismus ("liberal" war eines der schlimmsten Schimpfwörter der damaligen politischen Bewegung) und Kritik am kapitalistischen Fortschritt(sglauben).

Es hat eine gewisse Logik, dass die Gegenbewegung auf diese weltweite revolutionäre Drohung als "Neoliberalismus" firmiert. Das war aber insofern eine Fehlbezeichnung, als zwar "weniger Staat" gefordert, dieser aber gebraucht wurde, um Sozialleistungen und Löhne zu senken und die in die Krise geratenen Profite des Kapitals zu steigern. Real ist die kapitalistische Verwertung heute stärker an den Staat gekoppelt als vor 40 Jahren (Subventionen, historisch hohe Staatsverschuldung... ). Der Staat treibt Leute in Billiglöhne, illegalisiert ArbeitsmigrantInnen für Drecksjobs, treibt immer mehr Steuern von den Armen ein (Tabak- und Mehrwertsteuer), und war selbst Vorreiter bei Prekarisierung, Aufweichung des Arbeitsrechts, Beschäftigung von Subunternehmern usw. usw.

Am Ende dieses Prozesses sind die Grundlagen dessen weggegraben, was zwischen 1789 und 1848 entstanden war: die Einbeziehung der Arbeiterklasse in den Nationalstaat und das "Ver- und Zertreten" (Marx) der unterschiedlichen Interessen in der parlamentarischen Demokratie.


Ende des Nationalstaats

Die Parteiendemokratie der Nachkriegszeit organisierte das politische Engagement als sozialen Aufstieg. Die rot-grüne Regierung dürfte die letzte gewesen sein, für die das gilt: Bundeskanzler Kind einer alleinerziehenden Mutter aus ärmlichen Verhältnissen, Außenminister Metzgersohn und Taxifahrer.

Die Wende begann mit Reagan. Dessen Berater hatten verstanden, dass in einer langgezogenen Krisenphase, wo keine Partei genügend WählerInnen mit glaubhaften Versprechen an sich binden kann, diejenige gewinnt, die ins Reservoir der WechselwählerInnen einbricht. Dieser Dreh, die Erosion der Parteiendemokratie in Wahlerfolge umzumünzen, wurde bald auch in Europa angewandt. Möglichkeiten und Grenzen dieser Machtpolitik lassen sich etwa an Seehofers "kaltem Rassismus" oder an Sarkozy beobachten. Dessen Zustimmungswerte in der Bevölkerung sind ähnlich denen der Bundesregierung bei 30 Prozent (der WählerInnen!). Damit hat er eine realistische Chance, die Wahlen 2012 zu gewinnen, wenn er als Stärkster aus dem ersten Wahlgang hervorgeht. Dazu muss er dem Front National die rechtsradikalen Wechselwähler wegschnappen. Deswegen schiebt er Roma ab, schickt Bullen in die Vorstädte, zwingt die Gewerkschaften auf Konfrontationskurs. Wahltaktisch alles gut ausgedacht. Aber als Sarkozy 2008 tönte: "Wenn heute jemand in Frankreich streikt, merkt das niemand mehr", hat er sich kolossal getäuscht - dazu trug nicht zuletzt bei, dass gleichzeitig zu Rentenreform und massenhaften Entlassungen im Öffentlichen Dienst bekannt wurde, dass Liliane Bettencourt seinen Wahlkampf finanziert hatte und dafür mit 30 Millionen Euro Steuernachlass belohnt wurde.


"Krise der Politik"

Aufstieg und Fall der FDP sind diesbezüglich exemplarisch. Ideologisch versteht sie sich als Hort des Liberalismus, Hüterin der persönlichen Freiheitsrechte, Bastion gegen übermäßige Staatsmacht usw. In Wirklichkeit vertritt sie seit der Krise Anfang der 80er Jahre ("Lambsdorff-Papier") marktradikale Klientelpolitik.

In der luxuriösen Hamburger Hafencity wählten bei der letzten Bundestagswahl 27,5 Prozent FDP. Sie verstehen sich als "Leistungselite", als die "Starken", die keinen Bock mehr haben, "die Schwachen mitzuschleppen" (passend dazu lancierte der Sesselfurzer Sloterdijk seine Vorschläge zur Abschaffung des Sozialstaats). Aber natürlich sind die Luxuswohnungen und die Luxusinfrastruktur in der Hafencity die am stärksten staatlich subventionierten in der ganzen BRD. Um diese Subventionen aufzubringen, hat der Hamburger Senat in den anderen Stadtteilen an Schulen und offener Jugendarbeit gespart, Nahverkehrs- und Wasserpreise erhöht, und quer durch alle sozialen Leistungen gekürzt (Frauenhäuser, Blindengeld, Kinderkuren, Schwimmbäder...). Die hohen Gewinne der FDP bei der letzten Bundestagswahl erklären sich nicht nur mit der völlig unterbelichteten Debatte in der BRD zum "indirekten Lohn" (viele dürften die Parole "Mehr Netto vom Brutto" komplett falsch verstanden haben!), sondern vor allem damit, dass viele andere soziale Gruppen bei diesen "Gewinnern" sein wollten (jeder zehnte Arbeitslose hat FDP gewählt), und mit dem Verschwinden alter Milieus, aus denen bisher SPD und CDU schöpfen konnten. Der Absturz der FDP seither erklärt sich mit der Einsicht, dass sie die Klientelinteressen gar nicht ausreichend durchsetzen kann (und dass diese ziemlich hässlich sind: Mehrwertsteuerabsenkung für Hoteliers gegen Parteispende, u.a.).

Aufstieg und Absturz der FDP sind zwei Seiten derselben Medaille, dass nämlich der Liberalismus insgesamt geistig-politisch und moralisch tot ist. Die von einem staatlich (de-)regulierten globalen Finanzmarkt ausgelöste und verschärfte globale Krise war dafür nur die Sterbeurkunde. Übrigens zeigen die Niederlande, die Schweiz und Österreich - letztlich auch Jürgen Möllemann -, dass aus dem Kadaver liberaler Parteien und Milieus am ehesten rechtsradikale Entwicklungen drohen.


Rot-grün...

Die rot-grüne Regierung hat den schärfsten Bruch in den Klassenverhältnissen der BRD in den letzten 50 Jahren durchgesetzt: Bundeswehr im Angriffskrieg, Deregulierung der Finanzbranche und durch die Hartz-Gesetze den in Europa am schnellsten wachsenden Niedriglohnsektor. Damit brach sie die jahrelange Stagnation der BRD-Ökonomie auf, die entstanden war, als die Bundesbank 1992 durch eine brüske Zinserhöhung Lohnzuwächse und Konjunktur abgewürgt hatte. Die hohen Zinsen haben die D-Mark aufgewertet und der deutschen Exportwirtschaft geschadet; für den Rest der 90er Jahre hatte die BRD ein Leistungsbilanzdefizit; erst die Einführung des Euro gab den deutschen Exporten wieder ausreichend Schub.

Die die rot-grüne Regierung markiert das Ende der Parteiendemokratie und des Sozialstaatsversprechens. Das Schröder-Fischer-Regime hat die Demontage des Nationalstaats als eines Raums gleicher Lebensbedingungen und mit dem Recht auf Zugang zur Infrastruktur (Mobilität, Teilhabe an Kultur, Bildung usw.) begonnen. Es hat die Deregulierung des Finanzmarkts durchgesetzt, Hedge Fonds, Public Private Partnership-Projekte, Gross Border Leasing-Geschäfte mit öffentlicher Infrastruktur und die Privatisierung derselben massivst gefördert. Damit haben sie Lobbyismus und Klientelwirtschaft, die vorher Schmiermittel im BRD-System waren (Parteispendenaffäre), zur alleinigen Verfahrensweise gemacht.

Auch in anderen Ländern (Italien, Großbritannien, Griechenland...) mussten die ArbeiterInnen übrigens die Erfahrung machen: wenn die Sozialdemokratie an die Regierung kam, wurde es richtig schlimm. Mein die davon enttäuschten WählerInnen aus dem Arbeitermilieu erklären die Hälfte der seither ständig sinkenden Wahlbeteiligung, die andere Hälfte erklärt sich aus dem Ende der christdemokratischen Volksparteien mit Stammwählerbindung.

Die Flucht der Koch, Köhler, Rüttgers, Beust usw., die als Minorität in ihrer Generation gegen '68 angetreten waren, markieren das historische Scheitern bürgerlicher Politik. Nun tritt eine Generation an, die sich mit "Rambokurs" (Mappus) und "Arroganz der Macht" (von der Leyen, Guttenberg, Rösler...) durchaus auch andere Regierungsformen als die parlamentarische Demokratie vorstellen kann (Abschaffung der Wehrpflicht, Einsatz der Bundeswehr im Inneren). Beflissen sonderte Professor Münkler in der Mai/Juni-Ausgabe des Magazins Internationale Politik (herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik!) den Artikel "Lahme Dame Demokratie" ab. In der Geschichte hätten "Kriege zur Revitalisierung der politischen Ordnung" geführt, das habe aber "keine Überzeugungskraft mehr". Eine andere Möglichkeit, die "Tyrannei der Mehrheit" zu brechen, sei die "Ankündigung drohenden Unheils", das ginge heutzutage auch ohne "biblische Propheten" und "durch den Hinweis auf die Natur".

Auch aus diesem Grund wären Schwarz-Grün-Koalitionen die "logische" Fortsetzung, die in der gegenwärtigen Konstellation vom Kapital gewünschte Regierung. Hat der starke Widerstand in Stuttgart und im Wendland es der Grünen Partei unmöglich gemacht, diese strategische Option zu ziehen? Oder schafft sie es im Gegenteil, diese Mobilisierungen in Wahlerfolge umzumünzen? Die Grünen sind vor drei Jahrzehnten als "basisdemokratische Initiative" angetreten und haben sich in kürzester Zeit zur staatstragenden Kraft entwickelt, die Nato-Bomber losschickt und Castoren rollen lässt, immer zwischen Untergangsszenarien (zuviel Konsum!) und dem Glauben an den (kapitalistischen) technischen Fortschritt (Atomenergie ist nicht nötig, weil es technische Alternativen gibt) und mit kräftigen Tritten nach unten. Sie repräsentieren inzwischen das bürgerliche Milieu der früheren FDP, und sie haben jetzt schon drastische soziale Einschnitte verkündet für den Fall, dass sie wieder an die Regierung kommen - trotzdem können sich PolitikerInnen dieser Partei als VertreterInnen der Bewegungen in Stuttgart und im Wendland aufspielen, ohne angespuckt zu werden!


Krise der Vermittlung

Die dort oben haben keine "Gestaltungsspielräume" mehr, die hier unten kein Vertrauen mehr.

Immer neue Formen prekärer Beschäftigung, Ausweitung des Niedriglohnsektors, Verlagerung ins Ausland und Dezentralisierung an Subunternehmer sorgten für eine zunehmende Unsicherheit von Beschäftigungs- und Lebensverhältnissen auch schon vor dem Ausbruch der globalen Krise. Die ArbeiterInnen wurden so nachhaltig eingeschüchtert, dass es zu keinem gemeinsamen Widerstand kam. Proteste wurden durch immer schnellere Eskalation der Zumutungen und individuelles Rauskaufen isoliert. Ein wichtiges Etappenziel war erreicht, als es durch den erzeugten Abstiegsdruck zur Mehrheitsmeinung wurde, es sei besser überhaupt eine Arbeit zu haben - womit die Kritik an Löhnen, Bedingungen, an der Arbeit(squal) überhaupt sozusagen "privatisiert" war.

Durch Mechanismen wie Prekarisierung und Zerlegung der Betriebe nach Kostengesichtspunkten funktionieren im Arbeitsleben auch die bisherigen Repräsentationsstrukturen nicht mehr (siehe auch Buchbesprechung zu Organizing). Früher konnten gewerkschaftliche Vertretungen in großen Firmen für ganze Gruppen von Arbeitern was rausholen. Wenn aber der Abteilungsleiter nun Chef irgendeines Subunternehmens ist, bleibt nur noch individuelle Bestechung übrig (die Korruptionsskandale nehmen auch in den Firmen enorm zu).


Krise der Politik im Alltag und soziales Engagement

Dazu kommt eine "gesellschaftliche Krise der politischen Vermittlung". Im Alltag fühlen sich die Leute überall wie in der Warteschlange beim kostenpflichtigen Anruf im Call Center. Es funktioniert nicht mehr, Konflikte durch informelle Kanäle von Parteien oder Vereinen "kollektiv" zu entschärfen. Mittlerweile ist selbst die öffentliche Verwaltung größtenteil privatisiert, die einzelnen Abteilungen der Behörden sind rechtlich Privatfirmen im staatlichen Besitz, da funktionieren "kurze Dienstwege" nicht mehr.

Lange Zeit wurde die Abwendung von der Parteiendemokratie als "Politikverdrossenheit" missverstanden; das immer weiter zunehmende soziale Engagement als kostenlose Sozialarbeit ausgenutzt (z.B. die "Tafeln"!). Jetzt stehen die Politiker fassungslos davor, wie gerade solche Strukturen zu organisierenden Kernen in massenhaften Widerstandsbewegungen werden und faseln wie Sigmar Gabriel was davon, die alten "Legitimationen durch Verfahren" (Luhmann), die der BRD soviel Stabilität gebracht hatten, griffen nicht mehr, "deshalb müssten sie durch mehr plebiszitäre Elemente ergänzt werden." Lassen sich die Mobilisierungen mit "Runden Tischen" wieder einfangen?


Die Linken sind die letzten, die noch an den Staat glauben

Da sich die Linke nicht mehr auf die Arbeiterklasse bezieht, hat sie kein universelles Projekt mehr (siehe Der historische Moment... von Loren Goldner in der Beilage!) und setzt deshalb auf den Staat als Vertreter "universeller Interessen". Das Bündnis "Wir zahlen nicht für eure Krise" fordert den starken Staat; auch Karl Heinz Roth und viele andere hatten bei Ausbruch der Krise vor allem auf staatliche Reformen gesetzt.

Auch die Linkspartei ist lediglich eine Klientelpartei. Insgesamt kann sie wenig bewirken, aber sie kann eine ganze Generation von Akademikern über Stiftung, Partei- und Fraktionsangestellte individuell mit Geld versorgen, darunter ein Großteil der ehemaligen radikalen Linken. Sie funktioniert nicht als politischer "Grenzträger der Macht" (Sohn-Rethel), sondern über individuelle Bestechung.

Die Linke insgesamt vertritt kein universelles, offensives Projekt mehr - aber die Krisenfolgen können ohne ihre Hilfe nicht auf die Arbeiterklasse abgewälzt werden (siehe auch den Europateil!). Ihre Warnungen vor Militärputsch, Faschismus, Diktatur usw. sind integraler Bestandteil ihrer Anstrengungen, den Kapitalismus zu retten: Wir müssen die bittere Medizin der Sparpolitik schlucken, sonst naht das "Ende der Demokratie"!

Diese Linke kann den Nationalstaat nicht überleben, sie löst sich schon vor seinem Ende auf. Das lässt sich zur Zeit gerade an Italien studieren. Über ein Jahrhundert lang hielten Sozialdemokraten und Leninisten die Weichen auf Staat und Parlament gestellt. Es ist allerhöchste Zeit, sie definitiv umzustellen!

Im Gefolge der Klassenkämpfe Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre waren in der BRD (wie in anderen Ländern) die Sozialdemokraten an die Regierung gekommen. Ihre Strategie, die qualifizierten Kerne der Protestbewegung an sich zu binden ("Modell Deutschland") auf Kosten der unteren Schichten ("Zuzugsstopp") haben sie seither mit jedem Kriseneinbruch verschärft: Sicherung der Stammbelegschaften auf Kosten der Ränder, der Beschäftigten auf Kosten der Arbeitslosen, der Alteingesessenen auf Kosten der Migranten usw. (das war im Großen und Ganzen auch die Politik der CDU). Diese Strategie ist aber mit knapp einer Million LeiharbeiterInnen, mehr als zweieinhalb Millionen befristeten Jobs und real mehr als fünf Millionen Arbeitslosen an die Wand gefahren. Als im Berliner Schaltwerk von Siemens beim Kriseneinbruch 2008 wie gewohnt die LeiharbeiterInnen entlassen werden sollten, musste man davon Abstand nehmen, als klar wurde, dass ohne sie das Werk nicht mehr betrieben werden kann.

Aber nicht nur aus quantitativen Gründen haut die sozialdemokratische Trennung der Arbeiterbewegung in eine ökonomische (Gewerkschaften) und eine politische (Partei) Abteilung nicht mehr hin. "Prekarisierung" bedeutet viel mehr als den beständigen Wechsel zwischen befristetem Job und Arbeitslosigkeit, sie ist ein Prozess der Verunsicherung der gesamten Lebenssituation, der in vielen Fällen ("Arbeit auf Abruf") ein Kontinuum von Arbeit/Freizeit schafft. "Der Kampf für die unmittelbaren materiellen Interessen der Lohnabhängigen" muss wieder mit "den Vorstellungen einer Umgestaltung der Gesellschaft im Interesse der Mehrheit" verknüpft werden. (Werner Seppmann, "Unter der Oberfläche brodelt es"; telepolis 2.11.2010)

Wir erleben das historische Ende der Sozialdemokratie, einer Variante des Liberalismus; und es waren "linke" Regierungen, die es herbeiführten, indem sie den Zusammenhang zwischen Arbeiterklasse und Sozialstaat aufgebrochen haben.


Die globale Perspektive

"In Stuttgart hat eine Erosion des Politischen stattgefunden: Auf Seiten der Parkschützer finden sich viele, die mit der Veränderung des staatlichen Handelns in Richtung Lobbyismus, die diese Republik seit der Regierung Schröder-Fischer durchgemacht hat, nicht mehr klarkommen und sich dem politischen Betrieb entfremdet haben." ("S21 und die Immobilienlobby", telepolis 25.10.2010)

Die Kämpfe gegen S21, Castor, Winterolympiade in Garmisch-Partenkirchen und die Belt-Brücke nach Dänemark werden von "Citoyens" getragen, "StaatsbürgerInnen", die ihre Beteiligung einfordern und nicht mehr an den "Politbetrieb" delegieren. Und sie finden statt in einer sehr bewegten Zeit. Im letzten Jahrzehnt gab es mehr Unruhen als in den 60er Jahren. 2009 wurden weltweit 524 Aufstände gezählt, ein knappes Drittel davon in Europa. In Athen gingen Schüler- und StudentInnen auf die Straße, in Kopenhagen die "Antiglob-Bewegung", in der südchinesischen Provinz Guangdong die WanderarbeiterInnen der Automultis. Die Kämpfe in China waren erst der Anfang eines neuen Kampfzyklus - einer globalen Arbeiterklasse, die sich im letzten Jahrzehnt in etwa verdoppelt hat.


Endzeitstimmung und Aufbrüche

Globale Krise, "Krise der Politik", Kämpfe und Mobilisierungen allenthalben. Dabei ist das Vertrauen in den geregelten Gang der Geschäfte eine materielle Voraussetzung des Kapitalismus. Dahinter steht wie bei jedem Herrschaftsverhältnis letztlich das Vertrauen in den Gehorsam der Beherrschten. Dieses Vertrauen wird vermittelt durch die herrschende Weltanschauung. Solange die herrschenden Ideen die der herrschenden Klasse sind, setzt sie ihre Interessen standhaft und rücksichtslos durch - wenn diese Weltanschauung zerfällt, werden ihre Vertreter zögerlich und verlieren die nötige Souveränität, systemische Angst greift um sich. In der Geschichte war das oft ihr letztes Stündlein. Belsazar, der letzte Herrscher von Babylon, sah das Menetekel an der Wand; das Ancien Régime wusste um seine Überholtheit; in den Jahren vor ihrem Kollaps stagnierte die Sowjetunion... immer hatten die Herrschenden in diesen Phasen ihr Vertrauen in den Gehorsam der Beherrschten verloren. Heute herrscht allgemein eine Endzeit-Stimmung.

"Die Politik nach der Finanzkrise ... hat einen Zustand des planlosen Zorns erreicht. ... Nach der Phase des Schocks und der Phase der hyperaktiven Rettungsaktionen setztjetzt die Phase der Wut ein. Die Wut kommt..., wenn man sich seiner Machtlosigkeit bewusst wird. Genau das passiert den Herren Barroso und Nicolas Sarkozy und einer ganzen Reihe anderen Akteuren der Brüsseler Machtzentralen. Sie alle waren in dieser Krise überfordert. Der Machterhalt ist jetzt ohne einen gemeinsamen Feind kaum noch möglich." (Wolfgang Münchau, 23.9.2010, Financial Times Deutschland)

Spannend wird es dann, wenn der "gemeinsame Feind" sich nicht mit den eingeübten shock & awe-Eskalationsstrategien der letzten Jahre einschüchtern lässt, sondern daran sogar noch wächst, wie die Streiks gegen die Rentenreform in Frankreich oder die Bewegung gegen Stuttgart21. Die Bewegung in Frankreich organisierte sich sehr stark über Demos, Blockaden und Besetzungen - weniger durch Streiks an den Arbeitsplätzen. Ein langer Streik ist für viele aufgrund gesunkener Löhne nur schwer durchzuhalten, für prekär Beschäftigte meist noch schwerer. Die gewählten Kampfformen machten es möglich, dass sich organisierte Arbeiterkerne (Ölraffinerien, Müllabfuhr), der Öffentliche Dienst und SchülerInnen beteiligten. Vor allem deren Mobilisierungen sind sehr interessant und noch nicht zuende. In diesem Sinne gibt die Bewegung in Frankreich Antworten auf die im Hackney-Artikel gestellten Fragen (siehe Europateil).

All diese Bewegungen drücken den Zweifel am kapitalistischen Fortschritt und das Wissen aus, dass alle Mechanismen im herrschenden Gefüge (repräsentative Demokratie, der sogenannte Arbeitsmarkt, die Sozialstruktur, Zusammenhang von Profiten und Investitionen...) instabil geworden und vor allem untauglich für die Zukunft sind. Wo uns die Regierung "radikale Maßnahmen" vorgaukelt, stopft sie nur Löcher, um Zeit zu gewinnen. Es brennt an allen Ecken und Enden - in Deutschland, und noch viel stärker in anderen europäischen Ländern. Die Verhältnisse können nicht so bleiben, wie sie waren. Massenhafte Bewegungen haben begonnen, sie zu ändern. Aber alles bisher Unternommene ist Kleinkram im Vergleich zu dem, was ansteht. "Revolutionäre Veränderungen" dürften es schon sein - sogar Merkel benutzte das Wort, um ihre beschissene Energiepolitik anzukündigen! Vielleicht ließe es sich so zusammenfassen: in Wirklichkeit ist die Lage revolutionär - aber niemand traut sich einen Umsturz, eine Revolution anzuzetteln. Denn auch dieser Begriff muss neu erfunden werden: die stalinistischen "Revolutionen" waren monströse Konterrevolutionen, die Französische Revolution kann uns nicht als Vorbild dienen. Es geht um eine soziale Revolution! Reformen jedenfalls haben ausgedient.

... Kapitalismus am Ende!


"... Und sieh! und sieh! an weißer Wand,
da kam's hervor wie Menschenhand.
Und schrieb und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.
Belsazar ward aber in selbiger Nacht
von seinen Knechten umgebracht."

Heinrich Heine


Randnotiz

Der SPDler Peter Glotz formulierte 2005 kurz vor seinem Tod eine Warnung, die mit der globalen Krise deutlich aktueller geworden ist: "Die deutsche Disziplin und Ruhe könnte trügerisch sein. Eine neue RAF ist nicht in Sicht. Aber wenn irgendwo 200 empörte Arbeiter, die entlassen werden sollen, obwohl der Konzern schwarze Zahlen schreibt, alles kurz und klein schlagen, kann ein einziger Gewaltausbruch dieser Art einen Flächenbrand auslösen, wie einst der Mordversuch an Rudi Dutschke zu Ostern 1968."


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung:

Nackte Angst: Merkel und Sarkozy auf dem EU-Gipfel

Raute

EUROPA:

Das Ende der Krise abwarten oder gegen die Krisenpolitik kämpfen?

England Spanien Frankreich Griechenland


*


krise kriegen in hackney

Kampagnen, Community Politics und Mechanical Brooms

Das "historische" Sparpaket der britischen Regierung vom 20. Oktober sieht Kürzungen von 83 Milliarden Pfund in den nächsten vier Jahren vor, davon 18 Milliarden bei den Sozialausgaben. Der Etat einzelner Ministerien wird um 20 bis 30 Prozent gekürzt. Konkret heißt das unter anderem:

- im Öffentlichen Dienst werden 500.000 Stellen gestrichen; weitere 500.000 Stellen fallen infolge von Einsparungen, z.B. im Militärbereich, weg;

- das Rentenalter wird bis 2020 von 65 auf 66 Jahre erhöht;

- die spezielle Sozialhilfe für Kranke und Behinderte wird auf ein Jahr begrenzt, Mobilitätshilfe eingespart;

- das Wohngeld wird beschränkt; bei Neubezug einer Sozialwohnung wird die Miete von jetzt 30 auf maximal 80 Prozent des Mietspiegels erhöht; für Alleinstehende besteht erst ab dem 35. Lebensjahr Anrecht auf familienunabhängiges Wohngeld;

- Studiengebühren werden nicht mehr nach oben begrenzt und 40.000 Lehrerstellen stehen auf dem Spiel.

Das Sparpaket trifft die Armen am härtesten. Der Bürgermeister von London sprach angesichts der Tatsache, dass die Wohngeldreform 200.000 Menschen aus der Londoner Innenstadt vertreiben dürfte, von "sozialen Säuberungen im Kosovo-Stil". Die Anhebung der Sozialmieten auf 80 Prozent des Mietspiegels bedeutet, dass eine Familie in London rund 54.000 Pfund im Jahr verdienen müsste, um unabhängig vom Wohngeld zu werden. Viele Freiwilligen- und Sozialverbände schreien auf, dass der Staat nicht fähig sein wird, das durch die Kürzungen entstehende Elend sozial zu verwalten.

Bisher gab es nur bescheidenen Widerstand gegen das Sparpaket. Am Tag der Verkündung zog eine Demo mit 3000 GewerkschafterInnen, SWP-AnhängerInnen und Studierenden durch London, am Samstag darauf waren 1500 Menschen auf einer Gewerkschaftsdemo. In Hackney kamen Ende Oktober nur etwa 80 Linke zu einer Protestkundgebung vor dem Rathaus zusammen, zu der wochenlang mit vielen tausend Flugblättern vor Bahnhöfen, auf den Hauptstraßen und in Sozialwohnungsblocks mobilisiert worden war.

Eine erste Erklärung für den geringen Protest ist die geschickte Verpackung des Sparpakets: der Kürzungsauftrag wird in erster Linie an die Gemeinden weitergegeben, denen gleichzeitig mehr Autonomie bei der Umsetzung und Gestaltung ihres Haushalts zugestanden wird. So lud die Gemeindeverwaltung von Southwark (Südlondon) die BewohnerInnen zur 'demokratischen Mit-Bestimmung des Umbaus' ein, mit neuen Modellen von co-operative council oder Freiwilligenarbeit für die "innovative Herausforderung". Ähnliche 'Autonomie' wird den Universitäten zugestanden: sie können höhere Gebühren verlangen, müssen aber nicht. Die meisten konkreten Kürzungen kommen also erst noch, und sie betreffen jeweils einzelne Gruppen oder Gegenden. Zweitens spielen die Gewerkschaften bei der lokalen Umsetzung meist verhandelnd mit: Eine Londoner Englischlehrerin für MigrantInnen berichtet, dass in ihrer Schule 16 von 200 Stellen gestrichen werden sollen. Der lokale Gewerkschaftsfunktionär blockte alle Forderungen nach Streik-Urabstimmung ab. Stattdessen müssen sich nun alle 200 Lehrkräfte einem Test und einer Begutachtung ihres Unterrichts unterziehen - mit den Ergebnissen sollen dann auf 'objektiver Grundlage' Kündigungen ausgesprochen werden.

Am wichtigsten bei der Frage, warum es bisher keine größeren Proteste gab, ist die Zerklüftung der Arbeiterklasse. Der Angriff trifft einen durch Auslagerungen und Prekarisierung unterschichteten und hierarchisierten Öffentlichen Dienst. Das wurde bereits in den Monaten zuvor deutlich, wo viele Abwehrkämpfe gegen direkte Angriffe auf dort festangestellte ArbeiterInnen selbst auf ihrem unmittelbaren Terrain ins Leere liefen.


Hackney

Im Folgenden beleuchte ich die Krisenangriffe und das Verhalten der Proleten im Stadtteil Hackney im Norden von London. Hackney grenzt im Süden an das Banken- und Börsenviertel, im Norden an die Großbaustelle für Olympia 2012. Es ist arm, nach Pro-Kopf-Einkommen offiziell die zweitärmste Kommune Englands, ein Großteil seiner rund 220.000 BewohnerInnen beziehen Sozialleistungen, die Arbeitslosigkeit liegt über dem Landesdurchschnitt - das englische Neukölln. Der Staat versuchte, die Kosten ihr sozialen Wohnungsbau, Jobprogramme und andere Formen der Verbrechensbekämpfung zu finanzieren, indem er die zentrale Lage Hackneys und steigende Immobilienpreise "vermarktet". Die Krise machte einen Strich durch diesen Versuch, urbane Armutsverwaltung und Gentrifizierung zu kombinieren.

Der 'öffentliche Sektor' ist mit Abstand der größte Arbeitgeber in Hackney. Ich habe ein paar Monate bei der städtischen Straßenreinigung und Müllabfuhr als Tagelöhner gearbeitet, in einem Depot mit rund 300 Leuten.

Die Kommune hatte im Jahr 2000 diese Abteilung privatisiert und an das multi-nationale Unternehmen Serviceteam verkauft. Die ArbeiterInnen reagierten mit unkooperativem Verhalten. Nach rund 11 Monaten gab Serviceteam auf, und die Straßenreinigung wurde re-kommunalisiert. Gewerkschafter, die sich in dieser Phase und bei einem kurzen Streik im Jahr 2002 hervorgetan hatten, wurden zu Managern befördert. Zugleich schaffte das kommunale Management die 'Bierkasse' ab, ein von der Gewerkschaft verwaltetes illegales Trinkgeld, das Geschäftsleute für die Abholung von nicht-deklariertem Müll direkt an die ArbeiterInnen gezahlt hatten.

Auch nach der Re-Kommunalisierung ging eine andere Form von "Privatisierung" weiter: Inzwischen sind rund 40 Prozent der Beschäftigten Leiharbeiter, sie bekommen den staatlichen Mindestlohn von 5 Pfund 80, rund halb so viel wie die Festangestellten. Sie werden auf Tagesbasis beschäftigt, d.h. ein Großteil erscheint morgens gegen 5:30 Uhr auf dem Depotgelände und wartet bis 7:30 Uhr, ob eine reguläre Arbeitskraft ausfällt. Im Durchschnitt wird etwa ein Dutzend von ihnen unbezahlt wieder nach Hause geschickt. Bei der Konkurrenz um Jobs kann das Wort eines festeingestellten Fahrers entscheiden, welcher Arbeiter nach Hause geschickt wird, und wer arbeiten darf.

Bei einer Fünftage-Woche kommt man mit 5 Pfund 80 auf rund 830 Pfund Monatslohn. Ein Großteil der ArbeiterInnen im Depot arbeitet aber sieben Tage die Woche.

Morgens früh im Depot herrscht Babylon, die gesamte Einwanderungsgeologie Englands ist am Start. Die älteren Festeingestellten sind tätowierte Cockneys, alte karibische Rastas oder bärtige Gujarati Muslims, oft der zweiten Generation. Eine Bruchlinie verläuft durch die späten 1990er. Die ArbeiterInnen mit Zeitarbeitsverträgen sind meist unter 30; 'white-british', oder aus dem Maghreb, dem Baltikum, aus Südafrika, Bangladesch, Polen. Der Job ist schlecht bezahlt und dreckig, aber er bietet eine geringe Chance auf Festvertrag mit substanzieller Lohnerhöhung. Und bei harter Arbeit kann man in den meisten Fällen früher nach Hause oder zum Zweitjob: eine Arbeitsweise, die durch die Phase der Privatisierung erhalten und an die ZeitarbeiterInnen weitergegeben wurde.

Das Recht, nach getaner Arbeit heimgehen zu können, schafft ein widerwärtiges Spannungsfeld. Früher konnte eine gute Kolonne ihre Runde in drei bis vier Stunden bewältigen. Aber seit Ende der 90er Jahre haben verschiedene Angriffe diese Arbeitsweise gegen den Zusammenhang der ArbeiterInnen umgedreht: Im Frühsommer 2010 wurden neun Runden der Gewerbemüllentsorgung (Restaurants, Geschäfte etc.) auf sieben zusammen gestrichen, d.h. eine schrittweise Erhöhung der Anzahl von Müllcontainern pro Runde; eine ständige Zersetzung der Kolonne durch Zeitarbeit; Verkleinerung der Kolonnen sowie Einführung von neuen Sammelcontainern und Mechanical Brooms (Hightech-Trucks für Straßenreinigung). In der Konsequenz werden heute an manchen Tagen acht Stunden ohne Verschnaufpause durchgearbeitet.

Die ZeitarbeiterInnen müssen schon deshalb in der Nähe des Arbeitsplatzes wohnen, um Transportkosten zu sparen. schrittweise Erhöhung der Anzahl von Müllcontainern pro Runde. Viele Kollegen dagegen, die sich noch an gewerkschaftlichen Einfluss erinnern können, sind aus Hackney in die Außenbezirke gezogen, wo die meisten von ihnen ein kleines Wohneigentum haben. Sie sagen, dass Hackney nicht mehr ihr Viertel ist: zu viel Migration, zu viel Verbrechen - Lower Clapton hat die höchste Straßenmordrate in England. Auch im Depot zelebrieren wir nicht täglich die Arbeitereinheit, aber immerhin kommen beim Job junge polnische MigrantInnen mit karibischen Arbeiter-Innen der zweiten Generation ins Gespräch. Die Hälfte der Mechaniker in den Reparaturwerkstätten kommt aus Afghanistan, sie montieren fernab und doch verbunden mit dem imperialistischen Krieg nun in den Eingeweiden der Bestie.


Community?

Viele BewohnerInnen Hackney sind nicht nur vom Lohnstopp im Öffentlichen Dienst oder dem Einfrieren des staatlichen Kindergeldes betroffen, auch die staatlichen community-Leistungen werden gekürzt oder gestrichen. Der soziale Klebstoff, den der Staat in Form von Sozialzentren, Gewaltpräventionsprogrammen, Arbeitsmaßnahmen für Jugendliche usw. in die sich zersetzende spätkapitalistische Gesellschaft gedrückt hat, wird dünner.

Das staatlich verbreitete Image der "multi-cultural community" soll(te) identitätsstiftend wirken, indem es einerseits Hackneys migrantischen Charakter aufgreift, andererseits ein moralisches Element forciert, das die Bevölkerung ihrer Gemeinde - also letztlich dem Staat - verpflichtet. "Community Pay Back" steht auf den Neon-Westen der jungen Männer, die sonntags unter Aufsicht die Straße in einem Sozialwohnungsblock fegen. Eine Strafarbeitskolonne, junge Straftäter auf Sozialstunden. Aber meistens ist das staatliche Element der community subtiler, in materieller Abhängigkeit von Staatsknete, in Sozialarbeit, die aus sozialen Konflikte 'individuelle Fälle' macht, in Sachbearbeitern, die nicht nur Rat bieten, sondern auch das Gesetz vertreten. Solche sozialen Kontrollfunktionen werden aktuell gekürzt: an den Schulen Stellen für Pausen- und Klassenaufsichten; 3,8 Millionen Pfund beim Community Safety Department, staatliche Zuschüsse für Beratung von MigrantInnen; bei Kitas; beim Department for Housing Needs (Beratung und Hilfe für Obdachlose und Leute in temporären Unterkünften). Und zweifelsohne werden diese Sparmaßnahmen 'soziale Lücken' hinterlassen. Individuelles Elend, 'asoziales' Verhalten und soziale Spannungen werden zunehmen.

Die Mieten sind hoch, eine privat gemietete 60m² 3-Zimmer Wohnung in einem ehemaligen Sozialwohnungsblock in Hackney kostet 1000 Pfund kalt. 70 Prozent der Bevölkerung wohnen zur Miete - ein für England enorm hoher Anteil -, fast die Hälfte bekommt Wohngeld. Mit dem Wohngeld wird der private Wohnungsmarkt subventioniert, also die Trennung in 'hausbesitzende Mittelschicht' und ein mittelloses Serviceproletariat. Mit den angedrohten Kürzungen bei Wohn- und Sozialgeldern und einer zusammensackenden Immobilienblase knirscht es im sozialen Gefüge. Konservative Berechnungen gehen davon aus, dass auf Grundlage der neuen Wohngeldberechnung rund 2000 Haushalte in Hackney ihre Wohnung werden verlassen müssen.

Über zehn Prozent aller Wohnungen gelten als überfüllt, mehrere tausend Leute sind obdachlos oder in Notunterkünften untergebracht. Im scheinbaren Kontrast weist Hackney den höchsten Leerstand in London auf; rund 2600 Wohnungen stehen seit über sechs Monaten leer. Die Strategie des Staats besteht darin, sozialen Wohnungsbau durch privaten Immobilienerwerb zu finanzieren. Um den Einstieg von privaten Immobilienfirmen zu beschleunigen, verzögert der Staat Wartungsarbeiten und toleriert Leerstand, um die übrigen BewohnerInnen für eine 'private Wohnraummodernisierung' weichzukochen. Thatchers 'Right to Buy', das Recht, die Sozialwohnung, in der man zur Miete wohnt, von der Kommune zu kaufen, hat zwei Jahrzehnte später zu einer Durchmischung der Sozialblocks geführt. Die gekauften Sozialwohnungen sind zu Spekulationsobjekten geworden, sie werden nun mehr als doppelt so teuer vermietet. Gleichzeitig fehlen Sozialwohnungen, in Hackney stehen rund 15.500 Menschen auf der Warteliste.


Linke Kampagnenpolitik

Gegen das Sparprogramm der neuen Regierung sind in den meisten Städten 'Allianzen gegen die Kürzungen' entstanden. Hier kommen Trotzkisten und Anarchisten in der Hoffnung auf eine neue Anti-Poll-Tax-Bewegung zusammen. Auch in Hackney trafen sich Anfang Juli 2010 rund 50 Leute zu einem Gründungstreffen. Fast alle haben repräsentative Funktionen in Gewerkschaften, die meisten im Bereich Erziehung, sprich, sie arbeiten als LehrerInnen. Ein Großteil ist entweder in der Socialist Party (SP) oder Socialist Workers Party (SWP) organisiert und tritt dementsprechend koordiniert und dominierend auf. Ein Großteil der Zeit ging bisher für die 'eigene Strukturierung' drauf: Wählen des Schatzmeisters und Sekretärs, Definition des Kreises in Abgrenzung zu anderen Initiativen, Wahlregeln bei Abstimmungen. Auch die politischen Vorschläge sind von der SWP geprägt: Demonstrationen vor dem Rathaus während der Ratssitzungen, Stände in den Hauptverkehrsstraßen, eine öffentliche Versammlung... für letztere sollen "Vertreter des linken Flügels der Labour Party als Sprecher gewonnen werden", denn "sie können Leute mobilisieren, die eine breite Bewegung braucht".

Die Zusammensetzung und Ausrichtung des Treffens in Hackney ist repräsentativ für viele dieser Allianzen. Eine qualifizierte und politisch organisierte Schicht der offiziellen Arbeiterbewegung, die in den letzten zwei Jahrzehnten in der Klemme steckt zwischen ständig scheiternden Versuchen der Einflussnahme auf die Sozialdemokratie einerseits und Realltätsverlust im Hinblick auf die tatsächliche Zusammensetzung der Arbeiterklasse andererseits. Die aktuellen Niederlagen der organisierten Kerne dieser Schicht, z.B. die Streiks bei der Royal Mail (Post) oder im Transportwesen erklären sich aus den Grenzen ihrer Zusammensetzung - und erst in zweiter Linie und davon abgeleitet aus 'gewerkschaftlichen Begrenzungen' oder dem 'Verrat der Führung'. Weil Auslagerungen, Zeitarbeit und weitere Umstrukturierungen die materielle Basis untergraben haben, setzen die Repräsentanten dieser alten Zusammensetzung noch stärker als zuvor auf 'politische Einflussnahme'... schaffen es aber nicht, sich auf 'Kürzungen' und tägliche Konflikte im Arbeitsalltag zu beziehen, auch weil diese Dinge sich nicht fürs Aufstellen eines allgemeinen Gegenprogramms eignen. Die traditionelle Linke hat zu den Kürzungen ein im negativen Sinne 'politisches' Verhältnis, aus Sicht der Proleten ein oberflächliches und taktisches.


Linke Stadtteilarbeit

Verschiedene post-anarchistische Gruppen, z.B. die London Coalition Against Poverty (LCAP) versuchen, direkte Aktionen zur Verbesserung der Lage in Hackney durchzuführen. Die meisten AktivistInnen leben selber im Stadtteil und haben vor allem in Sozialblocks mit hohem Leerstand größere Hausbesetzungen organisiert. Z.B. wurden im Winter 2009/10 von einer Mischung aus osteuropäischen ArbeiterInnen und eher anarchistischen jungen Menschen mehrere Wohnungen im King's Crescent Estate besetzt. Die BesetzerInnen bemühten sich sehr um die zu den Nachbarn. Trotzdem blieb das Verhältnis zu ihnen gespalten, für die AnwohnerInnen ist die Besetzung auch ein Zeichen, dass der Staat sich aus der Verantwortung für die Instandhaltung ihrer Wohnungen stiehlt - die Selbstaktivität der BesetzerInnen kommt dem neoliberalen Staatsgedanken entgegen.

Der Staat umging den schwierigeren Weg der Räumungsklage mit einem Platzverweis wegen 'asozialem Verhalten'. Nach Ablauf der Frist sparte sich die Kommune die Kosten für ein Räumkommando - eine bezahlte Truppe zerschlug die Wasserleitungen im oberen Stockwerk und flutete die BesetzerInnen bei Minusgraden aus den Wohnungen. Nach der Räumung unterstützten die LCAP-Leute einen Teil der 'OsteuropäerInnen' auf dem Wohnamt. Dort sind sie bereits bekannt und gelten als juristisch geschult und penetrant.

Konflikte und Spaltungen zwischen Mittelschicht und ProletarierInnen, aber auch solche innerhalb der Klasse lassen sich nicht einfach überspringen, indem man sich auf die 'community' oder die 'AnwohnerInnen' bezieht. Das wird noch deutlicher an einem weiteren Beispiel von community Arbeit, den Friends of Hackney Nurseries (FHN), die die massiven Kürzungen bei kommunalen Kitas zurückkämpfen will. Es gibt vier Arten von Kitas: direkt von der Stadt geleitete; von non-profit Unternehmen auf ehrenamtlicher Basis geführte; private; und schließlich selbstständige Tagesmütter. Der Staat hat die Zuschüsse für die ehrenamtlichen Kitas massiv gekürzt. FHN versteht den gemeinsamen Kampf von "DienstleistungsarbeiterInnen" und "NutzerInnen" als Teil des "Kampfs um den Soziallohn" Ihre Aktivitäten bestehen vor allem aus Unterschriftensammlungen, Petitionen und Demos. Die Kita-Beschäftigten unmittelbar zusammenzubringen ist schwierig, weswegen vor allem die Leiterinnen der ehrenamtlichen Kitas als Bündnispartner gegen die Pläne der Kommune auftauchen. Damit gerät die Initiative in eine Zwickmühle, denn jede Forderung nach besseren Bedingungen für Beschäftigte (und Kinder) würde die Zusammenarbeit mit den LeiterInnen gefährden. Ein paar der AktivistInnen äußern ihren Frust, dass sie zu einer "PR-Abteilung der Kita-Leitungen" geworden sind.

Ich wollte ArbeiterInnen einer städtischen Kita interviewen, die jahrelang mit Tagesverträgen beschäftigt waren und jetzt ihre Festeinstellung eingeklagt hatten. Sie befürchteten aber, ein Interview würde sie bei zukünftigen Kita-Arbeitgebern in einem schlechten Licht erscheinen lassen.

Der Begriff der 'Nutzer', mit dem die Initiative hantiert, ist problematisch. Für Kinder unter zwei Jahren kostet ein Kita-Platz rund 50 Pfund am Tag, das ist mehr als der staatliche Mindestlohn. Eine niedrig entlohnte Berufstätige würde Zuschüsse bekommen, eine Arbeitslose nicht; die Kita-Nutzung ist also bereits jetzt viel stärker 'klassifiziert', als der Begriff 'NutzerInnen' es nahelegt. Über solche Widersprüche versucht die FHN mit Organizing-Techniken hinwegzukommen: Wer kann ein Verbündeter sein? Wer ist Hauptadressat? Wo sind Schwachstellen der Gegenseite? Man will einen vorzeigbaren Erfolg produzieren, um anderen Initiativen Beispiel und Anregung zu geben, dass man zusammen etwas erreichen kann.

Auch wenn im Sprachgebrauch der Linken in England die "Arbeiterklasse" noch präsent ist, sind ihre Vorgehensweisen denen in der BRD durchaus ähnlich: politische Kampagnen einerseits, Ansetzen an (einem Gegenbegriff von) community andererseits. Angesichts einer scheinbar gesichtslosen Arbeiterklasse, die sich, abgesehen von den übriggebliebenen Kernbelegschaften, in einem Meer prekärer Arbeit und Unterbeschäftigung auflöst, ist das nachvollziehbar. Aber mit dem Wegzug eben dieser 'Kerne' ist der Stadtteil nicht mehr der Ort, wo Produktionsmacht und proletarische Reproduktion zusammenkommen, und community wird zum Hebel des Stadtteilmanagements. Somit laufen Initiativen wie die von LCAP Gefahr, sich im Verhältnis 'individueller Proll' vs. (Sozial-)Staat als ausgelagerte Sozialarbeit zu entpolitisieren und lediglich die Lücken zu füllen, die der Staat hinterlässt.


Der Ofen ist noch nicht aus.

Die Lage ist uneinheitlich. Aber sie ist keinesfalls hoffnungslos. Wir müssen nur endlich aufhören, uns in die Zeiten der alten Klassenzusammensetzung zurückzuträumen.

Es geht um mehr als quantitative Kürzungen am Soziallohn oder bei Arbeitsplätzen. Arbeit auf Abruf, Siebentagewoche usw. krempeln alle Lebenszusammenhänge um. Bei der Post und der Müllabfuhr ging es vor allem um die 'Zustimmung zur Modernisierung', sprich zur weiteren Umschichtung der Arbeitskraft. Im Betrieb sieht diese Umschichtung so aus, dass neue Maschinerie (mechanisierte Sortiermaschinen) und Arbeitsteilung (neue Rundensysteme bei der Abfuhr) weitere Arbeitsverdichtung und Prekarisierung ermöglichen. 'Garantierte Kernbelegschaften' haben nur noch in sehr seltenen Fällen alleine die Macht, sich zu verteidigen, und communities im segregierten Stadtteil lassen sich nicht durch guten Willen in Kampfgemeinschaften umdrehen. Die Auseinandersetzungen um Kitas, Sozialwohnungsblocks, Stellenstreichungen, Arbeitsverdichtung usw. sind Teil des Kampfs um die gesamte proletarische Reproduktion. In diesen Kämpfen müssen wir eine 'Sprache' entwickeln (und entdecken!), um diese verdeckten Krisenauswirkungen als Teil des allgemeinen Angriffs und Verschärfung des Widerspruchs von gesellschaftlicher Produktivität und Verarmung darzustellen.

Revolutionäre Linke diskutieren bisher zu wenig darüber, wie gegen diese partiellen Angriffe vielleicht auch neue Linien von Verallgemeinerung entstehen können. Zum Beispiel: Könnten die prekären ArbeiterInnen in arbeitsorganisatorischer Nähe zu den 'garantierten Überbleibseln' die homogenisierende Mitte zwischen den zwei großen Flügeln der derzeitigen 'Anti-Kürzungsmobilisierung' (ArbeiterInnen des Öffentlichen Diensts und 'Studies') sein? Also die Jungen, die jetzt sowohl beschissenere Bedingungen auf Arbeit haben, als auch ihre zukünftigen Ziele kaputtgehen sehen? Bisher war ihre Perspektive 'nach ein paar Jahren jobben in England eine gute Zukunft in Polen', oder 'mit vier Jahren Call Center das Studium finanzieren' oder 'nach vier Jahren Überstunden kann man an Hauskauf denken, bis dahin überlebt man irgendwie im Wohnklo'...

Ob die 'alten Kerne' ausbrennen oder neuen Zündstoff liefern, wird sich jedenfalls erst im Zusammenhang beantworten. Immerhin: Anfang Oktober wollte die Gemeindeverwaltung von Hackney die Kündigungsklauseln in ihren Arbeitsverträgen ändern, die Gewerkschaft UNISON mobilisierte dagegen, und obwohl die Gemeindeverwaltung daraufhin zurückzog, kam es im Anschluss zur größten Gewerkschaftsversammlung seit zehn Jahren. Die Streiks gegen Entlassungen bei der Londoner U-Bahn waren ebenfalls recht solide.

Die spontane Besetzung der Parteizentrale der Konservativen Partei auf der Studi-Demo am 10. November war Ausdruck davon, dass sich neue Formen des Protests entwickeln, aber die 'Bewegung' das kalte Wasser erstmal nur mit den Zehen prüft. Mehrere tausend StudentInnen waren von der Großdemo abgebogen, schmissen die Scheiben der Zentrale ein und besetzten Foyer und Dach - der Großteil applaudierte vor dem Gebäude.

Raute

Frankreich: ein Land will sich nicht reformieren lassen

Seit April redet die Regierung von der Notwendigkeit einer Rentenreform. Sie spricht von der Rettung des Generationenvertrags und der Solidarität zwischen den Generationen. Was sie nicht sagt: in Zukunft muss man einem privaten Rentenfond beitreten, wenn man eine anständige Rente bekommen will. Der Bruder des Präsidenten, Chef einer Versicherungsgesellschaft, hat das so gut verstanden, dass er eine auf private Renten spezialisierte Tochtergesellschaft gegründet hat.

Im wesentlichen wird mit der Demographie argumentiert: Laut Regierungsexperten stehen zu viele Alte, die zu lange leben, zu wenigen Jungen gegenüber, die für ihren Unterhalt zahlen könnten. Völlig außer Acht gelassen wird dabei, dass durch den Produktivitätsfortschritt ein aktiver Beschäftigter in 20 Jahren doppelt so viele Rentner wird unterhalten können wie heute. Allerdings unter der Bedingung, dass dieser Reichtum in den Taschen der zukünftigen Rentner landet und nicht in denen der Aktionäre, Konzernchefs und sonstiger Parasiten. Aber genau das will die Regierung nicht.

Die soziale Krise in Griechenland und die Reaktionen der internationalen Spekulanten haben der Regierung klargemacht, dass sie "unbedingt" schnellstmöglich Sparmaßnahmen verabschieden muss, damit die internationalen Ratingagenturen nicht die Einstufung Frankreichs auf den Finanzmärkten senken, auf die das Land wegen der bei der Bankenrettung aufgelaufenen Schulden angewiesen ist. Soweit die offiziell verbreiteten Begründungen. In Wirklichkeit laufen schon seit über 20 Jahren Bestrebungen, das Renteneintrittsalter und die Zahl der Beitragsjahre, die man für eine volle Rente braucht, hochzuschrauben und gleichzeitig das Rentenniveau zu senken, um den Anreiz zum Abschluss von privaten Rentenversicherungen zu steigern.

Die wichtigsten Etappen waren 1987 (Umstellung von Lohn- auf Preisindizierung), 1993 (die Regierung Balladur erhöht die Zahl der Mindestbeitragsjahre für die gesetzliche Altersrente von 37,5 auf 40), 2003 (die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes werden im Namen der republikanischen Gleichheit der Privatwirtschaft gleichgestellt - alle brauchen jetzt 41 Beitragsjahre) und 2008 (weitere Angriffe auf Sonderregelungen wie z.B. bei den Eisenbahnern, aber natürlich nicht bei den Parlamentsabgeordneten).

Das aktuelle Projekt sieht vor, dass sich ab 2018 das Vorruhestandsalter für ArbeiterInnen mit vollen Beitragsjahren auf 62 Jahre und für alle anderen auf 67 Jahre erhöht. Für alle, die bisher ein Recht auf Vorruhestand hatten, bedeutet das eine Verlängerung um 2 Jahre. Ab 2020 braucht man 41,5 Beitragsjahre für eine volle Rente. Es handelt sich um eine der brutalsten Rentenreformen in Europa. Selbst die sogenannten "Erschwernis-Abschläge" - bei denen die Gewerkschaften Verhandlungsbereitschaft signalisiert hatten - gewährt die Regierung nicht als Recht für bestimmte Berufsgruppen, sondern als Almosen für ein paar tausend Invaliden.

Tatsächlich entlassen viele Firmen schon jetzt die "Senioren" als zu teuer und unrentabel. Männer scheiden mit durchschnittlich 58,7 Jahren aus dem Berufsleben aus, Frauen mit 59,5 Jahren (gegenüber durchschnittlich 63,5 bzw. 62,3 Jahren in den OECD-Ländern). Sehr sehr viele Alte werden also vor Erreichen des Rentenalters arbeitslos. Insofern geht es darum, "junge" Rentner durch "alte" Arbeitslose zu ersetzen. Das unausgesprochene aber offensichtliche Ziel: Senkung des Rentenniveaus. Man kann noch nicht einmal behaupten, die Franzosen wollten keine Opfer bringen, denn laut allen Umfragen wären sie bereit, höhere Beiträge zu zahlen. Die Regierung wählt aber die unpopulärste Lösung, nämlich die Erhöhung des Rentenalters, die nicht einmal den Ausgleich der Rentenkassen sicherstellt. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Mit der direkten Erhöhung der Beiträge stünden die Löhne auf der Tagesordnung und damit mögliche Kämpfe am Arbeitsplatz, während die Erhöhung des Rentenalters den zukünftigen Rentner zum ohnmächtigen und isolierten Opfer eines brutalen Mechanismus macht. Die Beiträge der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes werden trotzdem erhöht und an die Beiträge in der Privatwirtschaft angepasst - wie immer im Namen der republikanischen Gleichheit.

Zum ersten Mal wird nicht mit tatkräftiger Hilfe der Gewerkschaften die Spaltung der Beschäftigten organisiert, sondern ein allgemeiner Angriff auf alle ArbeiterInnen unternommen.

Aber die Regierung hat Pech: die Kritik an den Steuererleichterungen für die höchsten Einkommen im Land wird nicht leiser. Auch sind Mitglieder der Regierung, der Regierungspartei und befreundete Unternehmer immer häufiger in Skandale verwickelt. Die Parlamentsdebatte über die Reform findet in einer Art Endzeitstimmung statt.

Die Reform bietet die Gelegenheit, den ganzen Unmut rauszulassen, der sich in den letzten Jahren wegen der verschiedenen "Reformen" und Auswirkungen der Krise angestaut hat: Abbau von 30.000 Stellen im Öffentlichen Dienst, v.a. in den Schulen und im Gesundheitswesen; Privatisierung der Post und Schließung der Postämter in Kleinstädten; Stilllegung von lokalen Bahnstrecken; Schließung von Krankenhäusern und Senkung der Bettenzahlen, höhere Rezeptgebühren, Ärztemangel in Kleinstädten; Reform der Arbeitslosenverwaltung genau in dem Moment, wo die Arbeitslosigkeit stark zunimmt; Senkung der Reallöhne, Personalabbau, Verlängerung der Arbeitszeit, Schließung von Fabriken und Firmen durch Auslagerungen. in den letzten zehn Jahren wurde die Arbeit so sehr intensiviert, dass die Rente als verdiente Befreiung wahrgenommen wird. Die Reform steht für alle Niederlagen, für alle lokal oder auf einzelne Branchen beschränkten Schlachten, die verloren oder nie ausgefochten wurden, und vor allem für das seit Jahren in der französischen Gesellschaft zunehmende Gefühl von Ungerechtigkeit. Die ArbeiterInnen begreifen, dass es nicht nur um ein paar Euro weniger geht, sondern um eine grundsätzliche, gesellschaftliche Frage, und dass es nicht darum geht, diese eine Reform aufzuhalten, sondern alle weiteren anstehenden Reformen.


Kurze Chronologie der Ereignisse

Der Gesetzesentwurf wird Ende März sehr vorsichtig den Gewerkschaften vorgestellt. Schnell kommt es zu den ersten negativen Reaktionen seitens der Bevölkerung und zu ersten Demos. Am 24. Juni, als die Leute schon halb in die Ferien aufgebrochen sind, lassen eindrucksvolle Demonstrationen ein heißes Ferienende vorausahnen.

Die Regierung will ihre Reform ohne Abstriche durchziehen und gibt den Gewerkschaften, die eigentlich nur einen Kompromiss gefordert hätten, keinen Millimeter nach. Diese müssen also dem Druck der Basis nachgeben und Einigkeit und Standhaftigkeit zeigen. Nach dem Ende der Ferien, am 7. September, beginnt die Lesung des Gesetzentwurfs in der Kammer. Am selben Tag beginnt mit vielen landesweiten Demos ein kämpferischer Herbst. Von nun an nimmt die Zahl der landesweiten Demonstrationen, zu denen die Gewerkschaften gemeinsam aufrufen, ständig zu. Streiktage wechseln ab mit Samstagsdemos, um die Beschäftigten der Privatwirtschaft zu mobilisieren, die es schwerer haben zu streiken. Am 12. Oktober, einem Dienstag, gehen dreieinhalb Millionen Menschen auf die Straße, mehr als samstags.

Auf der Straße finden wir in erster Linie die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes: aus Lokalverwaltungen, LehrerInnen aller Schularten und der Universitäten, aus dem Krankenhaus, von der Feuerwehr; bei einigen Demos sind sogar Knastwärter dabei. Außerdem: von der Post (wenige), aus Elektrizitätswerken, Banken, Autofabriken, Call-Centern, von der Stadtreinigung, alle möglichen Prekären, Arbeitslose, RentnerInnen ... In allen gesellschaftlichen Bereichen breiten sich (oft minderheitliche) Streiks aus, die das wirtschaftliche Leben im Land lahmlegen.

Am interessantesten aber ist, dass seit Anfang Oktober bei Eisenbahnen, im öffentlichen Nahverkehr (nur kurz und von Minderheiten getragen), im Güterverkehr auf der Schiene und (nur sehr wenig) auf der Straße gestreikt wird und es zu einigen Verzögerungsaktionen kommt. Das Neue ist, dass diesmal die Hafenarbeiter in Marseille und Le Havre ganz vorne in der Auseinandersetzung stehen: Sie blockieren Erdöl-Terminals und weigern sich, Tanker zu löschen. Vor allem aber streiken die Chemiearbeiter der Erdöl-Raffinerien, die in absehbarer Zeit geschlossen und vollständig ins Ausland verlagert werden sollen. Die 13 französischen Raffinerien stellen eine nach der anderen die Produktion ein, und die Treibstoffdepots werden blockiert. Die Regierung schickt die Polizei, um die Streikposten zu räumen, aber diese formieren sich ein Stück weiter wieder neu und spielen Jagen mit den Bullen.

Auch die SchülerInnen gehen auf die Straße und besetzen ihre Schulen. Die Regierung macht sich Sorgen und versucht die Ausbreitung mit Polizeieinsätzen und hartem Durchgreifen einzudämmen. Dutzende von Verletzten, über 2000 Festnahmen, hunderte von Schnellprozessen und exemplarische Urteile. Am 5. Oktober beginnt an den Universitäten das Semester, und zehn Tage später gehen auch die StudentInnen auf die Straße, die Beteiligung ist unterschiedlich und insgesamt niedriger als bei den SchülerInnen, aber sie halten trotz abflauendem Medieninteresse durch.

Die Regierung sucht die Konfrontation und spekuliert auf Rufe nach Ordnung aus der Bevölkerung, die aber nicht kommen. Die Medien berichten unablässig von schrecklichen "Randalierern", aber die Hetze verfängt nicht. 70 Prozent der Bevölkerung sind gegen die Reform und für die Bewegung, der Präsident ist so unbeliebt wie noch nie ein Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg.

Viele kleine und mittlere Industriebetriebe stehen durch den Treibstoffmangel und die Transportblockaden am Rande der Existenz und machen zunehmend Druck auf die Regierungsparteien, während die Großunternehmen weiterhin die Reform unterstützen. Wochenlang leugnet die Regierung standhaft das Offensichtliche: Nein, es gibt keinen Treibstoffmangel, das Land braucht die Reform, die Reform ist gerecht. Die Polizei gibt bei den Demos nie mehr als ein Drittel der tatsächlichen Teilnehmerzahlen an. Erst später, als die Gefahr vorbei ist, geben einige Regierungsverantwortliche zu, dass sie gerade noch einmal um Haaresbreite davongekommen sind.

Es gibt die unterschiedlichsten Kampfformen: vor allem Streiks. Die landesweiten Gewerkschaften rufen zu einem "Aktionstag" nach dem anderen auf. Aber in vielen Branchen werden die Streiks durch Streikankündigungen langgezogen und an der Basis in Versammlungen bestätigt, mit einer Beteiligung, wie es sie in dieser Breite seit 1968 nicht gegeben hat. Es gibt vielfältige Initiativen von unten: Besetzungen von Gebäuden des Staats und der Arbeitgeber, von Bahnhöfen, Flughäfen, Fernsehstationen, Straßenblockaden, Verzögerungsaktionen, flying pickets. In allen Bereichen nehmen die Basisversammlungen zu, und ab Mitte Oktober beginnen sie sich bereichsübergreifend zu koordinieren. Es werden Streikkassen eingerichtet. Trotzdem sind die Grenzen sichtbar: Zwar erfasst die kollektive Reflexion an der Basis die unterschiedlichsten Bereiche, aber die Versammlungen bleiben das Ding einer militanten Minderheit. Die Gewerkschaftsbürokratie wird nicht umgangen.

Die Gewerkschaften, die von Anfang an vor vollendete Tatsachen gestellt worden waren, mobilisieren auf der Suche nach einem Dialog, der nicht stattfindet. Der Druck von unten nimmt zu, und es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihn zu organisieren und die wachsende Mobilisierung zu begleiten. Neben der Verteidigung der Renten finden wir immer häufiger lokale und bereichsspezifische Ziele, gegen den Personalabbau, gegen prekäre Beschäftigung, für Lohnerhöhungen.

Trotz der Proteste der Opposition wird das Gesetz in der Kammer und dann auch im Senat praktisch ohne Diskussion im Eilverfahren durchgepaukt, was auch die legalistischsten Franzosen aufbringt. Am Mittwoch, dem 27. Oktober wird das Gesetz verabschiedet, ohne dass die Reform dadurch legitimer geworden wäre.

Am Donnerstag, dem 28. Oktober, ist ein erster Rückgang der Mobilisierung auf der Straße zu beobachten, aber zur großen Überraschung der Medien und der Gewerkschaften hält sich die Bewegung. Von diesem Moment an kommt es nach über 20 Tagen wieder zu Streiks bei der Stadtreinigung und in den Raffinerien, während die Spaltungen zwischen den Gewerkschaften sichtbar werden: die einen wollen die Mobilisierung begleiten, solange sie anhält (um zu verhindern, dass sie sich radikalisiert), die anderen verweisen auf die nächsten Wahlen, "denn man kann nicht gegen ein staatliches Gesetz ankämpfen". Einige beginnen sich zu fragen, welche Zugeständnisse die Regierung eigentlich gemacht hat, um das Ende des Streiks in den Raffinerien zu erreichen.

Die Tankstellen nehmen den Betrieb wieder auf, aber das gesellschaftliche Klima bleibt unruhig. Die Widerstandsherde sind immer noch stark und vor allem festigen sich die bereichsübergreifenden Versammlungen von BasisgewerkschafterInnen, Militanten aus linken Gruppen und radikalisierten ArbeiterInnen.

Die Situation ist immer noch im Fluss, und man bräuchte eine Kristallkugel, um zu wissen, wie es weitergeht. Eine Möglichkeit ist, dass die bereichsübergreifenden (interpro) Versammlungen sich festigen, entwickeln und einen endemischen, sozial verwurzelten Konflikt vorantreiben.

Im nächsten Jahr finden Gewerkschaftswahlen statt (bei zunehmender Konkurrenz und Konflikten zwischen den Gewerkschaften), deren Ergebnisse auch über die Finanzierung der einzelnen Gewerkschaften entscheiden. In vielen Bereichen laufen die Tarifverträge aus, und die Lohnfrage wird sich wohl kaum vermeiden lassen.

Das gegenüber der Dampfwalze der staatlichen "Reformen" der letzten Jahre vorherrschende Gefühl von Ohnmacht und Resignation ist vielleicht nicht völlig verschwunden, aber die Streiks haben gezeigt, dass es möglich ist, zu kämpfen und den Gegner in Bedrängnis zu bringen. Der Unterschied zu den Renten-Reformen von 1987 und 1993 ist krass: Damals wurde nicht eine einzige Stunde lang gestreikt, in den letzten beiden Monaten dagegen mehrere Millionen Stunden.

Mehr als ein politischer Kommentator jammert jetzt, die Regierung sei unfähig, das Land zu führen, ohne Gräben aufzureißen, die auch den Interessen der Unternehmer schaden. Es scheint ein Jahrhundert her zu sein, seit Sarkozy am 5.Juli 2008 erklärt hat: "Wenn heute jemand in Frankreich streikt, merkt das niemand mehr."

Jean, Paris, 31.10.2010


Im Schattenblick nicht veröffentlichte Abbildung:

Transparent: "Wenn heute jemand in Frankreich streikt, merkt das niemand mehr... Der Beweis!"

Raute

Vom "Wir zahlen nicht für ihre Krise" zum "Soooo nicht!"

Bemerkungen zum "Generalstreik" am 29. September in Spanien

Die ersten Versuche, auf Entlassungen, Kurzarbeit und Lohnkürzungen im Winter 2008/09 mit einer politischen Mobilisierung zu reagieren, kamen aus dem Spektrum der Links-Gewerkschaften und der links-alternativen Szene. Angesichts weitgehend isolierter Proteste von Belegschaften kleiner und mittlerer Betriebe wurde in Barcelona beispielsweise eine "Plattform gegen Schließungen und prekäre Arbeit" gegründet, mit der mehrere Organisationen eine Kampagne mit dem zentralen Motto "Wir zahlen nicht für ihre Krise" begannen. Diese Mobilisierungen gingen an der Dynamik der Entwicklungen vorbei, denn ein großer Teil der betroffenen Belegschaften kämpfte für höhere Abfindungen und bessere Vorruhestandsregelungen. Das entsprach dem Pragmatismus, mit dem das Kräfteverhältnis zu Beginn der globalen Krise begriffen wurde. Außerdem bremsten die Konjunkturprogramme seit dem Frühjahr 2009 die Geschwindigkeit des Krisenangriffs auf die Betriebe ab; es kam sogar zu einem kleinen Boom in den Autofabriken. Spätestens da schliefen die politischen Initiativen ein.

Die Mehrheitsgewerkschaften beschränkten sich darauf die "Anpassungen" institutionell zu managen, u.a. durch die Mitgestaltung der Einschnitte auf betrieblicher Ebene. Ansonsten rannten sie den Arbeitsgerichten die Türen ein und hofften genauso wie die Regierung auf eine wirtschaftliche Stabilisierung. Noch im Februar unterschrieben sie einen Rahmentarifvertrag mit dreijähriger Laufzeit, der Lohnerhöhungen 2010 auf 1 Prozent begrenzte, 2011 auf 1-2 und 2012 auf 1,5-2,5 Prozent - wobei Unternehmen mit größeren Schwierigkeiten ein Aufschub der Erhöhungen zugestanden wurde.

Erst als ab Mai 2010 mit der Eurokrise die Kreditmärkte austrockneten, schlug die Krise verschärft auf die gesamte Arbeiterklasse durch. Die Regierung kam politisch stark unter Druck und musste den von EU-Kommission und EZB eingeforderten Angriff auf Arbeitsbedingungen und Einkommen mit den beschränkten Mitteln ihrer schwachen parlamentarischen Position durchsetzen. Die Schärfe des Angriffs zwang die Mehrheitsgewerkschaften nun zum Handeln. Aber jeder breite Widerstand gegen die Regierungspolitik würde die Situation verschärfen, die zum Schwenk der Regierung führte. Aus Sorge um deren politische Schwäche vermeiden die Gewerkschaften jede Konfrontation und wettern stattdessen gegen die bösen Spekulanten des Finanzkapitals, welche die Regierung auf neoliberalen Kurs zwängen.


Einschnitte und Reaktionen im Überblick

Gehaltskürzungen

Gleich nach der Verabschiedung des "Euro-Rettungsfonds" in Brüssel wurden Mitte Mai Gehaltskürzungen von durchschnittlich 5 Prozent ab Juni für die 2,7 Mio. Beschäftigten im Öffentlichen Dienst (12 Prozent der aktiven Bevölkerung) angekündigt. 2011 sollen die Gehälter eingefroren werden. Zusammen mit den Kürzungen bei den Renten will man dadurch bis 2011 4,5 Mrd. Euro einsparen.

Am 8.6. riefen die Gewerkschaften zu einem Streik im Öffentlichen Dienst auf, an dem sich weniger als 20 Prozent beteiligten. Im Juli kam es in einigen katalanischen Krankenhäusern und bei den ambulanten Sanitätern zu kurzen Streiks und anderen Aktionen gegen die Pläne ihrer Firmen, die Kürzungen der staatlichen Transferzahlungen auf die Beschäftigten abzuwälzen.


Streiks bei der U-Bahn

Ende Juni spitzte sich in Madrid ein Konflikt zwischen der kampferfahrenen und gut organisierten Belegschaft der Metro und der Regionalregierung zu. Die hochverschuldete Stadtverwaltung hatte allen öffentlichen Angestellten Lohnkürzungen aufgedrückt. Die 7600 Beschäftigten der U-Bahn lehnten jede Änderung des bis 2012 laufenden Tarifvertrags ab. Die Beschäftigten der Staatsbahn (Renfe, Adif) waren von den Gehaltskürzungen im Öffentlichen Dienst ausdrücklich ausgenommen worden, weil das gegen geltendes Tarifrecht verstoßen würde.

Am 29. und 30. Juni weigerte sich eine Vollversammlung mit über 5000 Metro-ArbeiterInnen, die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestdienste von etwa 50 Prozent der fahrplanmäßigen Züge in den Hauptverkehrszeiten zu erfüllen. Dieser erste Vollstreik seit 1991 stürzte Madrid ins Verkehrschaos. Die Unternehmensleitung versuchte mit Sondereinheiten der Polizei, den Betrieb der Flughafenverbindung gegen die Streikposten durchzusetzen. Nach zwei Vollstreiktagen entschieden die ArbeiterInnen wiederum in Vollversammlung, unter Einhaltung der Mindestdienste weiterzustreiken und die Wiederausweitung des Streiks von den Verhandlungen mit der Unternehmensleitung abhängig zu machen. Diese wurden vom Streikkomitee geführt, in dem fünf Gewerkschaften saßen. Nach insgesamt sieben Streiktagen stimmte die Belegschaft am 18.7. in zwei Vollversammlungen mit 30 Prozent Gegenstimmen einem Kompromiss zu, den vier der Gewerkschaften zur Annahme vorschlugen. Demzufolge werden die Lohnkosten um ein Prozent gesenkt, ohne dass die Löhne direkt betroffen werden sollen.


Renten

Die Zapatero-Regierung sieht es als eine ihrer Hauptaufgaben, die Sozialleistungen und insbesondere die Renten an den europäischen Durchschnitt heranzuführen. Mit 28 Prozent Altersarmut (EU-Durchschnitt 19 Prozent) hält Spanien mit Großbritannien, Irland und Portugal einen Spitzenplatz.

Ebenfalls Mitte Mai wurde angekündigt, 2011 erstmals die Renten einzufrieren. Nur die niedrigsten der insgesamt 8,5 Mio. Renten sollen im vorgesehenen Turnus angehoben werden. Eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 und die Erhöhung der Mindestanwartschaftszeiten werden voraussichtlich noch dieses Jahr beschlossen. Nun wurde wieder viel vom drohenden Bankrott der Rentenkassen geredet. Die Finanzindustrie betrachtet die private Altersvorsorge seit langem als dickes Geschäft, die diesbezüglichen Einlagen belaufen sich. in Spanien aber "erst" auf 8 Prozent vom BIP, hier wird Wachstumspotential gesehen. Zudem sind die Renditen eben dieser Fonds in der Krise schwer unter die Räder gekommen. Durch die Kürzungen bei der staatlichen Rente will man wieder in Schwung kommen.


Steuern

Das spanische Fiskalsystem besteuert die Arbeit und den Konsum mit 37 Prozent, die Kapitalerträge jedoch mit 17 Prozent - dem niedrigsten Wert in der OECD! Zudem wird das Ausmaß der Steuerhinterziehung auf 4-8 Prozent des BIP geschätzt. Erst 2008 hatte die Regierung die Vermögenssteuer abgeschafft, den Spitzensteuersatz und die Unternehmenssteuer gesenkt. Die 2009 angekündigte "umfassende Steuerreform" schrumpfte am Ende auf die zweiprozentige Mehrwertsteuererhöhung auf jetzt 18 Prozent seit 1. Juli 2010. Außerdem wurde das Wahlgeschenk eines allgemeinen 400 Euro-Steuererlasses zurückgezogen und der "Baby-Scheck" von 2500 Euro gestrichen. Die am 24. September beschlossene Anhebung der Spitzensteuersätze ist pure Kosmetik. Tiefergreifende Maßnahmen würden laut Regierung zu Kapitalflucht führen.


Finanzmarkt

Am 9. Juli wurde die Reform der Sparkassen gesetzlich besiegelt und unter dem Vorwand der Rekapitalisierung ihre Privatisierung und Rationalisierung eingeleitet. Die Sparkassen hatten bisher ein Viertel ihrer Gewinne zur Unterstützung sozialer und kultureller Einrichtungen ausgegeben, allein 2008 gingen 781 Mio. Euro in soziale Hilfen, 729 Mio. Euro in kulturelle Förderungen, 326 Mio. Euro in Erziehung und Forschung und 221 Mio. Euro in Erhalt und Restauration von kulturellem und künstlerischem Erbe. Diese Zahlungen werden nun wegfallen. Mittlerweile wandern die Sparkassen-Kunden zu den Banken ab, die höhere Zinsen auf Sparkonten anbieten. Mit billigen Krediten ermöglicht die Zentralbank deren Rekapitalisierung zu Lasten der Kassen.


Arbeitsmarkt

Am 8. September wurde die "Arbeitsmarktreform" beschlossen. Sie erleichtert betriebsbedingte Kündigungen bei "aktuellen oder absehbaren Verlusten" oder "anhaltender Verminderung der Einnahmen", und senkt die vorgeschriebenen Abfindungen auf 20 Tageslöhne pro Jahr Betriebszugehörigkeit, maximal 12 Monate - also immer noch in etwas das Doppelte von den in der BRD üblichen Sätzen. Gleich nach Inkrafttreten des Gesetzes haben erste Unternehmen von den neuen Bedingungen Gebrauch gemacht. UPS hat 18 Mitarbeiter einer Madrider Zweigstelle nach dem neuen Verfahren entlassen und Vaillant will 75 in Vitoria entlassen. Bereits Ende August stiegen die "betriebsbedingten" Entlassungen um über 20 Prozent. Viele Firmen hatten zuletzt Entlassungen zurückgestellt, um von den günstigeren Bedingungen zu profitieren. Desweiteren ist die Höhe der Abfindung bei "ungerechtfertigter" Kündigung für neue unbefristete Arbeitsverträge von 45 Tagen pro Jahr Betriebszugehörigkeit und maximal 42 Monate auf 33 Tage pro Jahr und maximal 24 Monate gesenkt worden.

Aus den vielen weiteren Verschärfungen sticht eine besonders hervor die den Unternehmer auf Betriebsebene stärkt und als "interner Flexibilisierung" bezeichnet wird. In Anlehnung an das "deutsche Modell der Kurzarbeit" wurde die Möglichkeit eingeführt, betrieblich die Arbeitszeiten und Löhne für eine befristete Zeit zu reduzieren. Die Betroffenen können ihren Lohn durch Arbeitslosenunterstützung aus der Sozialversicherung aufstocken. Das Verfahren ist sehr unternehmerfreundlich, in (Klein-)Betrieben ohne Betriebsrat reicht es, wenn drei spontan ernannte Delegierte der Maßnahme zustimmen. Zudem können auf diesem 'Wege geltende Tarifverträge in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Löhne schlichtweg ausgesetzt werden.


Tarifverhandlungen

Tarifverhandlungen sollen stärker auf betrieblicher Ebene stattfinden, auf nationaler Ebene nur noch Rahmenabmachungen getroffen werden, und regionale sowie branchenbezogene Tarifverträge tendenziell abgeschafft werden. Zweitens soll die Fortwirkung ausgelaufener Tarifverträge abgeschafft werden, da das häufig als Druckmittel in den Verhandlungen über einen neuen Vertrag dient und den Abschluss verzögert.


Liberalisierung von Dienstleistungen

Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie 2006/123/EC ("Bolkestein") per Gesetzeserlass ("Ley Omnibus") wird das Monopol der Berufsverbände auf viele Leistungen sowie die Gebührenpflicht aufgehoben, was sich direkt in Stellenstreichungen und Einkommenssenkungen übersetzt.


Konflikte in der Flugsicherung

Am 31. März lief der Tarifvertrag der 2400 Fluglotsen (2000 in den Kontrolltürmen) aus, ohne dass es zwischen AENA, dem staatlichen Betreiber der Flughäfen, und der Gewerkschaft UCSA zu einer Einigung über einen neuen Vertrag gekommen war. Schon seit Anfang Februar bereitete der Verkehrsminister einen exemplarischen Angriff vor, den "privilegierten" Fluglotsen mit ihrer außerordentlichen "Produzentenmacht" sollen die Flügel gestutzt werden. Ihre vielen Überstunden sollen durch Ausweitung der regulären Arbeitszeit in normale Arbeitsstunden verwandelt werden, die jährliche Arbeitszeit von 1200 Stunden auf 1750 angehoben, die Pausenzeiten von 33 Prozent auf 25 Prozent in Tagschichten und von 50 Prozent auf 33 Prozent in Nachtschichten gekürzt. Alles zusammen entspricht einer Lohnsenkung um 41 Prozent (von 340.000 auf 200.000 Euro/Jahr). Zugleich wurde die grundsätzliche Liberalisierung der Arbeit in den Kontrolltürmen eingeleitet. In aller Eile wurde per Gesetz die alleinige Autorität über die Gestaltung der Arbeitsbedingungen an AENA übertragen. Drastische Sanktionen für Verstöße gegen die Dienstpflicht wurden angedroht, da damit zu rechnen war, dass die Fluglotsen ihr größtes Druckmittel, den Bummelstreik (Dienst nach Vorschrift) anwenden würden.

Der Angriff steht im Zusammenhang des ständig wachsenden Luftverkehrs und seiner Bedeutung für den Tourismus; für 2012 ist zudem die Einführung des europäischen "Einheitsluftraums" geplant.


Privatsektor

Parallel zur Verordnung von Lohnsenkungen im Staatssektor betonte die Regierung, dass auch die Löhne im Privatsektor gesenkt werden müssen. Bereits im März 2009 wurde in den Autofabriken von Seat das Pilotprojekt "Lohnverzicht für Arbeitsplätzerhalt" mit zweijährigem Lohnstopp in Szene gesetzt (siehe Wildcat 86). Bei Renault wurde im September 2009 der Tarifvertrag für 2010-2013 mit einem Lohnstopp und einer Niedriglohnkategorie für Neuanfänger abgeschlossen, und wie üblich wurden dafür zwei neue Modelle und Arbeitsplatzsicherung versprochen. Bei Opel wurde im Oktober 2009 der Entlassung von 900 ArbeiterInnen und einer Senkung der Lohnkosten um 25,5 Millionen Euro zugestimmt. In den kleineren und mittleren Unternehmen, wo 90 Prozent der LohnempfängerInnen arbeiten, ist der Lohneinbruch deutlich stärker. Im Durchschnitt sind die Löhne im zweiten Quartal 2010 nominal um 0,4 Prozent gestiegen.


Streiks im Personentransport

Mehr als die Hälfte aller Langstreckenreisen im kollektiven Personentransport werden in Spanien im Autobus unternommen. Es ist die billigste Reisemöglichkeit. Fast die Hälfte der Kunden sind unter 30 Jahre alt, 18 Prozent sind über 65; mehr als 15 Prozent sind Immigranten. Während die Bahn Strecken stilllegt und die lukrativen Verbindungen mit den neuen Hochgeschwindigkeitszügen bedient, kommt man per Bus überall hin. Die 3800 Fuhrunternehmen haben über 80.000 Beschäftigte und setzen jährlich 3,8 Mrd. Euro um. In den letzten zehn Jahren hat ein rasanter Konzentrationsprozess eingesetzt und viel ausländisches Kapital kaufte sich ein.

Im April 2010 begann ein Konflikt beim Busunternehmen AUTO RES, einer Branchengröße mit 400 Beschäftigten, davon 270 Fahrern. Seit 2002 ist Auto Res mit 17 ehemaligen Familienunternehmen zur Gruppe AVANZA zusammengeschlossen, die im Dezember 2006 vom britischen Hedge-Fond Doughty Hanson gekauft wurde. AUTO RES beklagte einen Gewinnrückgang um 40 Prozent in den letzten drei Jahren und entließ 15 Wartungs- und ReinigungsarbeiterInnen. Außerdem kündigte sie weitere 130 Entlassungen an, teils wegen Auslagerung der Schalterdienste und der Telefonauskunft. Aufgaben der Entlassenen müssen nun die Fahrer nebenbei erledigen.

Ende Juni fordert die Firma eine jährliche Lohnsenkung von 2100 Euro, was durchschnittlich fünf Prozent entspräche, für die Fahrer aber sind es schon acht Prozent. Die Löhne liegen zwischen 1200 und 1450 Euro. Die Gewerkschaften in Spanien wollten drei Prozent akzeptieren im Tausch gegen Arbeitsplatzgarantien. Als die Firma das ablehnte, riefen sie zu Streiks zwischen dem 13. und 16. August auf, mitten im Urlaubsverkehr. Bis Anfang September folgten weitere sechs Streiktage. Die Mindestdienste im Umfang von 30 Prozent wurden geleistet. Trotz einer Lohneinbuße von 50 bis 70 Euro pro Streiktag beteiligte sich die gesamte Belegschaft.

Am 12. Oktober einigten sich die Gewerkschaften mit der Firmenleitung auf abgestufte Lohnkürzungen: 2010 monatlich 50 Euro weniger, 2011 nochmal 50 Euro im Monat weniger, dasselbe 2012. Dafür Arbeitsplatzgarantien bis 2015.

Seit dem 14. September haben die Beschäftigten der katalanischen Eisenbahn mit Streikaktionen gegen eine fünfprozentige Lohnkürzung begonnen. Bereits am zweiten Streiktag legten die Streikposten den Verkehr in den Morgenstunden komplett lahm und sabotierten damit die vorgeschriebenen Mindestdienste. Die Aktionen der Streikposten, die gleichzeitig an vielen Bahnhöfen auftauchten, gingen damit deutlich über die geplanten "informativen" Streikposten am Zentralbahnhof hinaus.


Militanz und Autonomie?

Unabhängig und gegen die Gewerkschaften begann eine Gruppe von Bergarbeitern eine Grubenbesetzung, um gegen ausstehende Löhne zu protestieren. Der Bergbau beschäftigt noch 8000 Leute, aber die EU will, dass der subventionierte Abbau bis spätestens 2014 geschlossen wird. Bis dahin garantiert die Regierung den Bergwerksunternehmen ihre Profite, indem sie den Elektrizitätserzeugern die Abnahme einheimischer Kohle für die Heizkraftwerke subventioniert.

Der Konflikt hat sich schnell auf andere Gruben ausgeweitet, mit militanten Flying Pickets, die täglich verschiedene Verkehrswege blockierten. Den Gewerkschaften UGT und CCOO blieb keine andere Wahl, als auf den Zug zu springen und Ende September vier Streiktage in allen Gruben auszurufen. Eine Gruppe von 250 Bergleuten hat die Tradition des "schwarzen Marsches" nach Madrid wiederbelebt. So weit brauchten sie allerdings nicht zu wandern. Am 28.9. waren die Subventionsbewilligungen durch. Die Löhne wurden ausgezahlt und die Aktionen beendet.

Die Konflikte haben bisher vor allem eine atmosphärische Veränderung hervorrufen. Die Bereitschaft, sich mit symbolischen Aktionen vor den Karren gewerkschaftlicher Kampagnen spannen zu lassen, scheint allerdings sehr begrenzt zu sein. Die Leute verlieren nicht gerne einen Tageslohn mit einer Aktion, die von vornherein als leere Geste der Gewerkschaften zu erkennen ist. Das war auch der Grund für die geringe Beteiligung am landesweiten Streik im Öffentlichen Dienst am 8. Juni.


Der gewerkschaftliche Generalstreik

Der Krisenangriff verläuft auf vielen Ebenen, aber die Arbeitsmarktreform und die angekündigte Rentenreform treffen besonders die gewerkschaftlichen "Stammkunden", und die Reform des Tarifsystems zielt unmittelbar auf die gewerkschaftliche Macht. Um die sozialistische Regierung nicht allzusehr in die Klemme zu bringen, positionieren sich die Gewerkschaften als Garanten einer linken Tradition der Sozialdemokratie gegen die neoliberalen Konzepte des "dritten Weges" à la New Labour und Schröderregierung. Man müsse die Prinzipien des (europäischen) Modells der Sozialpartnerschaft verteidigen und die nötigen Anpassungen "ausgewogen" gestalten. So erklärt sich das Leitmotiv des Aufrufs zum Generalstreik: "So nicht!", sprich "soooo nicht".

Im Vorfeld gab es starke Bedenken, ob die Gewerkschaften überhaupt in der Lage wären, genügend zu mobilisieren, damit die ganze Aktion nicht als offener Flop endet. Schließlich mussten die Leute auf einen Tageslohn verzichten, ohne dass eigentlich klar war, mit welchem Ziel man streikte. Schon die Tatsache, dass die Gewerkschaften durch die fast zweimonatige Mobilisierungsphase der Regierung Gelegenheit gaben, das Gesetz noch vor dem Streik zu verabschieden, machte deutlich, dass sie es gar nicht verhindern wollten. Als Streikziel gaben sie selber an, die Regierung müsse ihren Kurs korrigieren. Sie wollten also "präventiv" die Stoßrichtung weiterer Reformen beeinflussen und den ArbeiterInnen Gelegenheit geben, kontrolliert Dampf abzulassen.

Die Mehrheitsgewerkschaften riefen zu einem eintägigen und somit von vornherein symbolischen Streik auf. Die anarchosyndikalistische CGT und die separatistischen Gewerkschaften haben sich wie üblich dem Aufruf angeschlossen, mit Ausnahme der baskischen Gewerkschaften, die schon im Juli zum Streik aufgerufen hatten.

In der Industrie, und vor allem in den größeren Betrieben war der Ausstand fast total, was mit dem höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad zusammenhängt, aber auch mit der engen Verflechtung der Produktionsstrukturen. Außerdem sind die Betriebe leicht mit Verkehrsblockaden durch Flying Pickets lahmzulegen, weil sie sich in den Industriegebieten am Stadtrand konzentrieren. Zudem war die Versorgung der Betriebe durch den Ausfall der Transportdienste beeinträchtigt. Im Öffentlichen Dienst, einem weiteren Zentrum gewerkschaftlicher Organisierung, war die Beteiligung viel geringer als erwartet; der Ausfall des Schulunterrichts war mehr den fernbleibenden SchülerInnen als streikenden LehrerInnen geschuldet. Hoch war sie natürlich bei den Müllwerkern und im Personentransport. In Handel und Gastronomie wurde der Streikaufruf nur sehr beschränkt befolgt und der Druck von picketlines war nicht besonders spürbar. Der landesweite Stromverbrauch fiel um 15-16 Prozent, was immer noch über Sonntags-Nivau liegt. Beim letzten Generalstreik im Juni 2002 war er um 20-21 Prozent gesunken.


Umbrüche und Neuzusammensetzungen

Die Arbeitsmarktreform wurde als Kreuzzug gegen die "Privilegien" der unbefristet Beschäftigten in Großbetrieben und weiten Teilen der Öffentlichen Dienste ausgegeben. Die damit einhergehende Erosion der Staatsräson drückt sich unter anderem im schwer zu berechnenden Wahlverhalten aus, wodurch die politische Klasse zunehmend in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt wird. Die Gewerkschaften brauchen einen schnellen "Erfolg" und drängen seit dem Generalstreik darauf die Verhandlungen zur Änderung des Tarifwesens aufzunehmen. Sie haben bereits weitere "Aktionstage" für den Dezember angekündigt. Die Regierung hat nun das Arbeitsministerium gewerkschaftsnah neubesetzt und signalisiert größte Bereitschaft zu konzertierten Regelungen der weiteren Reformen. Die Beilegung des "Konfrontationskurses" ist die Bedingung dafür, dass die Regierung sich als arbeiternahe Alternative profilieren kann und die Gewerkschaften "im Stillen" die Umstrukturierung schmieren. Eine erneute Zuspitzung der Krise könnte dieser Politik schnell den Boden entziehen. Jenseits aller gewerkschaftlichen Inszenierungen ist eine reale Mobilisierung nur aus dem Zusammenhang der konkreten Konflikte in den Betrieben möglich. Die könnten allerdings schnell den vorgegebenen Rahmen sprengen. Die militanteren Kämpfe der letzten Jahre wurden überwiegend von den Belegschaften kleiner und mittlerer Industriebetriebe geführt. Es ging immer um Entlassungen und Betriebsschließungen, aber es waren keine reinen Abwehrkämpfe um den Erhalt der Arbeitsplätze. Vielen ArbeiterInnen ging es drum, die Abfindungen in die Höhe zu schrauben, und die Gelegenheit zum Ausstieg war nicht wenigen willkommen, zumal es leicht war, woanders anzufangen oder sich selbstständig zu machen. Auch unter den Älteren ergriffen nicht wenige gerne die Gelegenheit zur Frühverrentung. Diese Rechnungen gehen in der Krise und spätestens mit der Arbeitsmarktreform und der kommenden Rentenreform nicht mehr so einfach auf.

Die große Unbekannte ist, wann und wie sich die jüngeren Generationen zu Wort melden. Ihr soziales Terrain ist nicht der Betrieb, sondern die Straße, die Schule, die Clique und die digitale Metawelt. Es scheint, als sei ihr Desinteresse der Arbeit gegenüber so groß, dass sie es allemal vorziehen, den Job zu wechseln, als sich mit ihm und in ihm auseinanderzusetzen. Die andere Fluchtbewegung führt immer wieder in die Ausbildung, obwohl zusätzliche Qualifikationen kaum mehr die beruflichen Aussichten verbessern.


Randnotizen

Die Comisiones Obreras (CCOO; ehemals der kommunistischen Partei verbunden) und Unión General de Trabajadores (UGT; der sozialistischen Regierungspartei PSOE nahestehend) nahmen nach der Auflösung der Staatsgewerkschaften des Franco-Regimes deren Platz ein. Die CCOO entstanden in den Kämpfen der 60er Jahre in den Kohlebergwerken Asturiens. Im Gegensatz dazu spielte die bereits 1888 zusammen mit der PSOE gegründete UGT in der Opposition gegen Franco keine große Rolle. Der Prozess der "demokratischen Transformation" (Transición) bis 1982 endete mit der Institutionalisierung dieser Mehrheitsgewerkschaften und der Liquidierung der Arbeiterautonomie (Movimiento Asambleario). Die tiefe Verflechtung der Gewerkschaften mit dem Staat hat hier ihren Ausgangspunkt.

17-18 Prozent aller Beschäftigten sind gewerkschaftlich organisiert. Alle vier Jahre werden in den Betrieben mit mehr als fünf Beschäftigten die etwa 350.000 Delegierten aus 57 Gewerkschaften gewählt. An diesen Wahlen nehmen 75 Prozent der Wahlberechtigten (über 55 Prozent der Beschäftigten) teil und etwa 70 Prozent wählen CCOO oder UGT. Die Wahlergebnisse bilden die Grundlage für die Zusammensetzung der Betriebsräte, der Tarifkommissionen und etlicher anderer Gremien. Ebenso entscheiden sie über die jeweilige Höhe der staatlichen "Vergütung" für diese Leistungen. Die Mitgliedsbeiträge tragen nur symbolisch zur Finanzierung der Gewerkschaften bei. Die geforderte Tarifreform untergräbt die zentrale Position der Mehrheitsgewerkschaften im System institutioneller Repräsentanz.

Raute

Update aus Athen

Hoffnungen auf einen "heißen Herbst", der schon vorbei ist

Befriedungspolitik

Vor der Sommerpause sprach man von einem "heißen Herbst" der sozialen Kämpfe. Viele hofften auf eine automatische Explosion aufgrund zunehmender Verarmung und Arbeitslosigkeit. Manche begründen mit den unbestimmten Hoffnungen auf von selbst entstehende Kämpfe ihre eigene Apathie und das Fehlen kollektiver Strukturen. Erst jetzt, nach der Sommerpause, wird die wirtschaftliche Depression in Griechenland sichtbar. Bei der Organisierung von unten und im Klassenkampf ist aber sehr wenig in Gang gekommen.


Nationale Einheit

Die Parteilinke hatte schon im Sommer ihre Hoffnungen auf die Kommunal- und Regionalwahlen im November gerichtet, die sie als Volksabstimmung gegen die Sparmaßnahmen hochstilisierte. Mit diesem Versuch, zur Vertreterin der sozialen Wut und Perspektivlosigkeit zu werden, haben sie dazu beigetragen, die Kämpfe von der Straße weg zu holen. Der Premierminister hat die Leute zwei Wochen vor den Wahlen in einem Interview vor die Entscheidung gestellt: "Entweder wir gehen bankrott oder wir gehen voran". Somit hat die Regierung die Kommunalwahlen geschickt benutzt, um ihren Kurs des "Vorangehens" mit einer Ideologie der nationalen Einheit zu legitimieren. Der drohende Bankrott wird von Politikern und Unternehmern als Notstand für die "Existenz der Heimat" dargestellt, der alle Reformen rechtfertigt. Damit wollen sie Klassenkämpfen und möglichen Explosionen von unten vorbeugen, wenn sich die wirtschaftliche Situation und Verarmung weiter verschärfen. Als Trostpflaster hat die Regierung eine einmalige Zulage von 100 bis 300 Euro (je nach Einkommen) für die 500.000 RentnerInnen angekündigt. Ab 2011 sollen Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen die staatlichen Ausgaben und das Defizit weiter reduzieren.


Abwertung der Arbeit

Derweil brechen die Perspektiven der griechischen Wirtschaft und der versprochene Aufschwung weg: das Haushaltsdefizit musste mal wieder nach oben korrigiert werden, die Produktion geht weiter zurück, die ärmeren Konsumenten kaufen weniger ein. Gleichzeitig müssen sie denen an den Kragen. Offiziell ist die Arbeitslosigkeit zwischen August 2009 und August 2010 von 9 auf 12,2 Prozent gestiegen. Schätzungen gehen für 2011 von einer Million Erwerbslosen und einem weiteren Anstieg der Schwarzarbeit aus. Die Suche nach einem Job wird immer schwieriger, die wachsende Arbeitslosigkeit erzeugt eine billige Reserve disziplinierter Arbeitskräfte, die niedrigere Löhne und Prekarität in Kauf nehmen.

Bei 40 Prozent der neuen Arbeitsverträge im Privatsektor handelt es sich um Jobs mit flexiblen Arbeitsbedingungen. In den ersten neun Monaten dieses Jahres wuchs die Teilzeitarbeit um 11,9 Prozent, die Vollzeitbeschäftigung geht zurück; das liegt auch daran, dass bei immer mehr Vollzeitstellen die Arbeitszeit reduziert wird. Das Arbeitsamt subventioniert momentan 200.000 Vollzeitstellen für 12 Monate und bezuschusst weitere 400.000 Arbeitsplätze für 18 Monate. Es übernimmt für diese Stellen die vollen Versicherungsbeiträge bzw. zahlt dem Arbeitgeber das Arbeitslosengeld in Höhe von 454 Euro für alle Neuangestellten, die zuvor arbeitslos waren. Viele Arbeitgeber beeilen sich jetzt, diese Unterstützung zu beantragen, um die Arbeitskosten zu reduzieren und enttäuschte Arbeitslose einzustellen.

Der Staat organisiert so die kollektiven Interessen der Bosse, nicht zuletzt mit immer neuen Statistiken, die als Bedrohung für alle Beschäftigten wirken sollen. Die Bosse verlangen Arbeitsdisziplin als Folge des Notstands, um ihre nationale Wirtschaft vor dem Bankrott zu retten: Lohnkürzungen, sinkende Abfindungen, mehr Schwarzarbeit, niedrigeres Lohnniveau für Auszubildende und Jugendliche unter 25 Jahren. Arbeitsverhältnisse, die als Folge der Klassenniederlage in den letzten 20 Jahren inoffiziell auf dem Arbeitsmarkt schon weit verbreitet waren, sollen nun allgemein durchgesetzt werden. Die Klassenspaltung zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen, Männern und Frauen, Alten und Jugendlichen, Einheimischen und Einwanderern wird weitergetrieben. Dass die Möglichkeit von unterschiedlichen betrieblichen Tarifverträgen in der selben Branche ausgeweitet wird, ist nur ein Beispiel.


Globales Versuchskaninchen oder Nachzügler?

Viele stellen die aktuelle Situation Griechenlands als etwas weltweit Einzigartiges dar. Linke wie Rechte reden direkt oder indirekt von einer "Bedrohung der Heimat", die von den globalen Entscheidungszentren ausgehe. Das soll den eigenen Krisennationalismus verdecken und einen wichtigen Klassenfeind - das inländische Bankensystem - vor sozialer Wut schützen. Das Ausmaß der globalen Krise macht jedoch einen Strich durch diese patriotischen Verschwörungstheorien. Viele andere Staaten und sogar Großmächte sind ebenfalls heftig von der Weltwirtschaftskrise betroffen und ziehen strenge Sparmaßnahmen durch. Einige Länder haben schon vor Jahren die für das Kapital notwendigen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft durchgeführt - in Griechenland erleben wir das erst jetzt, und die griechischen Bosse werden die ersten sein, die von den staatlichen Reformen und der Umstrukturierung der Produktion profitieren.

Zur Zeit versuchen alle Staaten, ihre größten Banken zu retten; gleichzeitig werden Konkurrenz, Handels- und Währungskriege zwischen den Staaten bzw. den Blöcken schärfer. Als Mitglied der Euro-Zone kann sich Griechenland nicht selber am Wettlauf zur Abwertung der nationalen Währung beteiligen, um international konkurrenzfähiger zu werden. Deshalb muss die Lohnarbeit direkt abgewertet werden. Das ist eine weltweite Tendenz und die wichtigste Waffe im Angriff auf die Klasse.

Einige linke Experten und Parteien (KKE) schlagen ein Schuldenmoratorium oder einen Austritt aus dem Euro vor. Der Eintritt in die Eurozone war ein strategischer Schritt des griechischen Kapitals, um seine politische und finanzielle Position im Balkan und in Südosteuropa zu stärken. Durch den Euro wurden die griechischen Banken und ihre Töchter in diesen Ländern mit schwachen Währungen noch stärker. Vielleicht bringt heute ein Austritt aus dem Euro den Kapitalisten Vorteile, aber das macht diesen Schritt auf keinen Fall sozial gerechter. Die griechischen Bosse wollen konkurrenzfähiger werden und ausländische Investitionen anziehen. Arbeit und das fixe Kapital würden noch billiger, Exporte und Einnahmen aus dem Tourismus steigen.

Die Lohnabhängigen aber würden nur einen (in Drachmen) schlechtbezahlten Job gewinnen. Das Verlassen des Euro ist womöglich ein Mittel für die Rettung der nationalen Wirtschaft, aber keine praktische Lösung für die Klasse. Das ist das Problem der Mittelschichten! Eine radikale Klassenpolitik braucht sich nicht für die eine oder die andere "Währungslösung" zu entscheiden. Sie muss auf dem Feld der täglichen Arbeit unsere grundsätzlichen Interesse unabhängig von diesen Fallen verteidigen und dafür kämpfen.


Linker Mikrokosmos

Die anarchistische/antiautoritäre Szene beschäftigt sich weniger mit der "sozialen Frage" als mit Solidarität, Repression, Gefangenen und einem historisch überholten bewaffneten Kampf. Dieser Mikrokosmos bleibt leider für viele Jugendliche noch attraktiv. Zwei Jahre nach dem Aufstand vom Dezember 2008 und einer vorübergehenden Begeisterung bleibt die Mehrheit der Leute individualisiert und genießt bzw. konsumiert lediglich eine nächtliche Geselligkeit im kleinen "Ghetto" des Athener Stadtteils Exarchia.

Meine Parole wäre erstmal "Übt euch in Solidarität!" und nicht "Bildet politische Strukturen!" Wir brauchen Gruppen oder Versammlungen, zuverlässige, verantwortliche und dauerhafte Strukturen, die diskutieren, analysieren und Aktionen organisieren, und die sich nach einer Solidemo oder einem Streik nicht gleich auflösen. Immerhin gibt es ein paar politische Gruppen und Versammlungen, die sich seit Jahren mit der Krise und einer klassenorientierten Politik beschäftigen.


EisenbahnerInnen gegen Buskonsortien und LKW-Besitzer: antagonistische Interessen

Ende Oktober haben die Eisenbahner drei Tage lang gegen das Sanierungsgesetz gestreikt. Dann wurde der Streik abgebrochen. Bis jetzt ist unklar, wie es weiter geht.

Die griechische Eisenbahn (OSE) fährt täglich 2,2 Millionen Euro Verlust ein; sie hat Gesamtschulden von 10,7 Mrd. Euro. Mit der geplanten Privatisierung der Tochterfirma TRAINOSE(1) und dem Verkauf von 49 Prozent soll der Investor das Management übernehmen. Von den jetzt 6000 Beschäftigten im Konzern sollen nur 3670 übrigbleiben, 2300 werden in andere Bereiche des Öffentlichen Dienstes versetzt, 1000 werden verrentet. Damit sollen die Lohnkosten um etwa die Hälfte sinken. Die Sanierungsmaßnahmen für 2011-13 sehen die Stilllegung von wenig benutzten Strecken und eine Verdopplung bis Verdreifachung der Ticketpreise vor.(2) Tarifverhandlungen sollen nur noch einen Monat dauern.

Die griechische Bahn fährt auf einem Schienennetz, das zwischen 1890 und 1920 gebaut wurde. Im Unterschied zu anderen EU-Ländern wurde in den letzten Jahrzehnten kaum investiert - trotz der Möglichkeit einer EU-Finanzierung zur Entwicklung und Modernisierung der griechischen Bahn. Denn die Eisenbahn hatte immer zwei Rivalen: die privaten Überlandbuskonsortien (KTEL) und die LKW-Besitzer. Die einen transportieren Personen, die anderen Güter. Die Fahrt mit dem Zug dauerte immer länger als mit dem Bus, besonders nach der Modernisierung der Busse und dem Bau einiger Autobahnen seit den '90er Jahren. 80 Prozent des Personenverkehrs entfallen auf den Überlandbus; die restlichen 20 teilen sich Flugzeug und Bahn.

Die Buskonsortien wurden 1952 gegründet und transportieren Personen und kleine Pakete im ganzen Land. Die ersten Konzessionen gingen an die "Sieger im Bürgerkrieg". So bezahlte der antikommunistische Staat der '50er Jahre seine Anhänger. Die Konsortien hatten immer gute Beziehungen zum Staatsapparat und zur OSE-Verwaltung. Ihr Druck auf lokaler Ebene und ihre Lobbyarbeit haben zur Stagnation und Unterentwicklung der regionalen Eisenbahn geführt. Der Vorsitzende des KTEL-Konsortiums behauptete angesichts der Privatisierung der Bahn: "Wir haben keine Budgetdefizite und wir streiken nie".

Die Proteste und Mobilisierungen der Eisenbahner Ende Oktober riefen die traditionellen Saboteure und Feinde eines öffentlichen Verkehrsmittels wie der Bahn auf den Plan. Die Interessen der Eisenbahner haben nichts mit denen der LKW-Eigentümer/Bosse gemein, sie können nur gemeinsam mit den Arbeitern in der Transportbranche kämpfen. Es ist kein Kampf für die Nationalökonomie. Die modische Rhetorik gegen den IWF und ausländische Investoren würde in die sichere Niederlage führen. Historisch haben die Mobilisierungen der Eisenbahner auf aller Welt die Klassenkämpfe geprägt. Nichts zu erwarten haben wir von der Befriedungspolitik des Gewerkschaftsbundes GSEE. Sie haben in diesem Herbst nicht zum Generalstreik aufzurufen, sondern nur zu einem rituellen Streik gegen mögliche neue Maßnahmen am 15. Dezember wenn der Haushalt für 2011 verabschiedet wird.

Dimitris, 10. November 2010


Anmerkungen

1) Die andere Tochter GAIAOSE verwaltet die Immobilien wie Bahnhöfe, Grundstücke, Lager usw.; die Tochter ERGOSE baut und modernisiert Strecken und Anlagen; die Tochter EDISY verwaltet das Streckennetz.

2) In Griechenland sind Bahnfahrkarten billiger als Bustickets, im größten Teil des Verkehrnetzes sind Busse schneller und bequemer - nicht nur aufgrund der Topographie Griechenlands, sondern auch wegen der Unterentwicklung der Bahn. Eine Ausnahme stellt die modernisierte 500 Km lange Strecke Athen-Thessaloniki dar.


Randnotiz

In der wildcat 87 hatten wir einen Auszug aus dem Text "Wir sind ein Bild der Zukunft" von Les Habitants de la Lune veröffentlicht und besprochen. Der gesamte Text und viele andere sind mittlerweile auf deutsch erschienen: Wir sind ein Bild der Zukunft - auf der Straße schreiben wir Geschichte. LAIKA-Verlag 2010.

Raute

Am 30. Oktober fand in Berlin-Kreuzberg eine Großveranstaltung statt: "Klasse und Krise - Wie geht es weiter?". Der Referent Robert Kurz setzte weiterhin auf die Krise, er erwartet in absehbarer Zeit eine neue, weltweite. Die Referentin Stefanie Hürtgen sah aufgrund der anhaltenden Prekarisierungstendenzen keinen kollektiven Widerstand von der Arbeit ausgehen, und die Linke sei noch schwächer als vor der Krise.

Am Tag danach traf sich wenige Meter weiter im "Kartoffel-Café" ein Teil der internationalen Allmende-Konferenz mit Vertretern der "Nicht-kommerziellen Landwirtschaft 'Karlshof'". Helmut Höge dürfte als einziger bei beiden Treffen gewesen sein. Er schrieb darüber in der Jungen Welt vom 2. November:

"... diese "Commonismus"-Diskussion am Sonntag [war] die Antwort auf die Debatte am Samstag, insofern sie zum einen Marx' Forderung einlöste, das zu denken, was nach dem Kapitalismus kommt, und zum anderen, indem sie implizit die Idee einer weiteren großen Geschichte zurückwies, in der die Teilnehmer nur noch für den Weltgeist die Kastanien aus dem Feuer holen müssen. ... Im CommonsBlog heißt es an einer Stelle: "Die Idee der Commons ist besser ausgedrückt mit dem 'commoning', also nicht mit einem Subjekt, sondern mit einem Verb." ... Das Verb stammt von dem Historiker Peter Linebaugh...

Ähnliche Experimente finden derzeit in Rumänien, der Ukraine und Polen statt. wobei das polnische Netzwerk "krytyka polityczna" sich bereits zu einer halben sozialen Bewegung entwickelt hat... Es besteht also kein Grund zum Pessimismus, auch wenn das, wogegen man kämpft, scheußlich ist."


*


Commons, Common Wealth, Commonismus...

Heiße Kartoffel

Der letzte BUKO hatte die Commons als Schwerpunkt; analyse&kritik schreibt seit einem Jahr fast kontinuierlich zum Thema; Negri/Hardts letztes Buch heißt Common Wealth; die Ökonux-Szene bezieht sich verstärkt auf die Commons; Eleonore Ostrom bekam für ihre Forschungen zu "Allmendestrukturen" den Nobelpreis; viele andere bürgerliche Gruppierungen hoffen angesichts der (finanziellen) Krise der Kommunen auf (günstigere) Lösungen jenseits des Sozialstaats.

Andererseits gibt es Suchbewegungen von unten, die Rohstoffengpässe, Nahrungsmittelkrisen, "Klimakatastrophe" und soziale Polarisierung einerseits, Kämpfe gegen Privatisierung, Bürgerentscheide um öffentliche Güter wie Wasser und Verkehr, urban gardening, Tauschläden, Umsonst-Kampagnen, Wohnprojekte andererseits in einen globalen Zusammenhang zu stellen versuchen.

Die Kämpfe der letzten Jahre blieben auf den (Sozial-)Staat und seine Institutionen bezogen: Arbeitskämpfe gegen Betriebsschließungen blieben im Tarifrecht und der gewerkschaftlichen Repräsentanz gefangen; Mobilisierungen gegen Hartz IV in der Forderung auf staatliches Mindesteinkommen; die Bewegung gegen die Globalisierung in ihrer Kritik am "Neoliberalismus".

Es ist dringend angesagt, auf allen Ebenen Organisations- und Vergemeinschaftungsformen jenseits vom Staat und seinen Institutionen zu entwickeln. Wie können wir rauskriegen, ob das in den aktuellen Bewegungen bereits passiert? Wie können wir dabei helfen, solche Prozesse anzuschieben?


*


Biedermeier oder Vormärz!?

Die globale Krise ist das Ende einer Konstellation, die in der long depression im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entstanden und in den Kämpfen der 60er und 70er Jahre des 20.Jahrhunderts heftig erschüttert worden war. Wie erleben wir die aktuelle Lage: als Biedermeier oder als Vormärz? Als Phase nach einer niedergeschlagenen Revolution, oder als vor-revolutionäre Etappe?

Gibt es heute Verbindungen zwischen der Ausweitung prekärer Arbeit, den Kämpfen in den "neuen Arbeitsbedingungen" oder gegen Betriebsschließungen einerseits und den Projekten und Diskussionen um die Commons andererseits? Bzw. wie sehen diese Verbindungen aus?

Mit einem Blick zurück lässt sich unsere Fragestellung vielleicht klarmachen: Ohne die "Hippie"-Kritik am Konsum hätte es die Neuzusammensetzung des Massenarbeiters in den Kämpfen der 1960er/70er Jahren so nicht gegeben. Der Kampf gegen die Arbeit hätte ohne die Vorstellung (und gelebte Praxis) von einem "anderen Leben" weniger Schlagkraft gehabt. Eine Kritik an den Hippies, wie sie FJ Degenhardt, die DKP und alle K-Gruppen damals vortrugen, sie würden sich nur um ihren eigenen "bemalten Bauch" kümmern, ging am Klasseninhalt dieser Bewegung vorbei.

Um die heutige Situation einzuschätzen, haben wir uns drei Sachen vorgenommen:

- genauer gucken, was diese Bewegung real (aus-)macht
- ihre historischen Bezüge aufhellen
- die theoretische Auseinandersetzung führen

Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Jörg van Essen, versuchte mit einem historischen Vergleich, die Proteste gegen Stuttgart21 anzugreifen: "Viele wissen nicht, dass der Weg zur ersten Eisenbahn außerordentlich schwierig war, denn die Bürger fühlten sich in ihrer Biedermeieridylle gestört" (Süddeutsche Zeitung 2./3.10.2010). Das Biedermeier war die Phase in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach dem Sieg der Reaktion über die französische Revolution, in der sich das Bürgertum in die private Idylle zurückzog. Aus der Perspektive der 1848er Revolution wird diese Zeit aber zum (absolut spannenden!) "Vormärz". Wer hat nun recht? Verteidigen die vielen Leute auf der Straße, in Berlin, im Wendland, in Stuttgart nur ihre Nischen? Oder enthalten die Kämpfe gegen die Privatisierungs- und Energiepolitik neue Ansätze, die genau die Einsperrung in Privat(sphäre) und Staat(spolitik) aufbrechen und überwinden? Und wenn ja: drückt die Commons-Debatte diese neuen Ansätze aus oder fängt sie sie wieder ein?

Um bei der Stuttgarter Bewegung zu bleiben: aus den Versuchen der staatlichen Umklammerung wird nur rauszukommen sein, wenn nicht auf Wahlen/Abstimmungen geschielt, sondern eine soziale Ausweitung versucht wird. Wenn es gelingt, den allgemeinen "Frust auf die da oben" in gemeinsames Handeln gegen die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse, die Verdichtung der Arbeit... zu verwandeln.


Theoretisch...

­...machen die open source-Aktivisten mit ihrer Unterscheidung von Informationen und anderen Waren einen klassischen Fehler: sie unterstellen, dass das Eigentum an materiellen Gütern kein den Gütern äußerliches soziales Verhältnis ist, sondern ihrer "Natur" entspreche. Eigentum ist ein Verhältnis zwischen Menschen, nicht zwischen Dingen und Menschen. Es hat den gleichen ausschließenden Charakter, egal ob es um materielle oder immaterielle Güter geht. Aber ist das ein Kardinalfehler, der geradezu den "Erfolg" der open source-Bewegung erklärt? Sie verträgt sich jedenfalls bestens mit der IT-Branche, die weiterhin nach altbekannten Prinzipien der privaten Ausnutzung von Erfindungen gedeiht. Oder ist es ein nebensächlicher Fehler? Denn auch hier sind Aktivisten, Theoretikerinnen und "Bewegung" erstmal nicht dieselben. Einige "machen", andere "theoretisieren"; ohne klare Trennungen, aber auch ohne deutlichen Bezug aufeinander.

Es gibt keine einheitlichen theoretischen Bezüge; wichtig ist aber die aus dem Postoperaismus in den letzten zehn Jahren entstandene Theoretisierung der Commons (s.o. Höges Bezug auf Linebaugh). Die GenossInnen der englischen Zeitschrift Aufheben decken in ihrer Rezension die politischen Schwächen dieses Konzepts auf: Der Kapitalismus wird als Marktgesellschaft verstanden, die eigene politische Praxis deshalb als Verhalten auf dem Markt gefasst. Da sind diesmal sogar Negri&Hardt radikaler und sprechen vom Common, aber ihr Optimismus schießt wieder über alle Grenzen hinaus: das Common habe bereits einen gemeinschaftlichen Reichtum, ein gemeinschaftliches Tun, das wir nur noch befreien müssen.

Die Diskussion spaltet sich also schon am Wort: Common oder Commons? Commons sind ein Container für alle möglichen Arten von Widerstand und Kämpfen gegen die "Marktgesetze". Historische Bezüge zum Beispiel auf die Allmende sollen Kontinuität und Möglichkeit von Alternativen zu Markt und Staat belegen. Aber gerade hier sind die Debatten und praktischen Initiativen oft am widersprüchlichsten. Die Gründe dafür arbeitet Aufheben in der Kritik an De Angelis heraus (s.u.).

Deshalb sprechen andere von the common, dem Gemeinsamen, das sie als Klassenkonzept und -praxis betonen, also vorgeblich aus der Arbeit entwickeln (Hardt/Negri sind die bekanntesten Vertreter). Die "immaterielle Arbeit", die Produktion von Kommunikation und sozialen Beziehungen wird als Ergebnis der Klassenkämpfe der letzten Jahrzehnte und aktuelle historische Tendenz des Gemeinsamen, als "kommunistische Tendenz" verstanden.

Kritik und theoretische Auseinandersetzung ist also nötig, damit die Ambivalenz der neuen Ansätze nicht über solche Theorien schwuppdiwupp wieder in Richtung Parteien, Staat und EU (wie im Falle Negris) aufgelöst wird. Diese Debatte wollen wir im folgenden mit der Zusammenfassung des Aufheben-Textes und der Kritik an Commonwealth beginnen.


Historische Rückbezüge...

­...sollen die politischen Lücken füllen. Die Idealisierung der mittelalterlichen Allmende oder der südamerikanischen Ayllus soll die "Alternative" einer anderen Gesellschaftlichkeit aufzeigen, ohne dass man sich theoretisch groß einen Kopf machen müsste. Wenn dermaßen die eigene Nische als "Systemalternative" aufgepeppt wird, geraten ganz schnell die konkreten sozialen Verhältnisse und vor allem die Menschen aus dem Blick. Die Allmenden, Ayllus usw. entwickelten sich unter ganz anderen Produktionsbedingungen und sozialen Verhältnissen. Und sie waren nur halb so gemeinschaftlich, wie oft angenommen wird. (siehe den folgenden Beitrag zu den Allmenden)


Soziale Bezüge...

­...müssten wir selber aufzeigen können, indem wir "vom Tun" ausgehen. Kommen die Leute in den Bewegungen zusammen? Fließen durch die Dynamik der Krise bisher nebeneinander laufende Debatten zusammen? Werden Lösungen gesucht und ausprobiert, die über den eigenen Teller-/Szene-Rand hinausgehen? Hilft die Thematisierung der Commons dabei? Zeigen die Commons eine neue Dynamik zwischen (Klassen-)Kämpfen und "eingreifender" Gruppe auf, die z.B. weit über das "Vermitteln von Bewusstsein" rausgeht? Sind die Commons Infrastruktur für den Kampf - oder "Freiraum" für den Rückzug, Projekte einer privilegierten Linken, die letztlich nur ihr selber nutzen? Neue Formen der Vermassung sozialer Reproduktion oder Ansätze einer neuen Alternativökonomie? Werden die aktuellen Erfahrungen privatisiert, oder können sie mit-geteilt werden?

Viele Fragen. Für die nächste Wildcat planen wir deshalb einen Schwerpunkt zum Thema.


BUKO:
Bundeskoordination Internationalismus; entstanden aus der internationalen Solidaritätsbewegung der 1970er Jahre. Der jährliche Kongress ist seit Mitte der 1990er Jahre zu einem der wenigen regelmäßigen Treffpunkte der radikalen Linken geworden, ein Wochenende, an dem um die 500 Leute aktuelle Themen und Mobilisierungen bearbeiten.

Raute

Was war die Allmende?

Gab es historisch ein "Gemeinschaftseigentum" als moralische und antagonistische Konstante gegen Privateigentum und Herrschaft?

War die "Allmende" eine kollektive oder zumindest kooperative Produktionsform?

In der Diskussion um die "Commons" suchen viele nach Analogien für eine andere Wirtschaftsweise in der Vergangenheit, um dem anonymen und zerstörerischen Markt eine geschichtliche Konstante der Menschlichkeit und Kooperation entgegenzusetzen. Dabei taucht immer wieder der Begriff "Allmende" auf.

Auch Karl Marx und Friedrich Engels haben sich in der Deutschen Ideologie auf Forschungen konservativer Rechtshistoriker bezogen, die in der Diskussion um die endgültige Privatisierung der Landwirtschaft Ende des 18. Jahrhunderts schriftliche Quellen des Mittelalters über die Allmendverfassung in die Vergangenheit verlängerten und dem "römischen" Liberalismus ein "germanisches Gemeineigentum" gegenüberstellten. E.P. Thompson beschäftigt sich in The Making of the English Working Class auch mit den Landarbeitern und dem Entzug der Allmendrechte durch die Einhegungen, die die "Zusammenkratz-Subsistenzwirtschaft der Armen" zerstörten: er stellt dar, wie sich die Dorf-Armen noch lange auf diese "alten Rechte" berufen haben, als sie in der Wirklichkeit der kapitalistischen Landwirtschaft schon keinen Platz mehr hatten. Er beschäftigt sich dagegen nicht mit der tatsächlichen Funktionsweise der mittelalterlichen Allmendwirtschaft.

Die heute übliche Verwendung des Begriffs "Allmende" ist insofern irreführend, als sie ein Element (nämlich das genossenschaftliche) der hochmittelalterlichen Agrarverfassung herausgreift und zum "gemeinsamen Acker" oder "öffentlichen Wald" verdinglicht. Die "Genossenschaft" wird als konstitutiv für die "Dorfgemeinschaft" gesetzt und damit eine dem Markt oder den feudalen Grundherren entgegengesetzte Gemeinschaft suggeriert. Das ist so ähnlich, als würden wir den heutigen Sozialstaat, öffentliche Spielplätze oder kommunale Verwaltung als dem Markt und dem Staat entgegengesetzte Sphären betrachten. Aber so, wie es heute Mechanismen gibt, um für einen Teil der Arbeitskräfte eine auf den Arbeitsmarkt bezogene Reproduktion sicherzustellen, kannte die mittelalterliche Wirtschaftsverfassung vergleichbare Mechanismen. In diesem Zusammenhang ist die Allmendwirtschaft zu betrachten.

Im allgemeinen Sprachgebrauch beinhaltet der Begriff der Allmende sowohl das "Allmendland" als auch die "Allmendrechte". Die Nutzung des Allmendlandes war durch die Dorfgemeinschaft geregelt. Die Allmendrechte gestanden einzelnen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft die Nutzung der Ressourcen des Dorfes zu - Weide-, Holz-, Jagd- und Fischereirechte usw. Daneben gab es aber auch die Pflichten gegenüber der Dorfgemeinschaft, so etwa den Zwang zur Koordinierung der ackerbaulichen Tätigkeiten, die an sich individuell betrieben wurden (Flurzwang auf der einen und z.B. die Akzeptanz des Rechts zur Ährennachlese auf den Ackern für die Armen des Dorfes auf der anderen Seite).

Die Allmendwirtschaft war kein Rest einer tradierten gemeinschaftlichen Produktionsform, wie die Mythen des 19. Jahrhunderts besagten; der "eigentliche" Feudalismus des Frühmittelalters beruhte einerseits auf der Anmaßung der sich etablierenden Herrschaft, sich einen Teil des Produktes der vereinzelten, auf die eigene Subsistenz hin arbeitenden Hofstellen anzueignen - im Idealfall als Gegenleistung für die Bereitstellung von Saatgut, Zuchttieren und militärischem Schutz. Andererseits betrieben Grundherren und Klöster Gutswirtschaften mit persönlich unfreien und fronpflichtigen "Hörigen", die die produktiven Kerne der Feudalwirtschaft darstellten. Diese sogenannten Villikationsverbände oder die Grangien (räumlich zersplitterte, jeweils spezialisierte Wirtschaftseinheiten der Zisterzienserklöster) produzierten von vornherein nicht nur für ihren eigenen Lebensunterhalt, sondern erwirtschafteten ein Mehrprodukt zum Unterhalt der Zentren.

Ab dem 9. Jahrhundert geriet dieses Wirtschaftssystem in eine Krise, und die Eigenwirtschaften der Grundherren lösten sich langsam auf; das Land wurde zunehmend von Bauernwirtschaften übernommen und die Feudalrente von persönlichen Sach- und Arbeitsleistungen auf eine landbezogene Geldrente umgestellt (auch da, wo es noch Arbeitsverpflichtungen gab, konnten diese durch Geldzahlungen zur Bezahlung von Lohnarbeitern oder durch Bereitstellung der Arbeitskraft von Hintersassen der Bauern abgegolten werden). Mit einer Mischung aus Zwang und Angebot wurde die soziale Differenzierung vorangetrieben; den Chancen, selbstständig und erfolgreich wirtschaften zu können, stand die drückende Last gegenüber, sein Getreide nicht mehr selber, sondern nur gegen horrende Gebühren in der Wassermühle mahlen zu dürfen. "Eigentum" war noch stärker als heute über Nutzungsrechte definiert: Dem Bauern wurde vom Grundherrn Land zu einer bestimmten Nutzung überlassen - wenn er die nicht einhielt, fiel sein Recht auf das Land an den Grundherrn zurück.

Der sozialen Differenzierung stand eine Homogenisierung eines Teils der Bauernschaft gegenüber; neben einem "breiten bäuerlichen Mittelstand" entstand eine breite Schicht landarmer und -loser Landbevölkerung, die in rechtlich unterschiedlicher Position als Klein(st)bauern nicht mehr von ihrer Landwirtschaft leben konnten und auf zusätzliche Lohnarbeit angewiesen waren.

Die Geldwirtschaft ging mit einer Umstellung der Produktionsweise einher: Hatten die selbstständigen Bauern des Frühmittelalters noch überwiegend von extensiver Viehwirtschaft und Feldgraswirtschaft gelebt, so wurde die Viehhaltung zur Lebensmittelproduktion, soweit es ging, eingestellt und der Getreideanbau intensiviert; Eisenpflüge und andere neue Gerätschaften konnten nicht mehr selber hergestellt und mussten gekauft werden - Kapital war erforderlich, das wieder eingespielt werden musste. Aus diesem Grund waren die Bauern gezwungen in Dörfern statt wie bisher in Einzelhöfen zu leben und miteinander zu kooperieren, um die für die Düngung erforderliche Viehweidung auf den Brachen der neuen Dreifelderwirtschaft zu ermöglichen, sowie die Verluste an nutzbarer Ackerfläche gering zu halten.

Der Grund für die genossenschaftliche Verfassung im Ackerbau und der Viehhaltung war keine gemeinschaftliche Moral, sondern die Erfordernisse der intensivierten Getreidewirtschaft. Sie erforderte neben der Kooperation der Landbesitzer zu bestimmten Zeiten (vor allem Ernte und Drusch) den Einsatz vieler Arbeitskräfte - Menschen, die der einzelne Bauer nicht das ganze Jahr über beschäftigen konnte. In diesem Zusammenhang bildete sich auf dem Land Lohnarbeit heraus - reine Lohnarbeit, meist aber Mischformen: Hintersassen der Bauern, die zu Tagelohn in den landwirtschaftlichen Saisons verpflichtet waren, oder bezahlte Fronarbeit. Das Überleben dieser Leute konnte nicht der einzelne Bauer sichern, dazu gab es neben der Armenfürsorge der Kirche, saisonaler Migration usw. eine kommunale Organisation, die Allmendrechte des Dorfes für die Armen: das Recht auf die Ährenlese nach der Ernte, das Recht, ein kleines Vieh auf der Dorfwiese zu weiden usw.

Die politische Institution, die die verschiedenen Einzelinteressen der bäuerlichen Produzenten vermitteln musste, war das Dorf mit seiner Dorfversammlung. Geschaffen wurde es im Hochmittelalter als Gegenpol zur Stadt. Die Dorfversammlung als "politisches Organ" der Allmendverfassung koordinierte die Produktion und hatte in einem gewissen Rahmen auch Gerichtskompetenzen. Wer dort wieviel Stimmrecht hatte, war immer wieder umstritten; grundsätzlich war Landbesitz eine Voraussetzung, aber der dicke Bauer hatte ein stärkeres Stimmgewicht als der dünne. Wie sollte es sich aber mit Landbesitzern verhalten, die ihren Wirtschaftsmittelpunkt als Gewerbetreibende in der Stadt oder als Adelige auf ihrem weit entferntem Gut hatten? Sollten Kleinstbauern Stimmrecht haben, die nur eine schiefe Hütte auf dem Land eines größeren Bauern hatten? Soweit sich über Gerichtsakten Konflikte in und um die Allmende nachvollziehen lassen, ging es in den meisten Fällen um die geschäftlichen Interessen der Beteiligten; Grundherren, die zunehmend vor allem Waldrechte ausschließlich für sich beanspruchten, um das Holz für industrielle Unternehmungen wie Bergbau und Salzgewinnung zu verkaufen; Bauern, die Holz in die Städte verkauften oder nur als Strohmänner für Bürger fungierten, die auf diesem Weg Schlachtvieh auf den Allmendflächen weiden konnten u.a.

Das Dorf verwaltete die Arbeitskraft: Positiv durch das Angebot bestimmter Rechte, um das Überleben zu sichern; negativ durch Niederlassungsverbote, Pflicht zur Saisonlohnarbeit im Gegenzug für Wohnrecht, Durchsetzung der Begrenzung von Löhnen usw.

Im Gegensatz zu den gängigen Vorstellungen einer "organischen" Entwicklung war die Herausbildung der Allmendwirtschaft von Brüchen und Diskontinuitäten gekennzeichnet. Es gibt nicht einmal eine Siedlungskontinuität, sondern große Wellen der Besiedelung: die Ausbauperiode des Deutschen Reichsgebiets (Rodung und Besiedlung z.B. der Mittelgebirgs- und Küstengebiete), die "Ostsiedlung" des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts, die Neubesiedelung nach den großflächigen Wüstungen des Spätmittelalters. Der Siedlungsprozess war nicht spontan und selbst organisiert die Grundherren organisierten ihn und legten die Siedlungsstruktur und die rechtliche Verfassung fest: "Ein Beispiel geplanter Stadt-Land-Verbindung bietet die Gründung von Leipzig. Es bekam Stadtrecht, gerade als die Dörfer, die im Bannforst aus wilder Wurzel gegründet waren, ihre ersten Ernten von den Äckern einbrachten. "Zwischen Stadtgründung und Dorfrodung besteht ein ursächlicher Zusammenhang, (...) Stadt und Land scheinen aufeinander abgestimmt, als natürliche Einheit geplant", zitiert der Wirtschaftshistoriker Wilhelm Abel den Kollegen H. Quirin.

Die große Agrardepression, d.h. die Krise der spätmittelalterlichen Gesellschaft, war bereits keine Krise des Feudalismus mehr, sondern eine der Marktwirtschaft; sie lässt sich allein weder durch kurzfristige Klimaänderungen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, noch durch eine Geldkrise durch den Zufluss von Silber und darauf folgende Inflation erklären, wie es einige Historiker versuchten.

Dass Klimaschwankungen kurzfristig ganze Ernten vernichten und Hungersnöte mit verheerenden Epidemien hervorrufen konnten, lag an der fast ausschließlichen Ausrichtung der Ernährung auf den wetteranfälligen Getreideanbau. Dass die Hungersnöte zu Arbeitskräfteknappheit und Lohnsteigerungen zu einer Krise der gesellschaftlichen Verfassung führen konnten, lag an der spezifischen Produktionsweise der Getreidewirtschaft. Dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung und der Ressourcenbedarf für die nichtlandwirtschaftliche Produktion zu Verteilungskämpfen um die Ressourcen (z.B. Holz) führte, deren unmittelbarer Verlierer die besitzlose Landbevölkerung war, hatte nichts mit der Unfähigkeit dieser Menschen zu tun, gemeinschaftlich zu wirtschaften, wie es die These von der "Tragik der Allmende" behauptet, sondern damit, dass eine Produktionsweise an äußere und innere Grenzen stieß.

Die Agrardepression führte in einigen Regionen zur teilweisen Aufgabe des Getreideanbaus und Rückkehr zur Viehwirtschaft; die marktwirtschaftlichen Beziehungen zu den Städten wurden dadurch aber nicht gekappt. Auch die Viehwirtschaft war zum großen Teil kommerziell bestimmt und beruhte auf veränderten Ernährungsgewohnheiten und Wohlstand in den Städten. Ein Viertel der Dörfer und des Landes fiel wüst.

Ab etwa 1450 zogen die Getreidepreise wieder an, es gab eine neue Welle von Siedlungsgründungen und -vergrößerungen, bei geänderter Siedlungsstruktur. Die Siedlungen verdichteten und der Landbesitz konzentrierte sich. In dieser Zeit entstanden viele "alte deutscher Haufendörfer mit Gewannverfassung und Allmende". Dabei änderte sich auch die Nutzungsweise der Allmende. Die Herauslösung und Aufteilung von Land aus der Allmendverfassung, das für den Ackerbau genutzt wurde, durch die Mitglieder der Dorfversammlung und eine Ausweitung der Allmendflächen für eine extensive Viehweidung konnten gleichzeitig stattfinden.

Am Ende der Depression waren viele Bauern und auch die Grundherren hoffnungslos verschuldet einer der Gründe der Bauernerhebungen von 1525 war diese hohe Verschuldung der an sich relativ wohlhabenden Bauern Süddeutschlands. Trotz der militärischen Niederlage konnten die dortigen ländlichen und städtischen Eliten eine relative Verbesserung ihrer Lage erreichen. In Ostelbien und Schleswig-Holstein ermöglichte erst die Einrichtung und Durchsetzung der Leibeigenschaft die Lösung der Krise auf Kosten der dortigen Bauern. In der neuen europäischen Arbeitsteilung wurde der Osten zur Kornkammer, deren Produkte zu den kontinentalen Hafenstädten verschifft wurde, im "Altsiedelland" Süddeutschland und Rheinland wurden zunehmend kommerzielle Dauerkulturen wie Wein angebaut oder z.B. Färbepflanzen für die Textilindustrie.

Die endgültige Krise der Allmende kam mit der Umstellung auf Fruchtwechselwirtschaft, neuen Kulturpflanzen (Kartoffel), Stallfütterung des Viehs und einer weiteren Kapitalisierung der landwirtschaftlichen Produktion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Man kann das Auftreten der bäuerlichen Raiffeisen-Genossenschaften um 1850 als Weiterentwicklung der Allmendwirtschaft im Zeitalter der Industrialisierung der Landwirtschaft betrachten. Denn sie war in all ihren unterschiedlichen Ausprägungen eben nie kommunistisch, sondern eine genossenschaftliche Kooperation für den Markt wirtschaftender Landbesitzer, sowie rudimentäre Subsistenzquelle der für die Getreidewirtschaft erforderlichen halb- oder vollproletarisierten Landarbeiter. Deren Überlebensmöglichkeiten waren nicht moralisch begründet, sondern eine Notwendigkeit, um in der agrarischen Hauptsaison Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben.

Angesichts der weit vorangeschrittenen globalen Arbeitsteilung stellt sich heute nicht die Frage nach Kooperation von "Marktsubjekten", sondern die nach gesellschaftlichem Eigentum!

Raute

Kampf um Wert oder Klassenkampf?

Bei Pluto Press in London erschien 2007 The Beginning of History: Value struggles and global Capital von Massimo De Angelis. Die GenossInnen von Aufheben haben es in ihrem Heft 16/2008 rezensiert. Wir haben die Besprechung übersetzt. Da sie zum Abdrucken zu lang war, haben wir sie online gestellt. Im Folgenden fassen wir die wichtigsten Argumente zusammen.

Aufheben kritisiert sowohl die Commons- wie die Common-Debatte. In der Einleitung führen sie beide auf den "autonomistischen Marxismus", bzw. die italienische Autonomia der 1970er Jahre als gemeinsame Wurzel zurück. Erst relativ spät im Text, unter der Überschrift Von der Sphäre der Produktion zur Sphäre der Zirkulation: der Denkprozess der Autonomia, skizzieren die GenossInnen von Aufheben ihre Vorstellung dieses "autonomistischen Marxismus", bzw. des Operaismus: Die offensiven Arbeiterkämpfe der 1960/1970er Jahre hätten mit einer gewissen Berechtigung zur Zentralität der Fabrik, der Autonomie des revolutionären Subjekts Massenarbeiter und selbst zu Negris Zurückweisung oder Auflösung des Wertgesetzes geführt. Aber Krise und Ende dieser Kämpfe hätten die Schwächen des "autonomistischen Marxismus" offengelegt: die vordem richtige Betonung der Subjektivität und Autonomie sei in eine abgehobene, positivistische, "überhistorische Philosophie des revolutionären Subjekts" abgedriftet. Die Bemühungen, die Gesellschaft als Fabrik zu begreifen, hätten die Produktion aus den Augen verloren.

Diese Kritik teilen wir. Allerdings ist es schade, dass die GenossInnen von Aufheben so tun, als würde das auf den ganzen Operaismus zutreffen, und die Stärken des "60er-Jahre-Operaismus" damit ebenfalls wegschütten. Nur so ist auch ihre Bemerkung in Fußnote 24 zu erklären, in der sie Überlegungen zur unterschiedlichen Bedeutung oder Wirkung von Arbeiterkämpfen im Zusammenhang ihrer Stellung in der produktiven Kooperation als schlechte Ideologie abtun und das mit Hinweis auf die Poll Tax-Bewegung belegen wollen. Umgekehrt könnten gerade die operaistischen Werkzeuge wie z.B. Untersuchung der Klassenzusammensetzung und produktiven Kooperation uns helfen, dem näher zu kommen, was Aufheben einfordert: einer Analyse der Perspektiven und Grenzen der "wirklichen Kämpfe und Bewegungen" und einer näheren Bestimmung unserer praktischen Möglichkeiten.

Aber folgen wir den unterschiedlichen Trieben, die Aufheben aus der gemeinsamen Wurzel wachsen sieht: die Überlegungen Negris endeten in einer "totalisierenden Fetischisierung" der Produktion, weil er die "immaterielle Arbeit" als fast von Natur aus anti-kapitalistisch betrachtet. Er verliere komplett aus den Augen, dass nach wie vor das Kapital diese Tätigkeiten bestimmt. Bis hierhin teilt Aufheben die Kritik von De Angelis an Negri und seinen Anspruch, von den wirklichen gesellschaftlichen Verhältnissen und Kämpfen auszugehen.

Hier beginnt aber auch ihre Kritik an den drei Zentralbegriffen von De Angelis: "Außen", "Commons" und "Einhegungen" (engl. enclosures). Dieses Dreieck sei ein Fetisch. Für diese Fetischisierung macht Aufheben zwei Gründe aus: das Abtauchen in den faszinierenden, aber einseitigen Aspekt des puren, positiven Klassenkampfs. Und damit zusammenhängend den Perspektivenwechsel vom Klassenstandpunkt hin zur Sichtweise des bürgerlichen Individuums. Daraus erklärten sich die Mystifizierungen, falschen Fragestellungen und in der Konsequenz eine "moralisierende Theorie", die uns nicht weiterbringe.

Inhaltlich liegt für Aufheben die Crux des "autonomen Marxismus" in der Reaktion auf das Abflauen der Arbeiterkämpfe der 1960er/1970er Jahre. Um die Abpressung von (Mehr-)Wert in die gesamte Gesellschaft zu verlängern, musste "der Wert" immer mehr von seiner spezifischen Form gelöst werden: "Um 'Produktion' auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten, musste man sie auf die Aspekte reduzieren, die sowohl mit, als auch ohne Warenproduktion und Lohnverhältnis existieren. Diese Aspekte sind die subjektiven Aspekte der kapitalistischen Produktion - ihre Sinnlosigkeit und Despotie."

Mit The Beginning of History bringe De Angelis diese Entwicklung an ein logisches Ende, bei ihm ist die Produktion nur noch ein "Effekt des Marktes", der Markt hat das Kommando übernommen. Und von hier aus sei es nicht mehr weit bis zum Standpunkt des bürgerlichen Individuums: In der Zirkulation erscheinen wir als durch den Tausch verbundene Marktsubjekte, hier gibt es nur die unpersönlichen Gesetze des Marktes, nach der scheinbar gleiche Werte in Form von Geld getauscht werden. In der Produktion tritt uns das Kapital als Kommando gegenüber, und hier liegt für Aufheben auch die Dynamik des Klassenkampfs: trotz aller Managementträume braucht es direkte Disziplinierung, Zwang und Despotie, "die Sphäre der Produktion beinhaltet somit den unausweichlichen Antagonismus zwischen 'Kapital und Arbeit'. Die unsichtbare Hand des Marktes wird zum zugreifenden Klassengegensatz."

Weil De Angelis nur die Zirkulation betrachte, könne er nur getrennte und fragmentierte Individuen wahrnehmen. Das Kapital wird ein abstrakter Gegner, der nach unsichtbaren Gesetzen funktioniert und uns in Konkurrenz setzt. De Angelis mag einige richtige Überlegungen zu den Problemen heutiger Gesellschaften beitragen oder auch den "optimistischen Begriff" der Multitude kritisieren. Aber - und hier liegt für Aufheben der Hase im Pfeffer - aus der Perspektive des bürgerlichen Marktsubjekts kann er "keinen materiellen Grund zur Klassensolidarität" mehr angeben. Deshalb fetischisiert er das Außen und den Einzelnen, der versuchen muss, sich "Gemeinschaften und deren Werten anzuschließen und diese zu stärken", um gegen die ganze Scheiße was zu tun.

Aufheben sieht darin "unnötige Probleme" einer Theorie, die "den Klassenkampf abschneidet". Und die logischerweise nicht mehr sehen kann, wie aus dem Innern der "täglichen Verhältnisse von Lohnarbeit und Tausch ein antagonistisches Subjekt hervorgehen kann". De Angelis muss "sein Außen", seine Commons als Außen, so auch immer wieder relativieren. Das staatliche Gesundheitswesen wird z.B. zum Common, das von der "Einhegung" durch Privatisierung bewahrt werden müsse, gleichzeitig sieht auch De Angelis in Krankenhäusern staatliche Kontrollanstalten.

De Angelis benutzt die "Einhegungen" (enclosures) als Beweis für seine Ausführungen, indem er die historischen Commons als einheitliche Gemeinschaft stilisiert. Aufheben sieht hinter ihnen die Polarisierung der Gesellschaften in Bauernkapitalisten und Lohnarbeiter (siehe oben zu den Allmenden).

Eine "gute Theorie" sollte ein Werkzeug sein, um uns besser mit den realen Widersprüchen und Menschen auseinandersetzen, uns einmischen zu können. Sie sollte uns auch bei der Lösung von De Angelis' Dilemma helfen: warum kann das Kapital Kämpfe immer wieder integrieren, was waren die materiellen Gründe des Kompromisses, welche sozialen Kräfte waren im Spiel... Aufheben kommt zum Resümee, dass De Angelis uns all das nicht bieten kann, stattdessen nur ein allgemeines Wertesystem überhistorischer Gemeinschaften. Und den moralischen und vagen Aufruf an den Einzelnen, sich diesen anzuschließen.


http://libcom.org/library/aufheben/aufheben-16-2008)

Massimo De Angelis: The Beginning of History. Value Struggles and Global Capital. London: Pluto Press, 2007.

Raute

Vom Empire zum Commonwealth?

Das letzte Gemeinschaftswerk von T. Negri und M. Hardt liegt nun schon eine Weile auf Deutsch vor - sorgfältig übersetzt, gestaltet und gedruckt. An Besprechungen mangelt es nicht, D. Harvey nahm ausführlich die Schwächen auseinander, die Zeit druckte einen Verriss, der ak zunächst eine lobhudelnde, dann eine sehr kritische Rezension, und die Wiener Grundrisse beschäftigten sich in ihrem letzten Heft in mehreren Artikeln v.a. mit den philosophischen Aspekten.

Wir werden nur kurz die Argumentationslinie zusammenfassen (ein fast unmögliches Unterfangen), um zu sehen, wie Hardt und Negri auf den "Common(s)"-Zug aufspringen.

Wie die "Menge" zum "Fürsten" wird, ist das Programm des Buchs. Wie kann sie das in der Armut liegende Potential entwickeln und zu einer globalen Demokratie führen, in der alle am Gemeinsamen teilhaben.

Das Buch gliedert sich in sechs Teile zu je drei Kapiteln, der erste beginnt furios mit einer Kritik der bürgerlichen Revolution und der Menschenrechte als "Republik des Eigentums", u.a. gestützt auf Marx, um dann nach einem Kapitel über die "produktiven Körper" wieder mal bei der "Biopolitik" zu landen, die zu einem auf die Zukunft gerichteten "Ereignis" wird, das "Freiheit" und "Wille zur Macht" verbindet.

Teil II nimmt sich die Kritik der Moderne vor, setzt aber nicht die "Gegenmoderne" dagegen (auch die Nazis waren anti-modern), sondern eine "Altermoderne", in der Intellektuellen ein neuer Platz zugewiesen wird: nicht Avantgarde oder "organische Intellektuelle", sondern lediglich Militante, die gemeinsam mit anderen in einem Prozess militanter Untersuchung eine neue Wahrheit hervorbringen.

Teil III ("Metamorphosen der Kapitalzusammensetzung") beschwört den Trend zu Hegemonie oder Prävalenz immaterieller Produktion im kapitalistischen Wertschöpfungsprozess. Im "biopolitischen Zusammenhang" beziehe sich "organische Zusammensetzung" nicht nur auf die objektiven, sondern auch auf die subjektiven Bedingungen im antagonistischen Verhältnis zwischen Arbeitern und Kapitalisten. Das Kapital sei wesentlich (und notwendigerweise) eine Produktionsweise, die Reichtum dadurch schafft, dass sie Arbeitskraft ausbeutet. Aber heute bestimme es nicht mehr so wie früher die Ausgestaltung der Produktion, da die kognitiv und affektiv Arbeitenden unabhängig vom kapitalistischen Kommando und selbst unter sehr ausbeuterischen Bedingungen kooperieren.

Das wusste schon Marx, aber Hardt/Negri setzen noch eins drauf und behaupten: "Der Wert, den sich das Kapital durch Ausbeutung des biopolitisch Gemeinsamen aneignet, wurde in gewisser Weise außerhalb seiner selbst produziert." (S. 155) Es handle sich nicht mehr um "reelle Subsumtion", also Unterwerfung der Produktion und der ganzen Gesellschaft unter das Kapitalkommando, sondern das Kapital schwebe parasitär über ihr und herrsche mit Diziplinarregimen und Finanznetzwerken nur noch interessiert an der Rente, nicht am Profit. Der Klassenkampf nehme die Form des Exodus an, dieses "Sich-Entziehen" sei aber nur auf der Basis des Gemeinsamen möglich.


Eine Theorie der Organisierung

Die Multitude sei kein spontanes politisches Subjekt, sondern ein Projekt politischer Organisierung. Deshalb gehe es um eine "Theorie der Organisierung, die der Multitude angemessen ist", und darum zu zeigen, dass nur sie zur Revolution fähig ist. Die "Partei" sei heute kein Mittel mehr, um das Böse zu besiegen. (S. 215)

Teil IV streift das Empire, den 11.9. und das Ende der US-Hegemonie, um sich dann den Rebellionen in der Geschichte zuzuwenden: wie müssten sie heute organisiert werden, wie können wir von Lenin lernen, den Moment des Aufstandes nicht zu verpassen (S. 253). "Eine Arbeiterrevolution reicht heute nicht mehr aus, es bedarf vielmehr einer Revolution im Leben, des Lebens." (S. 252) Die Metropole als Ort biopolitischer Produktion sei die "Fabrik zur Produktion des Gemeinsamen" - aber gleichzeitig von Konflikten, Destruktivität, Antagonismen und Gewalt geprägt.

Teil V ("Jenseits des Kapitals") beschäftigt sich mit dem Scheitern des Neoliberalismus, der ein "Projekt zur Herstellung der Klassenmacht" war (Harvey), aber unfähig zur Ankurbelung und Organisation der Produktion: Mit dem Übergang von der industriellen zur biopolitischen Produktion verliere der Sozialismus seine Wirkung - er kann diese weder rationalisieren noch steuern. Dieser Übergang verwirklicht bzw. weitet Trontis Konzept der Fabrikgesellschaft aus, aber das Industrieunternehmen sei heute in den dominanten Ländern nicht mehr in der Lage, die Produktivkräfte zu zentralisieren und die Arbeitskraft ins Kapital zu integrieren. An seine Stelle trete ein gesellschaftsbasiertes Kapital, die Gesellschaft als ganze sei Hauptschauplatz produktiver Tätigkeit.

Eine zunehmend autonome Arbeitskraft und ein Kapital, das immer mehr zum reinen Kommando werde, stünden sich gegenüber: "Arbeitskraft ist deshalb kein variables Kapital mehr, das in den Körper des Kapitals integriert ist, sondern eine separate und zunehmend oppositionelle Kraft." (S. 302). "Der Begriff des Kapitals [zerfällt] in zwei antagonistische Subjektivitäten". (S. 303) Hauptstrategie des (?) "Kapitals" sei die Kontrolle durch das Geld - möglicherweise könnte aber das (bekanntermaßen janusköpfige) Geld in den Händen der Multitude ein Instrument der Freiheit sein, mit dem sich Elend und Armut überwinden lassen.

"Die kapitalistische Akkumulation ist dem Produktionsprozess heute vollkommen äußerlich, sodass Ausbeutung die Form der Enteignung oder Expropriation des Gemeinsamen annimmt."

Am Ende widmen sich die Autoren einem möglichen Übergang durch die Entwicklung eines "Unternehmertums des Gemeinsamen" und der Erneuerung kooperativer sozialer Netzwerke als erste Stufe eines Programms für das Kapital - nicht um es zu retten, sondern weil es in diesem Übergang seine eigenen Totengräber erzeuge - bis die Multitude des Gemeinsamen eigenständig regieren kann.

Der letzte Teil beginnt mit einer schwungvollen Ablehnung jeder Identitätspolitik - es gehe um Befreiung, nicht um Emanzipation unter Beibehaltung der Identität! - und aller Institutionen, die das Gemeinsame korrumpieren (Familie, Nation, Unternehmen...), aber bislang in Kämpfen noch eine wichtige Rolle spielen. Es folgt ein Revolutionskonzept, das sich von denen der kommunistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts absetzt und kein von der übrigen Gesellschaft getrenntes Avantgarde-Subjekt und keinen hegemonialen Anspruch der Partei kennt.

Die technische Zusammensetzung des Proletariats heute (bei Hegemoniestellung der biopolitischen Produktion) mache einen Prozess neuer politischer Zusammensetzung durch demokratische Entscheidungsfindung möglich. (S. 358)

Der Aufstand müsse aber durch Institutionen verstetigt werden - Revolution sei die Ausweitung der Insurrektion zu einem institutionellen Prozess.

"Die Menschen sind von Natur aus nicht spontan in der Lage, aus freien Stücken miteinander zu kooperieren und das Gemeinsame zusammen zu lenken." (S. 369) Dass sie nicht zur Demokratie fähig seien, wusste schon Lenin, eine "Übergangsdiktatur", die den neuen Menschen schafft, lehnen Negri und Hardt allerdings ab, ebenso "Reformillusionen", die die Revolution in die ferne Zukunft verschieben. Die Frage: "Wie lässt sich der Übergang steuern", könne nur eine Untersuchung der technischen Zusammensetzung der Multitude beantworten, um ihre politische Zusammensetzung zu erkennen. Es gebe kein Entweder-Oder, sondern es gehe um Insurrektion und Institution, Transformation von Basis und Überbau - so könne die Multitude zum Fürsten werden.

Formen der Governance, also Regelungssysteme, wie sie heute in kapitalistischen Unternehmen benutzt werden, könnten zu einem demokratischen und revolutionären Konzept umformuliert werden. Schließlich hätten die Strukturen imperialer Governance ja Forderungen der Multitude aufgenommen, deshalb passen sie so gut für die Multitude.


Das Gespenst des Kommunen

Im Unterschied zum üblichen "Commons"-Diskurs wollen Hardt und Negri von der Zentralität der Produktion und somit der Klassenzusammensetzung ausgehen. So umfasst bei ihnen das Gemeinsame (sie streifen im Text en passant alle gerade gehypten historischen "Commons", aber benutzen den Begriff konsequent im Singular!) nicht nur die natürliche Welt ("Natur ist einfach nur ein anderes Wort für das Gemeinsame"), sondern vor allem auch das Produzierte. Wieso aber die biopolitische (oder immaterielle) kapitalistische Produktion an sich bereits das Gemeinsame produziert - dafür bleiben sie jede Erläuterung schuldig. Wenn sich in einer Metropole mehrere selbstständige Medienarbeiter für ein Projekt zusammentun, dann tun sie das, um das Projekt zu verkaufen, im vollen und selbstverständlichen Bewusstsein, eine Ware zu produzieren - und je besser sie am Markt ankommt, desto teurer können sie sich anschließend verkaufen. Möglicherweise hätten diese Leute auch das Potential, Gemeinsames im Nutzen aller zu produzieren - vielleicht tun sie das auch, gegen den Castor, gegen S21, so wie früher ein Drucker heimlich Flugblätter nach Feierabend gedruckt hat - im vollen Bewusstsein. Aber gegen Bezahlung produzieren sie erstmal Waren, möglicherweise Kapital. Auch Mitte der 70er Jahre thematisierte Negri die "proletarische Selbstverwertung des gesellschaftlichen Arbeiters" und die "parasitäre Rolle des Kapitals" - ein Rückfall in die vom Operaismus zurecht kritisierte Selbstverwaltungsideologie.

Hardt und Negri verteidigen zwar ihre "neue Klassenzusammensetzung" (Multitude) gegen alle Kritiker, bezeichnen sie dann aber als politisches Projekt, das der Organisierung bedarf. In "Fabbrica della strategia - 22 Vorlesungen zu Lenin" hatte Negri Anfang der 70er Jahre Lenins Programm zur Erzeugung einer Arbeiterklasse dargestellt. Sein jetziges politisches Programm klingt sehr ähnlich: wie wird aus der "Klasse an sich" eine "Klasse für sich" - und: welche Aufgaben haben darin die Intellektuellen?

Die Fähigkeiten der Multitude (der Produktivkräfte), den Produktionsprozess selbstständig zu organisieren, geraten mit den völlig unangemessenen Produktionsverhältnissen immer mehr in Widerspruch - das klingt sehr nach Marx. Aber indem Hardt und Negri behaupten, in der biopolitischen Produktion seien die direkten Produzenten nicht mehr variables Kapital (und somit Teil des Kapitals und Feind in seinem Inneren), geben sie den Kapital-Begriff auf und übersteigern das, was man der Autonomia zurecht vorgeworfen hat: Sie sehen Kapital und Arbeiterklasse nicht als antagonistisches Verhältnis, sondern als zwei getrennte Einheiten, die sich ein Ping-Pong-Spiel um die Macht liefern. Hardt/Negri vertreten damit eine dieser modischen Theorien, die im IPhone nur diskursive Netzwerke sehen, aber davon abstrahieren wollen, dass es industriell produziert ist, wie Dauvé/Nesic in "ArbeiterInnen verlassen die Fabrik" zurecht kritisieren.


Revolution oder Realpolitik?

Negri wäre nicht Negri, wenn seine Analyse nicht unmittelbare Anleitung zur (real-)politischen Intervention wäre! In den 80er Jahren sah er in der Alternativen Liste im Berliner Senat eine "Revolutionäre Institution des proletarischen Übergangs". Heute spricht er von den "Institutionen der Insurrektion", die das Eroberte sichern sollen - und gibt grünen ParteipolitikerInnen ein Buch in die Hand, mit dem sie ihre bürgerliche Basis als Multitude und die eigene üble Sozialpolitik als links verbrämen können.

Anders als die meisten post-operaistischen Theoretiker hantieren Hardt und Negri nicht mit einem Konzept von innerhalb und außerhalb des Kapitals. Aber mit ihrer Ablehnung der Dialektikwerfen sie jeden Antagonismus innerhalb des Bestehenden über den Haufen. Wird die Menge durch einen reinen Willensakt zum Fürsten? Wer ist die Menge? Auch in Common Wealth werden alte Ideen neu formuliert und "passend gemacht", offene Fragen aber mal wieder mit dem Hervorzaubern eines neuen Begriffs zugedeckt, der meist nicht einmal wirklich erklärt wird.

Der Schwung, mit dem die vielschichtige Bewegung gegen Stuttgart21 gegen die dumpbackige Regierung ein neues Verkehrskonzept auf den Tisch packt, ist Hardt/Negris Common in Aktion: Informatiker und Projektmanager im Team-Work, alternative Professoren und Hobby-Geologen. Aber Hardt/Negris begrifflicher Setzkasten führt eher dazu, diese neuen Bewegungen hermetisch abzuschließen, als dass er uns bei der Suche hilft nach Punkten, wo dieses Engagement in Kritik an den sozialen Bedingungen umschlagen oder sich mit dem Leiden an der Arbeit verbünden könnte.

Das Buch enthält auf seinen 463 Seiten immer wieder erfrischende Passagen, in denen die Autoren nicht nur ihre Belesenheit ausbreiten, sondern fruchtbare Gedanken äußern, aber alles, was für ihre Argumentation wichtig wäre, tippen sie nur an, um es dann irgendwie in den großen kitschigen Schlussakkord einzubauen.

Keine Frage: es geht um die Aktualität der Revolution, um eine der heutigen Welt angemessene Begrifflichkeit. Aber bei den beiden Autoren weiß man manchmal nicht, ob sie sich lieber als Lenin oder als Heiligen Antonius sehen - oder vor allem nur quer zu allem bisher Gedachten stehen wollen. Und wenn sie in ihrem Schlusssatz mit "schallendem Gelächter" die Herrschaft des Eigentums begraben - lachen sie da womöglich auch ihre LeserInnen aus?


Michael Hardt, Antonio Negri; Common Wealth. Das Ende des Eigentums. Frankfurt a.M./New York (Campus) 2010, übersetzt von Th. Atzert und A. Wirthenson.


Weitere Besprechungen:

Commonwealth: An Exchange - Michael Hardt, Antonio Negri, David Harvey. In: Artforum. New York, Nov. 2009. Vol. 48, Iss. 3; S. 210ff.

Robert Zion: Die Neukonstitution des Politischen. ak 548, März 2010.

Christian Frings: Common Wealth - Glaube, Liebe, Hoffnung. ak 549, April 2010.

Karl Reitter: Produktivität als Autonomie? Grundrisse 35.

Christiane Grefe: Schnulzen zum Kompott. Die Zeit, Nr. 12, 18.3.2010.

Raute

Stuttgarter Momente

Viele glaubten, Stuttgart21 würde nie verwirklicht - so lange lagen die Pläne schon in diversen Schubladen. In der Oberbürgermeisterwahl 2004 zog der Grünen-Kandidat Palmer in der Stichwahl zurück - angeblich weil der OB Schuster ihm zugesagt hatte, Stuttgart21 zur Abstimmung zu stellen. Nach seiner Wahl bezeichnete Schuster ein Bürgerbegehren als rechtlich unzulässig. Als es wieder ernst zu werden drohte mit dem Bau, sammelte vor drei Jahren eine Bürgerinitiative innerhalb von wenigen Wochen knapp 60.000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren - 20.000 hätten ausgereicht. Der Antrag wurde vom Gemeinderat wieder als unzulässig abgeschmettert. Die dort sitzenden Grünen fuhren inzwischen die Linie, "wenigstens mitzugestalten", was nicht mehr verhinderbar sei.

Als nach viel Kleinarbeit von Initiativen und der Minifraktion SÖS im Gemeinderat dann die "Montagsdemos" massiv anwuchsen, setzte die Landesregierung mit dem Abriss des Nordflügels des Bahnhofgebäudes kurz vor den Sommerferien einen Paukenschlag. Damit schufen sie ein Protest-Denkmal, und nun schossen die Teilnehmerzahlen erst recht in die Höhe. In der erstmöglichen Minute, um Mitternacht am 1. Oktober (Vogelschutz!) ließ die Bahn Bäume im Schlossgarten fällen. Die bundesweit ausgestrahlten Prügelorgien der Polizei am Vormittag zuvor mit schwer verletzten Schülerinnen und Rentnern brachten die Wut der Leute in Stuttgart und Umgebung so richtig zum Kochen: die Zahl der Demoteilnehmerinnen erreichte Rekord-Höhen von 100.000 - bei drei Demos die Woche! Die Kundgebungen wurden zu Volksfesten, auch Leute, die nie Bahn fahren oder denen der Bonatz-Bau ziemlich egal ist, mischten sich nun unter die Protestierenden...

In den letzten Monaten ist schon einiges über die Protestbewegung gegen Stuttgart21 geschrieben worden. In der Regel wird sie zusammen mit den Mobilisierungen gegen den Castor oder der Initiative gegen die Schulreform in Hamburg unter das Label "Bürgerproteste" gepackt. Es herrscht aber weitestgehend Uneinigkeit, was das nun heißt. Negrianer sehen die Proteste als "Projektbewegungen": die Multitude findet sich für ein klar bestimmtes Ziel zusammen und geht nach dessen Durchsetzung wieder auseinander. Die Konservativen etwa in der Welt sehen nur konservative Bewegungen am Werk, die wollen, dass "alles so bleibt, wie es ist". Manche Linken z.B. auf telepolis halten die Proteste gar für reaktionär und verrühren sie zusammen mit den teabaggers in den USA und den Protesten gegen die Rentenreform in Frankreich zu einer ungenießbaren Soße. Wir wollen stattdessen die Stuttgarter Proteste in fünf "Momenten" beschreiben, wie sie ein Besucher von außerhalb wahrnimmt.


Demo der Gewerkschafter gegen S21

Schon auf dem Weg zur Kundgebung merkt man, dass sich Stuttgart an der Frage "Wie stehst du zum Bahnhof?" spaltet. Die einen kommen dir mit "I love S21" am Revers entgegen, bei den anderen steht "Parkschützer" auf dem Button. Anscheinend ist es unmöglich, sich nicht zu positionieren. Weil sich die IHK Stuttgart für S21 ausspricht, hat sich die Gruppe Unternehmer gegen S21 gegründet. In der IG Metall fetzt es intern wie seit drei Jahrzehnten nicht mehr. Der Vorstand war schon immer für S21 und hat vor kurzem vergeblich versucht, eine Abstimmung dazu auf der Delegiertenkonferenz zu verhindern. Er unterlag knapp.

DGB und IG Metall hatten sich im Juni aus den Krisenprotesten von ver.di rausgehalten und mit der Ankündigung eines eigenen Aktionstags am 14. November demobilisiert. Die geplante Demo wurde aus Angst vor einer Übernahme durch die S21-Protestbewegung zur Kundgebung auf dem Schlossplatz umgewidmet. Als ich ankomme, sind etwa 50.000 Menschen da. Im Vorfeld hatten die Linksgewerkschafter dazu aufgerufen, im Anschluss zu einer Kundgebung gegen Stuttgart21 in den Schlosspark zu ziehen. Wir setzen uns mit etwa 10.000 Menschen in Bewegung. Gewerkschaftsfahnen, -mützen, und -westen sind weiterhin sichtbar, aber im Schlosspark versammelt sich dann eher ein Querschnitt der (deutschstämmigen) Stuttgarter Bevölkerung. Und vor allem ist die Stimmung viel besser! Eine Band spielt, und zwei eher langweilige Auftaktreden werden trotzdem mit Sprechchören angefeuert: "Lügenpack" und "oben bleiben". Man fühlt sich im Aufwind: "Bei der Schlichtung haben wir gepunktet!"


Montagsdemo

Am 26. Oktober 2009 fand die erste Montagsdemo statt; nach und nach sind diese zum Rückgrat des Protests geworden. Die 52. am 15.11. ist materialmäßig gut ausgestattet, mit großem Soundsystem und Beamern, die Parolen auf den Bahnhof werfen. Es sind wohl 5000 Menschen da, trotz strömendem Regen ist die Stimmung gut, es wird geklatscht und gepfiffen, eigentlich egal, was von der Bühne gesagt wird. Dass es - selbst jetzt noch! - immer wieder neue Argumente gegen S21 gibt, stärkt die Motivation. Als ein Redner der Unternehmer gegen S21, ein "Kreativitätscoach", eine rhetorisch gute und witzige Rede hält, tobt die Menge, es wird schallend gelacht und "genau so ist's!" gerufen.


Parkbesetzung

Neben Kundgebungen und Demos ist die Schlossparkbesetzung eine weitere Form des Protestes. Die Aktivistinnen von Robin Wood schlafen auf den Bäumen, die Camper in Zelten am Boden. Sie hatten in der letzten Zeit einige Probleme, das schlechte 'Wetter hat Zelte zerstört, die Polizei geht morgens um 4 Uhr durch den Park, filmt und legt Lagekarten an. Vor allem aber die Presse, sie hetzt gegen die "Verwahrlosung des Parks". Sogar der Sprecher der Parkschützer hat sich gegenüber den Medien von "Obdachlosen" unter den BesetzerInnen distanziert. Aber die Solidarität lässt sie durchhalten: Täglich gibt es Sach- und Lebensmittelspenden, kommen Omas und helfen beim Abwaschen oder Kochen.

Weil viele zum Castor gefahren sind, war die Zahl der Übernachtenden stark zurückgegangen, aber nun sind es wieder 60 Leute, eine Mischung aus Politaktivisten, Punks und Normalos. Ich spreche mit einem LKW-Fahrer, der von seinem letzten Gehalt zehrt; viele würden aber jeden Tag arbeiten gehen.

Inzwischen haben die Parkschützer ein "Kopf hoch Team" aufgestellt, das den Besetzerinnen bei der Versorgung helfen will. Denn man müsse mit "jeder Art des gewaltfreien Protests" solidarisch sein, auch wenn einem selber "die Formen und Aktiven fremd" seien.

An der Parkbesetzung spitzen sich Fragen nach der Tragweite und Stabilität des Protests zu: welche Aktionsformen sind möglich? Gelingt es der Bewegung wirklich, die unterschiedlichen Beteiligten, von Unternehmern, über Arbeiter bis zu Menschen auf Hartz IV zu verbinden?


Jugendoffensive gegen S21

Der kleine Raum im Forum 3 ist gut gefüllt, aber nicht überfüllt. Die etwa 40 Leute, die sich zum Orgaplenum der Jugendoffensive treffen, sind meist zwischen 16 und 20 Jahre alt. Der aus Berlin abgestellte SAV-Kader ist mit 25 einer der Altesten. Hinten im Raum sitzt noch eine Handvoll deutlich älterer Menschen und hört zu.

Der Widerstand der SchülerInnen und die Reaktion der Bullen darauf haben aus den Großdemos in Stuttgart Massendemos gemacht. Die Bilder von der Polizeigewalt haben die öffentliche Meinung stark beeinflusst und u.a. zur Schlichtung geführt. Dass die SchülerInnen eine wichtige Rolle spielen merkt man am Selbstvertrauen, mit dem sie ihre Dinge regeln. Neben Berichten zum aktuellen Stand der Schlichtung und zum Verlauf der Proteste der letzten Woche wird auch der Sturm der Studies in London auf die Parteizentrale der Tones besprochen und ein Solidaritätsschreiben verfasst. Dann wird die Demo am nächsten Samstag vorbereitet und am Ende über den Versuch diskutiert, Schulgruppen aufzubauen.

Es gibt auch Probleme. Das Aktionsbündnis hatte sie gebeten, auf ihren eigenen Lautsprecherwagen zu verzichten, ihre Musik und ihre Reden seien abschreckend für potentielle Demoteilnehmer. Zu diesem Verzieht sind sie nicht bereit, denn auf dem "offiziellen" Wagen dürfen sie nur sehr selten reden und müssen vorher das Redemanuskript einreichen. Die anderen Gruppen sollten doch froh sein, dass sie mitmachen! Als einzige bringen sie "soziale und Bildungsthemen" ein und sprechen junge Leute an. Unzufrieden sind sie auch, weil nun sogar die Parkschützer wegen der von der Stuttgarter Zeitung behaupteten Friedenspflicht auf die Demo übernächste Woche verzichten wollen. Und weil mehr "Profs und Architekten" auf den Kundgebungen reden als Aktivisten des Protests. SPD und Grüne bekämen zuviel Raum. Diese Probleme liegen ihrer Ansicht nach unter anderem daran, dass es bei den organisierten Leuten mehr Unternehmer als Gewerkschafter gebe, obwohl im Protest "doch viel mehr Arbeitnehmer als Unternehmer" aktiv seien.


Die Schlichtung

"die schlichtung ist für heute beendet. ich selber allerdings habe damit bereits am 30.09. im stuttgarter schlossgarten aufgehört."
(so ein Tweet)

Seit dem 22. Oktober finden nun Schlichtungsgespräche unter Vorsitz des Ex-CDU-Generalsekretärs und Attac-Mitglieds Heiner Geißler statt. Auf Seiten der Gegner werden die Parteien gestärkt: am Tisch sitzen der Ex-SPD-MdB Peter Conradi, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag Kretschmann, der Fraktionschef der Grünen im Gemeinderat Wölfle, Gemeinderat der SÖS Rockenbauch, die BUND-Vorsitzende usw. Die Grünen sehen sich schon als Gewinner der Landtagswahl. Angesichts dieser Aussichten sind die "Parkschützer" gleich von Beginn an aus den Schlichtungsgesprächen ausgestiegen und setzen ihre Aktionen ohne Rücksicht auf die "Friedenspflicht" fort.

Die Schlichtungsgespräche werden live in Fernsehen und Internet übertragen - so was hat es noch nie gegeben. Die Tische sind im Halbkreis angeordnet, in mehreren Reihen sitzen sich die Kontrahenten gegenüber, in der Mitte der 80jährige Geißler. Es ist der vierte Schlichtungstag, das Gegenkonzept K21 wird vorgestellt. Die Vertreter von K21 gefallen sich in der Rolle von Machern und Experten. Tatsächlich wirkt das Konzept durchdacht und kompletter als das Konzept von S21. Die "Gegenseite" tut sich sichtlich schwer, Einwände zu finden und kommt deswegen immer wieder auf den Punkt zurück, dass die Gerichte S21 für legal beschlossen und damit bindend erklärt hätten. Aber gerade weil es eine "Sachschlichtung" ist, konzentriert sich die ganze Aufmerksamkeit auf technische Fakten - Fragen, die nicht den Umbau betreffen, dürfen nicht angesprochen werden. Auch die S21-Gegner argumentieren mit der "Wirtschaftlichkeit" ihres K21-Projekts.

Für den Staat könnte die Schlichtung ein Mittel sein, um S21 institutionsschonend aufzugeben, also ohne dass durch den Rücktritt einer ganzen Regierung eine Lücke entsteht. Oder ein Mittel, um S21 durchzusetzen, indem man dem Protest weismacht, er sei in einem demokratischen Verfahren unterlegen.

Nun wird scheinbar rational über Unmut und Wut verhandelt... Andererseits haben "gute Argumente" bisher viel zur Mobilisierung beigetragen... Oder verhindert die Einengung auf "Sachfragen", dass die Bewegung wächst, indem sie die Verwendung öffentlicher Gelder auch sozial thematisiert? Entlegitimieren die Bilder der arroganten Vertreter von S21 andere Bereiche staatlicher Entscheidungsfindung gleich mit? Erschüttert die gemeinsame Leistung der S21-GegnerInnen, argumentativ und konzeptionell dagegenhalten zu können, auch die Ehrfurcht vor Experten in anderen Konflikten? Merken die Leute nun endlich bundesweit, wie rechts die baden-württembergischen Grünen schon lange sind?

In zwei Jahren Krise hat sich in Stuttgart einiges an Wut zusammengebraut: massenhafte Kurzarbeit, Betriebsschließungen und harte Sparpolitik. Die Breite des Protests lässt ahnen, dass sich in ihm auch diese Erschütterungen ausdrücken, weil in jedem Hinterkopf die Frage nach der Funktionsfähigkeit des ganzen Systems arbeitet. Auch wenn auf den Rednerbühnen eine eher den Grünen und der Linkspartei zuneigende Mittelschicht das Sagen hat, mischen sich im Protest viele Komponenten: "nicht mit unserem Geld!"; Protest gegen den klaren Vorrang für Auto- und Flugverkehr, der ungebrochen auch von der SPD und der IG Metall-Führung unterstützt wird; SchülerInnen gegen die städtische Sparpolitik, baufällige Schulen, erhöhten Leistungsstress usw.; Ärger vieler Berufspendler über das täglich verstopfte und teure S-Bahn-System...

Raute

Nach dem CASTOR ist nicht nur vor dem CASTOR

Der Castor-Transport 2010 hatte 24 Stunden Verspätung - Rekord! Das ist zweifellos ein Erfolg der massiven Mobilisierung, die so groß war wie noch nie. Eine kurze Bestandsaufnahme, ausgehend von persönlichen Erfahrungen während der Tage.

Wer bewegte sich?

Zunächst die Bauern, die mit hunderten von Treckern vor Ort waren und mit flexiblen Straßenblockaden die Mobilität der Polizei stark einschränkten. In der Göhrde "verhafteten" sie einen Wasserwerfer und ein Räumfahrzeug, die in eine Blockade reingefahren waren. Nachschub- und Ablösetruppen kamen nicht rechtzeitig, die Polizeistrategie geriet erheblich durcheinander. Ein wichtiger Grund für die von der Einsatzleitung konstatierte Überforderung.

Die große Kundgebung mit 50.000 am 6.11. war ähnlich zusammengesetzt wie die 4-5000 AktivistInnen, die die Tage über im Wendland unterwegs waren: viele SchülerInnen und StudentInnen, oft in Umwelt-, Antira- oder Antifagruppen tätig; prekär Beschäftigte und "Selbstständige" aus Pädagogik und IT-Bereich; Arbeitslose; auffallend viele HandwerkerInnen (sowohl "Freie", als auch ganz normale kleine regionale Handwerksbetriebe, die z.T. Material für die Logistik des Widerstandes bereitstellten); Beschäftigte aus sozialen Dienstleistungsbereichen; vereinzelt ArbeiterInnen aus Industrie- und Dienstleistungsbetrieben.

Was haben wir geredet?

Am Lagerfeuer, beim Essen, auf den Kundgebungen kam man schnell auf allgemeinpolitische Themen. Die Kritik ging dabei häufig über die Atompolitik und den Kampf gegen S21 hinaus. Die Klientelpolitik der Regierung für Reiche und Konzerne, Kämpfe gegen Betriebsschließungen, überhaupt soziale Probleme wurden besprochen. Auf einer Kundgebung berichtete ein Redner z.B. von den besetzten Werkstoren der bestreikten Atlas-Werke in Delmenhorst, von wo er gerade gekommen war. Offiziell aber war diese allgemeine Unzufriedenheit der Leute, die zur Mobilisierung beigetragen hatte, kein Thema. Das politische Feld wurde den selbsternannten Politikern der Anti-AKW-Bewegung überlassen, die den öffentlichen Diskurs weiterhin bestimmen. Auf der Großkundgebung am 6.11. in Dannenberg gab es z.B. nur Transparente gegen die Atomkraft und Bezüge auf Stuttgart21.

Die Politik war auch da

PolitikerInnen der Grünen und der SPD konnten ungestört auftreten. Jochen Stay von ausgestrahlt hofft jetzt auf ein "Bekenntnis aus Berlin", dass "ein Endlager in Gorleben nicht durchsetzbar ist". Greenpeace bewertet die jüngsten Verlautbarungen von Politikern, andere Endlagerstandorte zu prüfen, als "endlich ein Stück Verantwortungsbewusstsein in der Atomdebatte der Union". Die Kampagne Castor Schottern ließ Politikern der Linkspartei breiten Raum.

Alternativ/regenerative Kapitalisten hatten Stände, an denen sie für den weiteren Ausbau ihrer staatlichen Förderung warben. Die Arbeitsbedingungen in ihren Firmen, wie sie etwa durch den Streik der Vestas-Arbeiter in Großbritannien bekannt geworden sind, wurden nicht kritisiert.

Der rot-grüne Regierungsantritt 1998 hat zu einem Abflauen der Anti-AKW-Bewegung geführt. Als Regierungsparteien haben sie dann mit ihren sogenannten Atomkonsens 2002 den Weiterbetrieb bestehender AKWs bis zu 32 Jahren ermöglicht. Wenn es gelingt, die Unzufriedenheit auf einen rotgrünen Regierungswechsel mit "linker" Unterstützung umzulenken, drückt das nicht die Stärke der Bewegung aus, sondern ihre Schwäche.

Castor Schottern: ein Erfolg, oder Leute verheizen für eine Medienkampagne?

Mehrere tausend Leute folgten dem Aufruf "Gastor Schottern - Atomausstieg bleibt Handarbeit", mehr als die Kampagnen-Organisatoren erwartet hatten. Es ist gelungen, an mehreren Stellen auf der Strecke von Lüneburg nach Dannenberg das Gleisbett zu beschädigen. Die Kampagne zog ein positives Resümee - "Schottern wurde zur Marke" (IL-Presseerklärung). Erfahrungen und Berichte von Leuten, die sich am Schottern beteiligt haben, sind widersprüchlicher.

Für die direkte Aktion sollte nach der 5-Finger-Taktik verfahren werden. "Wir waren als Bezugsgruppe nicht direkt bei den Aktivisten, sondern hatten uns zu ihrem Schutz eingeteilt. Das war schon beeindruckend, als sich der lange Zug Richtung Gleise in Bewegung gesetzt hat. Unser Problem war aber, dass wir unseren Finger nicht richtig gefunden haben. Zwei Finger vermischten sich, und als wir an die Gleise kamen, ging es gleich richtig los. Die Bullen spritzten Pfefferspray und Tränengas und trieben uns in den Wald. Wir zogen uns in die Breite und starteten einen weiteren Versuch, der aber auch scheiterte. Die Bullen machten keine Gefangenen, sondern zersplitterten uns immer mehr, bis nur noch kleine Gruppen im Wald rumliefen. Die einen gingen zu den Gleisblockaden von "widersetzen" oder "X-tausend-mal-quer". Eine andere wollte nichts mit uns zu tun haben. Also sind wir zurück und hofften, uns wieder zu treffen. Es sollte ein Rückzugsplenum geben, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Aber während dieses noch tagte, kam eine größere Gruppe aus dem Wald und forderte die Leute auf sofort in Richtung Gleise zu stürmen, da an der Stelle wenig Bullen wären. Wir und ein Teil sind losgestürmt - aber wieder an den Bullen, die sich schnell da massiert hatten, gescheitert."

"Die Strategie war eine von Leute verheizen. Ich war mit meiner Gruppe ganz vorne. Als wir an die Gleise kamen, gingen wir aber nicht wie verabredet mit den Fingern in die Breite, sondern stoppten, bis die Bullen sich an der Stelle zusammengezogen hatten, dann liefen wir auf Kommando in die Bullen, die massiv Pfefferspray und Tränengas einsetzten. Wir sind nicht auf die Gleise gekommen.

"Wir auch nicht - haben aber die Polizei in Bewegung gehalten. Damit haben wir sie gebunden, so dass an anderer Stelle Leute schottern konnten."

"Wir sind mit etlichen Leuten auf die Gleise gekommen. Da waren keine Bullen. Wir konnten schottern, wurden aber bald wieder vertrieben."

"Es war alles ein wenig chaotisch - auch die Bullen. Die waren wohl wegen der vielen Leute überfordert und konnten nicht überall sein. Die haben sich ja manchmal selber mit ihren Rumgewurschtele mit den Tränengaspatronen verletzt. Dann sind Leute auf die Gleise gekommen und konnten schottern."

Die Beschädigungen am Gleisbett gingen auf die Hartnäckigkeit, Ausdauer und spontane Kreativität, vor allem aber die Massenhaftigkeit der DemonstrantInnen zurück, nicht auf eine Taktik. Falls der erste Anlauf auf die Gleise scheiterte, gab es keinen Plan für alternatives Handeln. Das blieb den Leuten selbst überlassen, was punktuell auch funktionierte. Dass die Polizei teilweise zu schwach war, die Gleise auf der ganzen Strecke zu schützen, lag auch an den Bauernblockaden. Die beschädigten Gleisstellen konnten mit einen Reparaturzug für den Castor-Transport sehr schnell befahrbar gemacht werden. Das größte Hindernis auf dem Weg zum Verladekran war die Gleisblockade der über 3000 Menschen. Der schlossen sich viele an, die vorher zu schottern versucht hatten.

Die offizielle Kampagne hat sehr viel Wert auf Pressearbeit gelegt. Zum Vorbereitungsplenum am Tag davor war Presse eingeladen. Auch wenn die genauen Orte des Eingreifens dort nicht bekanntgegeben wurden, konnte die Polizei doch in etwa das Gebiet erfassen. Pressevertreter wurden mit Helmen gekennzeichnet auf die Märsche in Richtung Gleise mitgenommen - zum Schutz und zur Dokumentation von Polizeiübergriffen. Politiker der Linkspartei kamen in den Presseerklärungen ausführlich zu Wort.

Und nun?

Die Castoren sind im "Zwischenlager" -wenn auch mit erheblicher Zeitverzögerung und Kostenaufwand. Die Polizei war am Ende ihrer Kräfte. Die Polizei-Gewerkschaft schlug sogar ein Vermittlungsgespräch vor. Wie hätte der Staat reagiert, wenn der Einsatz sich länger hingezogen hätte?

Die 25 Millionen Einsatzkosten muss nicht die Energiewirtschaft bezahlen, sondern der Staat - die Regierung wird sie an anderer Stelle einsparen womit wir wieder bei den gesellschaftlichen Bedingungen wären...

Ein Grund für die massive Mobilisierung war die breite Unzufriedenheit mit den derzeitigen gesellschaftlichen Bedingungen. Diese artikuliert sich aber nicht. Die Beteiligung Tausender am Schottern zeigt eine hohe Bereitschaft, sich nicht mehr an die Regeln zu halten. Sie überliefen die abgestufte und "anschlussfähige Symbolpolitik" professioneller Widerstandsmanager. Wir sollten bei zukünftigen Transporten die Infrastruktur der kapitalistischen Warenströme ins Visier nehmen. Denn in letzter Konsequenz beherrscht die Polizei die Castor-Strecke.

Nach dem CASTOR und vor dem CASTOR ist kapitalistischer Alltag.


Randnotizen

"Der Castor ist nur der Vorwand, der äußere Anlass, um auf die Straße zu gehen. Dahinter kommt ein tief empfundenes Gefühl der Ohnmacht zum Ausdruck, das sich mit einem abgrundtiefen Misstrauen gegen die Politik und einer kaum mehr zu behebenden Sprachlosigkeit zwischen Regierenden und Regierten paart... eine Mehrheit der Bevölkerung glaubt, dass Merkel und Co ausschließlich die Interessen der Atomkonzerne bedienen."
(Badische Neueste Nachrichten)

Im Juli 2007 besetzten Arbeiter im Süden Englands eine Fabrik des Windkraftanlagenherstellers Vestas, um die Entlassung von 625 Kollegen zu verhindern. Sie forderten die Verstaatlichung des Betriebs. Vestas erwirkte eine gerichtliche Anordnung gegen die Besetzung. Um einer Räumung zuvorzukommen, verließen die Arbeiter die Fabrik.
Der gute Ruf als umweltfreundlicher Produzent wurde damit angekratzt. Der Streik fand ohne gewerkschaftliche Vertretung statt und kooperierte mit der Ökologiebewegung.
Ausführlicher dazu: www.labournet.de/internationales/gb/arbeitskampf.html


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Die Interventionistische Linke im Wald

Die Bullen haben eingeräumt, den Castor-Transport erstmals mit einer Mini-Drohne überwacht zu haben. Das Gerät soll rund 47.000 Euro kosten.
Der mit Kameras bestückte Drehflügler sei während des Castor-Transports viermal verwendet worden, sagte eine Sprecherin der Polizeidirektion Lüneburg und bestätigte Angaben der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg.

Raute

Italienfans, Ihr könnt verstaubte Archive wegschmeißen!

In der Beilage zu Wildcat 83 "Ausgrabungen" hatten wir drei Artikel abgedruckt, die sich mit dem linken Zeitschriftenprojekt Primo Maggio beschäftigten. Die Beilage zu Wildcat 85 "Geld und Krise" bestand aus einem Artikel von Sergio Bolgona aus Primo Maggio Nr. 1 vom September 1973. Schon in der Beilage zur 83 hatten wir das Erscheinen eines Buches in Italien angekündigt, das sich mit dem Zeitschriftenprojekt beschäftigt und zudem eine DVD mit allen Artikeln aus den Jahren 1973-1989 enthält.

Der von Cesare Bermani herausgegebene Band ist nun endlich im Verlag DeriveApprodi erschienen. Der erste längere Text von Bermani und Bruno Cartosio zeichnet ausführlich die schwierige Geschichte des der Arbeiterautonomie verpflichteten Projekts vor dem sich rasch wandelnden politischen Hintergrund im Italien der 70er und 80er Jahre nach: Aufspaltung der Autonomia, 77er Jugendbewegung, Verselbständigung bewaffneter Gruppen, Niederlage der Fiat-Arbeiter 1980. Und gleichzeitig die Debatten (und Zerwürfnisse) innerhalb der Redaktion und mit anderen Strömungen der Autonomia, um Versuche einer Positionsbestimmung, radikale Geschichtsschreibung, die Arbeitsgruppe zum Geld, Feminismus - bis zum letzten Versuch eines "Relaunchs" im Frühjahr 1989. Der Band enthält außerdem Aufsätze von Stefano Lucarelli, Sergio Bologna, Santo Peli, Alberto De Lorenzi, Riccardo Borgogno, Valerio Evangelisti und Karl-Heinz Roth (den aus der Beilage zu Wildcat 83).

Cesare Bermani (a cura di)
La rivista Primo maggio
(1973-1989)
176 Seiten + DVD, 20 Euro
978-88-89969-92-2
www.deriveapprodi.org


*


"Ihr habt teuer bezahlt, Ihr habt noch nicht alles bezahlt"

­... war eine Parole der Autonomia, die Ende der 70er Jahre an unzählige Hauswände gesprüht wurde. Sie ist Titel der schon vor zwei Jahren ebenfalls bei DeriveApprodi in der Reihe "Biblioteca dell'Operaismo" erschienenen Sammlung aller in der Zeitung Rosso erschienenen Artikel auf DVD, begleitet von drei Aufsätzen von Tommaso De Lorenzis, Valerio Guizzardi, Massimiliano Mita. Rosso war die Zeitung des bewegungsorientierten Flügels der Autonomia organizzata um Toni Negri in Mailand und politischer Widerpart zu Primo Maggio.

Tommaso De Lorenzis, Valerio Guizzardi, Massimiliano Mita
Avete pagato caro. Non avete pagato tutto
La rivista Rosso (1973-1979)
108 Seiten + DVD, 18 Euro
978-88-89969-40-3


*


Auch das Porto Marghera-Projekt ist weiter gegangen.

In Zusammenarbeit mit dem "Arbeiterarchiv Augusto Finzi" hat Devi Sacchetto 25 Interviews mit ehemaligen AktivistInnen der Autonomen Versammlung gemacht. Zusammen mit Gianni Sbrogiò (siehe Interview in Wildcat 78) hat er die sehr lesenswerte Essenz dieser Interviews zusammen mit Beiträgen aus den beiden Konferenzen in Mestre (von Massimo Cacciari, Toni Negri, Karl Heinz Roth, Gianni Sbrogiò) veröffentlicht. Das Buch erschien schon im letzten Jahr bei manifestolibri unter dem Titel "Quando il potere è operaio" - deutsch etwa: "Wenn die Macht Arbeitermacht ist". Autonomie und politische Subjektivität in Porto Marghera 1960-1980. Dem Buch liegt eine DVD bei, die Manuela Pelerin aus den von ihr gefilmten Interviews erstellt hat.

D. Sacchetto - G. Sbrogiò
Quando il potere è operaio
+ DVD Gli anni sospesi
2009, 288 Seiten, 24 Euro
manifestolibri


*


Ein ganz anderes Vorhaben ist die Enzyklopädie L'altronovecento - comunismo eretico epensiero critico - Das andere 20. Jahrhundert - Häretischer Kommunismus und kritisches Denken, das von der Fondazione Luigi Micheletti in Brescia konzipiert wurde. Kürzlich ist der erste 655 Seiten starke Band erschienen mit dem Titel: L'età del comunismo sovietico, Europa 1900-1945. Er enthält ca. 50 Beiträge von linken/marxistischen/libertären Autoren zu Revolution, Krieg, Kommunismus, Linkskommunismus, Antistalinismus, Anarchismus und einzelnen Protagonisten, von AutorInnen wie Gianni Carozza, Riccardo Bellofiore, Marco Revelli, Peter Kammerer usw.

Der Band ist erschienen bei JacaBook in Mailand und kostet 40 Euro. (ISBN 978-88-16-40901-9)

Raute

Aufstand der Zwischennutzer

"Am 29. November 1983 versammeln sich rund 650 Mitglieder des 'Hamburger Überseeclubs' der erste Herrenclub der Stadt - im Festsaal des Atlantikhotels an der Alster, um einem Vortrag des Ersten Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi beizuwohnen... Der 55jährige Sozialdemokrat, Anwalt und ehemalige Leiter der Planungsabteilung in den Ford-Werken wird die anwesende Wirtschaftselite überraschen: Unter dem Titel 'Unternehmen Hamburg' fordert er eine neue 'Standortpolitik', die auf den wirtschaftlichen Strukturwandel reagiert. ... Hamburg dürfe sich nicht in eine Stadt verwandeln, 'in der die sozial Schwächeren zwar ihre Chance haben, aber die sozial Starken, also Besserverdienenden, das heißt die kräftigeren Steuerzahler, sich abgewiesen fühlen.' ... 'Und dies, meine Damen und Herren, ist nicht nur eine wirtschaftspolitische und nicht nur eine unternehmenspolitische Aufgabe, es ist auch eine Frage der geistigen Orientierung." (S. 27f)

Mit dieser Grundsatzrede liegt Dohnanyi 1983 im Trend. Es ist die Ära von Thatcherismus und Reagonomies - und der Operation '82, die ja noch seine Partei, die SPD, auf den Weg gebracht hatte. Damals wie heute: die SPD setzt die scharfen Einschnitte durch, die CDU verwaltet sie nur. In Hamburg, Stuttgart und einigen anderen Städten inzwischen in Zusammenarbeit mit den Grünen. In Stuttgart war den Grünen die Machtbeteiligung wichtiger als das Verhindern von S21, in Hamburg Altona kämpfen sie gemeinsam mit der CDU gegen die AnwohnerInnen, die ein IKEA-Kaufhaus verhindern wollten: "Der Stadtteil sei dem 'Niedergang geweiht', erklärt die Vorsitzende der GAL auf einer öffentlichen Anhörung im September 2009, und ihr CDU-Kollege ergänzt: 'Wir werden alles dafür tun, dass sich IKEA hier ansiedeln kann." (S. 66) Inzwischen ist der Bau beschlossen.


"Kreative Klasse" oder "Immobilienverwertungskoalitionen"?

Twickel arbeitet knapp aber deutlich die Etappen seit dieser "Wende" heraus: 'Wie Public-Private-Partnership-Projekte durchgesetzt wurden mit der Behauptung, der Staat müsse sich zurückziehen und entlastet werden; und wie diese ein ums andere Mal gigantische Schuldenlöcher erzeugten, die mit Steuergeldern gestopft wurden. Was hinter dem Argument der GAL, vom "Niedergang" eines Stadtteils steckt: "'Der Funktionsverlust insbesondere der Großen Bergstraße manifestiert sich in einer anhaltend sinkenden Kaufkraftbindung', oder anders gesagt: es kann noch so viel auf der Straße los sein - wenn die Passanten keine Umsatzbringer sind, liegt eine Störung vor. Solche Niedergangsszenarien und Schandfleck-Diskurse sind die Begleitmusik für die Erschaffung von innerstädtischen Shoppingweiten - einer der zentralen Angriffspunkte des Immobilienmarktes. Seit 1990 haben sich die Verkaufsflächen in den Stadtzentren nahezu verdoppelt." (S. 14) Wo das nicht möglich war, wurden Einkaufsstraßen in Business Improvement Districts (BID) verwandelt, "ein Instrument zur Teilprivatisierung des öffentlichen Raumes, das Hamburg 2005 als erstes Bundesland in Deutschland eingeführt hat." (S. 14) "... so unschuldig die Forderung nach 'Aufwertung' und 'Belebung' auch daherkommen mag - de facto ist sie das Bekenntnis der öffentlichen Hand, die Initiative dem Immobilienmarkt zu überlassen." (S. 17)

Das darf keinesfalls als "der Staat zieht sich zurück" verstanden werden. Der Sozialwissenschaftler Andrej Holm nennt diese Machtblöcke aus Investoren, Bauwirtschaft, Banken und Politikern treffend "Immobilienverwertungskoalitionen" (S. 68) Auch hier wieder die Parallele zu Stuttgart21, wo die Verkehrs- und Umweltministerin gleichzeitig Vertreterin der Immobilienspekulanten ist, die das Bahnhofsgelände "verwerten" wollen.

Der deutsche Staat stellt dafür die Weichen. Hatte man von 1949 bis 1973 rund zwölfeinhalb Millionen neue Wohnungen gebaut, die Hälfte davon Sozialwohnungen, setzt man seit Anfang der 80er Jahre auf "Ungleichheit als Anreizsystem" (S. 29).

Der Autor zeigt auf, dass Richard Floridas Theorie von der "Kreativen Klasse" eine wichtige Modernisierung des Thatcherismus ist. "Wir haben herausgefunden, dass die Ungleichheit in den kreativen Epizentren der USA am größten ist." (Vorwort von The Rise of the Creative Class) Und stellt trocken fest: "2007 machen die Grünen in Hamburg Floridas Thesen zum Parteiprogramm für den Wahlkampf zur Bürgerschaftswahl." (S. 61f.) Aus diesen Wahlen ging im Mai 2008 die erste schwarzgrüne Koalition auf Landesebene hervor (auf kommunaler Ebene läuft das schon länger und inzwischen in ca. zwei Dutzend Städten, darunter Frankfurt und Stuttgart).

Nochmal Dohnanyi: "... diejenigen Standorte werden in Zukunft die größten Chancen haben, die nicht nur im Bereich von Wissenschaft und Technik überlegen sind, sondern die auch durch Wohnqualität, Freizeitwert und Kultur die größte Anziehungskraft auf diejenigen Menschen ausüben, die Schöpfer der neuen Industrien und Dienstleistungen sind. Denn der Kopf bringt seinen Standort mit." (S. 29)

Twickel hält fest: wenn "eine Stadt wie Hamburg mit kommunalen Mitteln knausert, um Schlaglöcher zu beseitigen, den Betrieb von Museen oder sozialen Einrichtungen aufrechtzuerhalten" so ist das kein Widerspruch, sondern "ganz im Gegenteil: die Rücksichtslosigkeit, mit der städtische Politik das Gemeinwesen für ihre Landmark-Projekte in Haftung nimmt, [ist] vertrauensbildende Maßnahme für den Standort." (S. 49)


Komm in die Gänge!

Im Sommer 2009 wurde in Hamburg das Gängeviertel besetzt; im November darauf das Manifest Not In Our Name, Marke Hamburg veröffentlicht (Twickel gehört zu den Unterzeichnern; das Manifest ist im Buch nachgedruckt). Im Dezember 2009 teilte der Hamburger Senat mit, dass der Verkauf an einen Investor rückabgewickelt werde, um "eine Projektkonzeption mit breiterem öffentlichen Konsens" zu ermöglichen. Die Initiative Komm in die Gänge will "ein selbstverwaltetes, öffentliches und lebendiges Quartier mit kulturellen und sozialen Nutzungen" schaffen. Twickel stellt fest: "Die Besetzer und Supporter des Gängeviertels rekrutieren sich ausgerechnet aus jenem bohemistischen Milieu, um das laut Richard Florida Metropolen heute besonders werben müssen, wenn sie wirtschaftlich oben mitspielen wollen." (S. 79)

Schon am Anfang des Buchs wurde die Grundsatzfrage gestellt: "Wie soll man etwas bekämpfen, das man doch selbst produziert hat?" (S. 5) Produziert? An anderen Stellen arbeitet Twickel die tatsächlichen Produzenten von Gentrifizierung heraus. Das "bohemistische Milieu" ist lediglich der Schmierstoff bei diesem Prozess, oder genauer: Sie sind "Zwischennutzer".

"Kulturelle Zwischennutzungen" befördern den Ruf der Städte als Popkultur-Trendsetter, das ist inzwischen sogar in Politikerkreise durchgesickert. Vor einem Jahrzehnt entdeckten Markenstrategen "die Großstädte als Kulisse für Produktinszenierungen, die subkulturelle Aneignungsstrategien nachahmen." (S. 55) Solche Stadtbespielungen können "konkurrenzlos günstig" in Szene gesetzt werden, "was nicht zuletzt am Arbeitsethos und der Konkurrenzsituation in der freien Kulturszene liegt, aus der sie sich rekrutieren. Die sich von Projekt zu Projekt hangelnden freien Künstler sind gewohnt, die kargen Fördersummen mit Idealismus, Selbstausbeutung und Brotjobs zu ergänzen. Gerade auch ihr dissidentes Potential schafft einen Imagegewinn für den stadtentwicklungspolitischen Rahmen, in dem solche Kulturprojekte stattfinden." (S. 65)

Twickel sieht richtigerweise in der Produktivität dieser Kooperation sowohl ihre Bedeutung für die kapitalistische Stadtentwicklung, wie die sozioökonomische Basis des Widerstands: "das handwerkliche, bau- und finanztechnische Wissen, das sich Aktivisten im Verlauf dieser Prozesse angeeignet haben, hat seinen Niederschlag in alternativen Bauträgern, Genossenschaften, Wohnprojekten oder Mieterorganisationen gefunden, die teilweise bis heute bestehen." (S. 109)

Aber sein Versuch, diese sozialen Figuren gegen Floridas "Urban Professionals" zu sammeln, geht ins Leere - weil er wiederum die eigene Rolle überschätzt und etwas widerlegt, was gar nicht behauptet war: "Weder der Automechaniker einer brasilianischen Favela, der ohne Original-Ersatzteile einen 70er-Jahre-Ford wieder zum Laufen bringen muss, noch die Organizerin der unabhängigen Dienstleistungsgewerkschaft, die einen Arbeitskampf mit prekär beschäftigten Putzleuten führt, noch der Projektleiter einer Jugendhilfe-Einrichtung, der an einem Drogenpräventions-Programm arbeitet, gehören dazu." (S. 60f.) Eben! Florida meinte mit "kreativer Klasse" ja auch gar nicht die KünstlerInnen. Letztere sind nur Standortfaktor, sie sollen erstere anlocken und ihnen das Leben vergnüglich machen.


Schluss mit dem Zerknirschtheits-Mantra!

Aber wie schon der Schattenblick in seiner Rezension angemerkt hat: "Nicht erwarten darf man von dem Buch hingegen, dass in ihm die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Gentrifizierung prinzipiell hinterfragt werden. Das ist nicht Twickels Anliegen..."

Sein eigentliches Anliegen ist Promotion für den "wohl berühmtesten Häuserkampf im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends: die Besetzung des Hamburger Gängeviertels." (S. 72) Und das macht er bei manchen inhaltlichen Unschärfen gut. Dieser neue Aufbruch, die Solidarisierung kommt rüber. "... auf einmal machte es einfach mehr Sinn, sich mal ganz prinzipiell mit den Parias zu identifizieren, als sich ad infinitum das alte Zerknirschtheits-Mantra vorzubeten" (S. 106)

"Ich glaube ja, dass die Finanzkrise hier noch in ganz anderer Weise dem Gängeviertel zugespielt hat. Seit diesem Crash redet man plötzlich wieder ganz anders über Kollektivität. Uns haben unheimlich viele Menschen besucht, die sich plötzlich Gedanken darüber machen, was ist, wenn der Sozialstaat kollabiert." (S. 99 - aus dem Gespräch "Wir wollten in das Herz der Stadt"; Kapitel 6 im Buch)

Christoph Twickel: Gentrifidingsbums oder eine Stadt für alle.
Erschienen in der Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenburg, Hamburg 2010,
128 Seiten, 9,20 Euro.


www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar544.html

Raute

Arbeitskampffähig werden?

Peter Birke veröffentlichte 2007 ein wichtiges Buch über Wilde Streiks im Wirtschaftswunder in der BRD und in Dänemark. Mit ihm wollte er "das Gedächtnis an die heftigen Konflikte, die die Arbeitsbeziehungen der 1950er bis 1970er Jahre kennzeichneten, wachhalten" (S. 55). In seinem neuen Buch beschäftigt er sich mit einem aus dem angloamerikanischen Raum stammenden Versuch, die Krise der Gewerkschaften mit vermeintlich neuen Formen gewerkschaftlicher Organisierung zu überwinden: Organizing - ein bekanntes Wort für Wildcat-LeserInnen, wir haben schon zweimal darüber geschrieben.

Die Motivation für dieses Buch kam Birke deshalb, weil mittlerweile viele AktivistInnen aus seinem Umfeld zu professionellen Organizern geworden sind, "die meisten, ohne je zuvor etwas mit Gewerkschaften zu tun gehabt zu haben oder haben zu wollen" (S. 13). Dabei wurde der Autor in Gespräche über Kollektivität, über die Rolle von Gewerkschaften, Betriebsräten, Vertrauensleuten und über Arbeitspolitik verwickelt. Er grub sich durch die neuere deutsch- und englischsprachige Literatur, führte Gespräche mit Beteiligten und schnupperte einen Tag in ein Organizing-Projekt an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) hinein.

Birke verortet sich selber in der radikalen Linken - Organizing als Methode, ArbeiterInnen gewerkschaftlich zu organisieren (vor allem geht's dabei um "Mitglieder werben"), ist nicht linksradikal. Zu erwarten war also eine kompetente und ausführliche Kritik am Organizing. Das Buch leistet dies jedoch nicht, es ist trotz sehr differenzierter Formulierungen letztlich ein "Plädoyer für Organizing" (S. 180)

Zuerst schildert Birke seine Erfahrungen an der MHH und wie die etwa 20 in diesem Organizing-Projekt aktiven Leute vorbereitet wurden. Man liest über miese Arbeitsbedingungen, wütende, aber zögernde, teils resignierte KollegInnen und motivierte ver.di-AktivistInnen, die als "hauptamtliche Organizer" mit Sozialtechniken versuchen, die KlinikarbeiterInnen für Organisierung zu begeistern. Birke diskutiert die Rolle von Internen und Externen, die ablehnende Haltung einiger ArbeiterInnen zur Gewerkschaft und die "nicht zu unterschätzende Chance, die alle Organizing-Projekte in sich bergen [...]: die Öffnung eines sonst diskreten Raums, in dem wir uns alle mehr oder weniger bewegen: der Alltag der Fabriken, Büros, Gefängnisse [?!?], Familien, Wohnanlagen, Arbeitsämter, Krankenhäuser" (S. 23).


"Öffnung eines sonst diskreten Raums"

In einer kurzen Reise durch die 1950er, 60er und 70er Jahre will Birke "die methodischen Wurzeln des Organizing-Prinzips" in Frankreich (Socialisme ou Barbarie), Italien (Operaismus) und Deutschland ("linke Minderheit in der IG Metall") offenlegen. Er schüttet sie aber gleich wieder zu, denn in den heutigen "prekarisierten Arbeitsverhältnissen", in der "zeitlichen und räumlichen Entgrenzung der Arbeit" sei im Unterschied zu damals "der geschlossene und homogene Raum der Fabrik praktisch aufgehoben". (S. 35)

Dabei macht Birke drei Fehler. Er unterschlägt erstens, dass die conricerca nach den Kräften suchte, die den Kapitalismus umstürzen können - während heutige Organizing-Modelle sich auf die "Zivilgesellschaft" stützen. Organizing sucht zweitens gar nicht nach einem kollektiven Klassensubjekt, alle im Buch beschriebenen Kampagnen und Projekte spielen sich im sogenannten Dienstleistungssektor ab (das von Birke im dritten Teil erwähnte Interesse der IG Metall am Organizing bleibt den LeserInnen verschleiert). Organisiert werden ArbeiterInnen in Krankenhäusern, Reinigungskräfte, Wachpersonal, Call Center-ArbeiterInnen - all die, die von der Gewerkschaft als "prekär" und "hilflos" eingestuft werden. "Schwache", die sie fuhren können und bei denen sie sich ausrechnen, dass entsprechende Mitleidskampagnen um "Würde", "Anerkennung" und "Respekt" auf gesellschaftliche Akzeptanz stoßen. Das wird dann als "Erfolg" verkauft. Das geht nur deshalb durch, weil Birke drittens mediale Inszenierungen, bei denen alles der Gewinnung von neuen Gewerkschaftsmitgliedern untergeordnet ist, als "Kampf" ausgibt. (Vom Autor des Wilde-Streiks-Buchs hätte man hier größere Trennschärfe erwartet!) Da kann schon mal die durchgesetzte Erhöhung des Stundenlohns der Hamburger Sicherheitsleute von 6,10 auf 6,34 Euro als Erfolg verbucht werden - auch wenn die Organizer ursprünglich mindestens 7,50 Euro als Ziel hatten. Birke zitiert den ver.di-Fachbereichsleiter Peter Bremme, der diesen miesen Abschluss im ver.di-Werbebuch Never work alone in einen Erfolg umdeutet: "Gewerkschaft wurde für viele Kollegen und KollegInnen erstmals seit vielen Jahren wieder wahrnehmbar" (S. 145).

Die Fehler hängen mit Birkes Verständnis von Kapitalismus zusammen. Er setzt nicht den Antagonismus im Arbeitsprozess zentral, sondern versteht den Dienstleistungsbereich als Schnittstelle zwischen "Betrieb" und "Gesellschaft" - auch wenn er das nie offen sagt, sondern mit Verweisen auf die statistische Zunahme von Streiks und Kämpfen im Dienstleistungssektor oder mit Beverly J. Silver-Zitaten suggeriert.

Ärgerlich ist sein falsches Zitat von Wildcat (S. 28). Damit bastelt er sich einen Pappkameraden mit Namen operaistischer Purismus, um gewerkschaftlichen Interventionen von außen eine Blankovollmacht auszustellen. "Wir brauchen diese Externen, wir müssen imstande sein, uns selbst neben diese Zumutungen zu stellen, mit denen wir konfrontiert werden" (S. 29). Im zitierten WC-Artikel ging es aber gar nicht darum, jede externe Intervention zu verurteilen (das würde jedes politische Engagement ad absurdum führen), sondern es sollte die Illusion bekämpft werden, dass man als "weiße Wand" dienen kann, auf die das "wahre Wollen" der KollegInnen gemalt wird. Man ist immer Teil der Situation, man wird als KollegIn wahrgenommen, als politischeR AktivistIn, als JournallstIn ... oder eben als VertreterIn der Gewerkschaft. Der jeweiligen Rolle entsprechend wird man Aussagen bekommen. Birke verdreht unsere Kritik, um über seinen eigentlichen Schwachpunkt hinüberzukommen: Er setzt sich nicht in eine soziale Beziehung zu den KollegInnen, mit denen er über seine eigenen bzw. ähnliche Probleme reden kann und mit denen man gemeinsam lernt, sondern seine Perspektive und die des Organizing ist die des Überlegenen, der dem "armen" Ausgebeuteten was beibringen will, ihm hilft.


Aneignung des Rings?

Am Ende des ersten Teils erzählt Birke aus den 80er Jahren; damals habe er als Zivildienstleistender gegen die Gewerkschaft gestreikt und IG Metall und IG Druck und Papier hätten die Forderung nach einer 35-Stunden-Woche gegen eine Flexibilisierung der Arbeitszeit eingetauscht. Dafür jedoch will er die heutigen GewerkschafterInnen nicht verantwortlich machen - ihnen gehe es nämlich um einen "Bruch" mit der bisherigen Gewerkschaftspolitik, um die "Organisierung der Unorganisierbaren" (S. 45). Kurze Anmerkungen zu Marx, Engels, Luxemburg, Lenin, Lukács und der deutschen Sozialdemokratie werden mit heutigen Fragen nach Gewerkschaftsrealität und -ideal konfrontiert. Zu Recht kritisiert Birke die staatstragende und ordnungspolitische Funktion der Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg und den unerschütterlichen Glauben an deren Reformierbarkeit - sogar dann noch, nachdem sie sich scharf von den 1968er Revolten distanzierten. Zudem leide die Gewerkschaftsforschung an einer "traditionellen Vergesslichkeit", weil sie "soziale Kämpfe" als Ursache der gesellschaftlichen Veränderungen nicht erwähnt (S. 55).

Birke stellt dem das Organizing gegenüber, das kein "Boxen und Tanzen" sei, verstanden als erst mit kollektiven Aktionen drohen, dann sich mit den Kapitalisten an den Tisch setzen und über den Preis der Ware Arbeitskraft verhandeln. "Organizing [...] ist die mögliche Aneignung des Rings durch eine neue soziale Figur, die auf der Grundlage der bis jetzt noch sehr verstreuten Konflikte ihre sozialen und politischen Rechte einfordern wird" (S. 67). Der Autor fasst seine Vorstellungen über eine "andere Gewerkschaftspolitik" in Anlehnung an die "andere Arbeiterbewegung" im Begriff der "anderen Assoziation" zusammen. "Anderssein würde in diesem Falle bedeuten, dass alles damit anfängt, sich nicht mehr einfach in den Arbeitsalltag zu fügen, betriebliche Konflikte zu artikulieren, auf Veränderungen zu drängen" (S. 62f.). Über Organizing würde so etwas wie eine gewerkschaftliche Gegenmacht entstehen, die "eine Verbindung zwischen der alltäglichen Ohnmacht und der wirklichen Macht der Arbeitenden schafft" (S. 69). Birke stoppelt sich ein ideales Bild von Organizing zusammen und macht das, was er ein paar Seiten vorher kritisiert hatte: "Auch in der Linken wird oft so über Gewerkschaften gesprochen, dass es eher darum geht, wie sie sein sollten, als darum, wie sie sind. [...] Ansprüche werden hier oft nicht durch die trübe Realität gefiltert". (S. 45f.)


Bruch mit der Stellvertreterpolitik?

Im zweiten Teil umreißt Birke die Diskussion über die Gewerkschaftskrise. Den Mitgliederverlust seit den 80er Jahren versuchen die Gewerkschaften u. a. mit internationalen Zusammenschlüssen, die Verhaltensregeln (codes of conduct) für multinationale Konzerne formulieren, zu kompensieren. Der Autor kritisiert diese Strategie als unzureichend ("keine Bestimmungen über Arbeitsbedingungen, Löhne, Arbeitszeiten") und korporatistisch, weil die Unterschrift der Kapitalisten Arbeitskämpfe aufhebt. Unverständlich bleibt, warum Birke trotzdem mit diesen codes sympathisiert. Sie hätten wieder mit Bremme liebäugelnd - das Potenzial, Dinge durchzusetzen, die woanders schon selbstverständlich seien. Dabei gehe es vor allem um institutionelle Rechte - was wohl kaum Ziel radikaler Organisierung sein kann. Wie verkehrt das wird, zeigt die Idee des Gewerkschaftsfunktionärs Stephen Lerner. Er macht sich für eine "Weltgewerkschaftsbewegung" stark, die von den Lead Organizern der US-Dienstleistungsgewerkschaft SEIU angeführt wird und dort ansetzen soll, wo sich seiner Vorstellung nach die "Maschinenräume des globalen Kapitalismus" befinden: in den Firmengebäuden von internationalen Finanz- und Immobiliendienstleistern. Zuerst dort sollen Mindestbedingungen ausgehandelt werden, die dann im Idealfall überall gelten sollen. Da gibt auch Birke zu: "diskursiver Schrumpfungsprozess" (S. 87).

Was die codes nicht leisten können, hat auch der social movement unionism nicht geleistet. Die Debatte um eine "Soziale Gewerkschaftsbewegung", die mit den Kämpfen im globalen Süden der 90er einsetzte (im Buch wird kurz auf Südafrika und Südkorea eingegangen), scheiterte schlussendlich an der illusorischen Hoffnung auf eine überhistorische Organisationsform, die "eine dauerhafte Identität zwischen sozialen Kämpfen und 'jener' authentischen Organisation, die sie repräsentiert" (S. 93), ermöglichen sollte. "Wie im Zeitraffer scheinen die innergewerkschaftlichen Konflikte, die wir im Norden kennen, in den Ländern des globalen Südens abzulaufen" (S. 95). Aber auch hier findet Birke wieder etwas gut. Die Gewerkschaften werfen Fragen auf; wie sie "antirassistische Kampagnen, internationale Solidarität oder die Erfahrungen der feministischen Bewegung" (S. 95) in ihre Politik integrieren könnten. Dabei sieht Birke nicht, dass dies bloß die Reaktion einer bröckelnden Gewerkschaftsmacht ist, die auf linke Theoriemoden reagiert und sich so zu modernisieren versucht. Er erwähnt auch nicht, dass diese ganzen Suchbewegungen, die mit immer neuen Begriffen und "Perspektiven" nach einem Universalschlüssel suchen, den sie bloß ins richtige Loch schieben müssten, ein Ausdruck fehlender Beispiele von Arbeiterautonomie und der Krise eines revolutionären Marxismus sind. Da tut es eine Zeit lang gut, über die Versuche in den Workers Centers in einigen US-Großstädten zu lesen, die Diskussionen über Arbeitsbedingungen, Migration und Alltag von den direkt Betroffenen forcierten. Leider sei es auch um diese "Quelle der Organizing-Politik [...] still geworden" (S. 95ff).

Mitten im Buch erfahren wir im sechsten Kapitel "Belebung und Bürgerkrieg in den USA" etwas über interne Gewerkschaftskonflikte, eine BRD-Rundreise eines US-Gewerkschaftsaktivisten und über die machthungrige SEIU die mit ihren steigenden Mitgliederzahlen auch in Deutschland auf Begeisterung stößt, deren Methode jedoch - "Wachstum um jeden Preis" - zunehmend in Kritik gerät. Dabei spielen sweetheart deals eine Rolle: Die SEIU-Führung stimmt Lohnkürzungen und dem Streikverzicht zu, damit sie ArbeiterInnen aus dem Unternehmen als Mitglieder aufnehmen darf. Die Basis wird indes übergangen und es kommt zum offenen Konflikt. Was das alles mit Bürgerkrieg zu tun hat, bleibt auch nach mehrmaligem Lesen unklar, wenngleich Loren Goldner in seinem neuen Artikel zum SEIU-Chef Andy Stern ebenfalls von "open civil war" spricht. Es geht bei dem Fall um ehemalige, mit der eben beschriebenen SEIU-Politik unzufriedene (Basis-)AktivistInnen, die sich über die Gründung einer neuen Gewerkschaft von ihrer früheren abgrenzen wollen, weil die SEIU-Führung alles zentralisieren will. Mittendrin kommt es zu antisolidarischen Situationen, bei denen Mitglieder nach politischen Kriterien entlassen, Geld und Posten hin- und hergeschoben werden. Was sich hier zeigt, ist aber viel mehr eine Kritik von unten an der nach autoritären Managementmethoden geführten SEIU; und das ist deshalb interessant, weil sie als Paradebeispiel für Organizing gilt.

Birke misst diesem Gewerkschaftskonflikt große Bedeutung für die internationale Gewerkschaftsbewegung bei, weil sich hier herauskristallisiere, "was Organizing ist oder sein soll". Wichtig deshalb sein Satz mit Bezug auf § 2 des Betriebsverfassungsgesetzes ("Friedenspflicht"): "Organizing-Projekte und andere Formen einer kämpferischen, aktiven Betriebspolitik müssen auch mit der Stellvertreterpolitik des Betriebsverfassungsgesetzes brechen und auf Basisdemokratie und ständige Kontrolle der Repräsentanten setzen" (S. 110). Wie war das vorher mit den Ansprüchen und der trüben Realität?


Protestmanagement

Im dritten Teil merkt man am besten, wie Birke dauernd versucht, die Widersprüche des Organizing in "Voraussetzungen schaffen" (S. 120) oder "hoffen wir das beste" (S. 176) aufzulösen. Er stellt verschiedene Organizing-Projekte vor, erzählt, wie wichtig die Schlecker-Kampagne Mitte der 90er war, und zeigt, dass, wenn man von außen Konflikte herbeiführen will, das auch nach hinten losgehen kann.

Es ist gleichzeitig der beste und schlechteste Teil im Buch: Der beste, weil er viel über die konkreten Projekte informiert und die Widersprüche erläutert. Bei der Lidl- und Tectum-Kampagne fühlten sich die ArbeiterInnen von der Gewerkschaft falsch beurteilt; an der MHH tauchte das Problem auf, wenn die Organizer wieder abgezogen werden, bricht das Pflegenetzwerk zusammen; es entstand Konkurrenz zwischen Betriebsräten und Organizern; beim Projekt im Hamburger Sicherheitsgewerbe waren die gewerkschaftlichen Hierarchien nicht aufknackbar ("'top down' initiiert"), usw. Zusätzlich kritisiert Birke die "mangelnde Transparenz" bei der Auswertung von Kampagnen. Der "euphorische Ton [...] verschüttet die Debatte, noch bevor sie begonnen hat" (S. 147).

Aber es ist auch der schlechteste Teil, weil Birke bei manchen Dingen erschreckend kritiklos bleibt. Er erwähnt das Ranking, das Organizer intern machen müssen und Leute systematisch als für die Gewerkschaft nützlich oder nicht benotet. Es ist "... eine Technik, die die Resultate des 'Zuhörens' systematisieren und hinsichtlich einer möglichen Operationalisierung strukturieren sollte" (S. 144). Das steht wirklich so im Buch, verfällt distanzlos in die eklige Sprache der Management-Literatur. Ein Organizer der IG Bau ging aufgrund des großen Erfolgsdrucks auf den Friedhof und notierte sich die Namen von Toten, um sie als neu geworbene Mitglieder auszugeben. Birke problematisiert den Status dieser "prekären Organizer" aber nur hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, das heißt dem Inhalt nach (die Honorare sind zu niedrig, die Arbeitszeiten nach oben hin offen, der Druck zu groß, ...), aber nicht ihrer Funktion nach: Organisierung in Lohnarbeit als Lohnarbeit/Beruf. "Neoliberal geprägtes Arbeitsverhältnis" hat es ein ehemaliger Organizer in der Wildcat 80 genannt.

Birke findet es für eine "genauere Positionierung" des Organizing wichtig, die beschriebenen Konflikte in "eine Art Typologie" einzuordnen (S. 180). Das geht dann so: 1. innerbetriebliche Konflikte, 2. Arbeitskämpfe ("Bruch mit dem Prinzip, alles aushalten zu müssen" [S. 183]), 3. Imagekämpfe. Bei den innerbetrieblichen Konflikten ist der "vielleicht größte Verdienst der Organizing-Projekte", dass "die KollegInnen lernen, miteinander zu sprechen, die Räume, in denen sie einen wichtigen Teil ihres Lebens verbringen, anders zu organisieren, die Verantwortlichkeiten und Inhalte, die von der Leitung vorgegeben und propagiert werden, offen zu hinterfragen" (S. 182). Am Ende sieht Birke die größte Chance für Organizing in einer "Neuzusammensetzung der bestreikten Betriebe und Branchen sowie der vielköpfigen Community der Streikenden" (S. 184). Er setzt dabei voraus, was eigentlich erst zu untersuchen ist: Die Neuzusammensetzung in der Krise.

Birke breitet sein Thema so aus, dass er nirgendwo aneckt: Linksradikale und Autonome können genau so dran Gefallen finden wie hochrangige Gewerkschaftsfunktionäre. Man fragt sich, warum er trotz seiner eigenen Erfahrungen mit den Gewerkschaften und seinen kritischen Ausführungen so viel Hoffnung und Wohlwollen in die Organizing-Versuche steckt. Dabei ist sein Gegengewicht in der Waagschale des Für und Wider nur ein diffuses "vielleicht lernt der/die eine oder andere KollegIn durch ein Organizing-Projekt ja was fürs Leben". Wenn wenigstens die beteiligten Organizer auch was für ihr Leben dabei lernen würden ... aber die Frage stellt er nicht mal - die Linken werden entweder Gewerkschaftsfunktionäre oder wollen nie wieder was mit betrieblichen Auseinandersetzungen zu tun haben. Der Preis, den man für diese im Einzelfall vielleicht tatsächlich auftretenden Erfahrungsprozesse zahlen muss, ist die (Re-)Legitimierung der Institution Gewerkschaft in der radikalen Linken.


Peter Birke: Die große Wut und die kleinen Schritte - Gewerkschaftliches Organizing zwischen Protest und Projekt.
Erschienen 2010 bei Assoziation A.

siehe auch:
Peter Birke u. Bart van der Steen: "Organizing ist kein Zaubertrank", Express 07/10
(www.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/erfahrung/vandersteen.html).
Ein Gespräch von Bart van der Steen mit Peter Birke über das Buch

Wildcat 78: Gewerkschaften auf neuen Wegen: wenn der Kollege zum Kunden wird

Wildcat 80: "New Labour" - "New Gewerkschaft", Kritik am Organizing, Teil II


Randnotizen

Birke zitiert so aus der Wildcat 80:
"Auf Seiten der linken Aktivisten, die sich für die Gewerkschaft einspannen lassen, wird offensichtlich unterschätzt, dass man weder als Wissenschaftler noch als Aktivist oder auch als Kollege jemals ein neutraler Kummerkasten ist. [...] Von außen können die Leerstellen nicht gefüllt werden, aber der Anspruch auf die Überwindung verknöcherter gewerkschaftlicher Strukturen und die Thematisierung der ganzen 'Bandbreite des prekären Lebens' ließe sich besser umsetzen, wenn sich die Aktivisten auf reale Konflikte der ArbeiterInnen einstellen würden."

Das, was Birke mittels eckiger Klammer verschweigt, ist extrem wichtig:
"Wenn man als Vertreter der Gewerkschaft den Leuten gegenüber tritt, wird man bei allen guten Vorsätzen immer das zu hören bekommen, was in der Vorstellung der Leute eine Gewerkschaft für sie tun könnte. D.h. auch hier wird es nicht funktionieren, im Auftrag einer Institution und für Geld etwas zu tun, und das dann mit eigenen Ideen zu füllen."


Loren Goldner: The Demise of Andy Stern and the Question of Unions in Contemporary Capitalism.

Der Artikel ist in der zweiten Ausgabe des Online-Magazin Insurgent Notes zu finden: http://insurgentnotes.com/2010/10/andy-stern/

Raute

Was bisher geschah

Aktuelle Situation in den USA

(update zu den Berichten in den Wildcats 83, 85 und 86)

In gewisser 'Weise sind die USA mehrere Länder, die von einer Außengrenze umschlossen werden. Die folgenden Anmerkungen beziehen sich teilweise auf das ganze Land, hauptsächlich aber auf die Region, in der ich lebe: den Ballungsraum Baltimore/Washington, D.C. Baltimore gehört zu den am stärksten von der Subprime-Krise betroffenen Städten. In American Casino, einer Dokumention über die Krise, wurde sie als Beispiel für die von den Subprimes angerichteten Verheerungen gezeigt. Ein von der Stadtverwaltung gegen Wells Fargo, eine der größten US-Banken, angestrengtes Verfahren wegen gezielter Werbung für Subprime-Kredite in Minderheiten-Stadtteilen, läuft immer noch. In einigen schwarzen Arbeitervierteln der Stadt befinden sich fast 40 Prozent des Wohnungsbestands in irgendeinem Schritt des Pfändungsverfahrens. (Inzwischen werden die hunderttausenden illegalen Zwangsräumungen skandalisiert, es ist aber schwer zu sagen, was dabei herauskommen wird; ich werde demnächst einen genaueren Artikel über das Phänomen des "Pfändungsstreiks" schreiben, also dass Leute einfach ihr Haus verlassen, um ihre Hypotheken nicht mehr abzahlen zu müssen.)

Es gab zwei Wellen von Pfändungen. Zuerst Pfändungen aufgrund von betrügerischen und skrupellosen Kreditvergabepraktiken: Kredite zu hohen Zinsen; "Flipping", d.h. Aufkauf eines Hauses durch Investoren und dann Weiterkauf zu krass erhöhten Preisen; Hypotheken mit variablen Zinssätzen, d.h. niedrigen Lockzinsen in den ersten paar Jahren und dann Zinserhöhungen, bei denen die monatlichen Ratenzahlungen so stark anstiegen, dass die Leute sie nicht mehr zahlen konnten. Diese Welle hat ihren Höhepunkt überschritten, obwohl viele Pfändungsverfahren noch nicht abgeschlossen sind.

Die zweite Pfändungswelle steigt immer noch an, und ein Ende ist nicht in Sicht. Ihre Ursache ist die steigende Langzeitarbeitslosigkeit.

So schlimm die Situation auch ist, der Ballungsraum Baltimore/Washington ist besser abgefedert als viele andere Teile des Landes, denn es gibt die Bundesregierung, eine diversifizierte Wirtschaft und einige der reichsten Vororte der USA, v.a. um Washington herum. Einen krassen Gegensatz zu diesem Reichtum bilden allerdings die Innenstädte von Baltimore und Washington mit Armuts- und Sterblichkeitsraten wie in Dritte-Welt-Ländern.

Die von Zwangsräumungen und Arbeitslosigkeit Betroffenen behandeln ihr Los wie eine private Schande, die man so weit möglich vor der Öffentlichkeit versteckt und individuell mit Hilfe von Familie, Gebeten usw. zu bewältigen versucht. Im Frühjahr war ich bei einer lokalen Konferenz von NGOs und Sozialorganisationen, die sich mit Pfändungen beschäftigen. Alle dort anwesenden Gruppen berichteten über ihre Verwunderung, dass niemand ihre Dienste wie Verhandlungen mit Banken und Hypothekengläubigern in Anspruch nehmen will, obwohl sie in einigen von Pfändungen am stärksten betroffenen Stadtteilen von Tür zu Tür gegangen waren.

Mehrere Gruppen gingen dann zu den schwarzen Kirchen, um nach dem Sonntagsgottesdienst direkt mit den Gemeinden zu reden. Und wieder die Mauer aus Scham und Schweigen. Eine Sozialarbeiterin erzählte, wie Pfarrer ihr später gestanden, dass sie selber von Pfändung bedroht waren, aber nicht wollten, dass jemand davon erfuhr. Sie berichtete auch über ein Ehepaar mittleren Alters, das jeden Sonntag zur Kirche kam und Geld in die Kollekte gab. Es versucht den Anschein aufrecht zu erhalten, obwohl es im Auto wohnt. Leute, die seit 20 Jahren in ihrem Stadtteil wohnen, ziehen nachts aus, damit sie nicht zwangsgeräumt werden, ohne ein Wort zu ihren Nachbarn. Es ist unbeschreiblich traurig.

Die öffentliche politische Diskussion im Land ist sehr abstrakt: Hat das Konjunkturprogramm etwas gebracht, kann das Land große Defizite verkraften, diese Art von technischen und bürokratischen Fragen weit entfernt von den Alltagsproblemen. Die unglaublichen Leiden, die die Krise verursacht, werden kaum auf der menschlichen Ebene thematisiert.

Als vor kurzem Millionen von Menschen die Arbeitslosenunterstützung gestrichen wurde, war das ein Test, um zu sehen, ob es dagegen Proteste gibt. Es gab keine, teilweise sicher auch, weil viele Leute es als politische Show sahen und keinen Moment an die dauerhafte Streichung glaubten. Tatsächlich wurde sie nach ein paar Wochen wiederhergestellt, aber die Langzeitarbeitslosen wurden ausgeschlossen, die wöchentlichen Zahlungen um 25 Dollar gesenkt und der Bezug um einen Monat verkürzt.

Bisher gibt es außer vereinzelten kleinen, lokalen Demos auf Initiative von Gewerkschaften und linken Bündnissen, keine Mobilisierungen gegen die Krise, nicht mal den Schimmer einer Vorstellung, welche Formen der Widerstand in Zukunft annehmen könnte. Die Maschinenbauergewerkschaft sponsort eine landesweite Arbeitslosengewerkschaft, die an Politiker schreiben und sich Aufkleber mit der Aufschrift "Hire US, America" ("Gib UNS [oder USA] Arbeit, Amerika") aufs Auto machen, eine kaum verhüllte protektionistische Kampagne im Sinne der aktuellen Gewerkschaftspolitik. Meinem Eindruck nach wird die Linke in dieser Weltwirtschaftskrise nicht stärker, sondern ihr Niedergang setzt sich weiter fort.

Sogar kleine Aktionen wie Proteste vor Banken und kleinere Hausbesetzungen, die es Anfang 2009 noch gab, sind eingeschlafen. Inzwischen ist es normal, sich an das düstere Klima anzupassen. Die Rezession, nach ihren Auswirkungen eigentlich eine Depression, führt zu tief sitzender und weit verbreiteter Unsicherheit. Diese wird noch Jahrzehnte andauern und das jetzt schon niedrige Niveau der Kämpfe dämpfen, disziplinieren und eindämmen. Sie zu überwinden wird nicht leicht sein, vor allem, weil niemand mit einem schnellen Wiederaufschwung und Wachstum rechnet, was früher, wenn die Unsicherheit abnahm und die ArbeiterInnen neue Zuversicht schöpften, zu neuen Kampfzyklen führte. Für absehbare Zukunft ist damit zu rechnen, dass Amokläufe, Selbstmorde und andere psychosoziale Anzeichen von Stress und Verzweiflung exponentiell zunehmen, die vorhandene Wut in die falsche Richtung geht und sich gegen in der Hackordnung tiefer stehende Gruppen wie ImmigrantInnen richtet.
(Curtis Price,)


*


Wuppertal

(update zum letzten Heft)

Im Sommer hat Wuppertal das größte Sparpaket seiner Geschichte beschlossen. "Wuppertal ist das arme Deutschland, heruntergebrochen auf eine Kommune. Eine Art Vorreiter. Die Probleme der Städte eines Landes konzentrieren sich in der Stadt, die am Strukturwandel und an den vom Bund abgewälzten Sozialleistungen scheiterte. Hier ist man am Ende eines Weges, der anderen noch bevorsteht" kommentierte die überregionale Presse. In der Zwischenzeit ist nochmal klarer geworden, dass es auch deshalb so hart und massiv verkündet wurde, um die "Bundes- und Landesebene" auf die Probleme der Stadt aufmerksam zu machen und unter Druck zu setzen. Das hat für Wuppertals Politiker auch halbwegs funktioniert. Es gab zwar keine neuen Gelder, aber in allen überregionalen Zeitungen wurde über Wuppertal diskutiert, und der OB wurde zum Sprecher des Bündnisses "Raus aus den Schulden" der 19 Städte mit Haushaltsperre.

Im Kleinklein des Wuppertaler Rates wurden bisher 60 Millionen Kürzungen beschlossen. Dabei ist sowieso klar, dass Wuppertal sich nicht "gesundsparen" kann. Das strukturelle Defizit ist so hoch, dass nur fortgesetzte massive Hilfen oder eine Bad Bank für Kommunen o.ä. es ausgleichen könnten. Wie Griechenland spart man trotzdem eisern, um "die Bereitschaft zu zeigen, seinen Beitrag zu leisten".

Ein Museum wurde geschlossen, zwei Stadtteilbibliotheken, drei Frei- und zwei Hallenbäder, ein Jugendzentrum. Der Zoo ist teurer geworden, ebenso der Eintritt für die Bäder und kulturelle Veranstaltungen. Die meisten Sparmaßnahmen werden aber so umgesetzt, dass Leistungen nicht komplett gestrichen, sondern gekürzt werden, Sozialleistungen z.B.; Freibäder werden ehrenamtlich betrieben; die Bürgerbüros haben statt an fünf nur noch an zwei Tagen geöffnet.

Mit der medialen Thematisierung des Sparpakets kam in Wuppertal auch Widerstand auf; ausgehend von den Protesten um das Schauspielhaus haben sich wie in der letzten Wildcat beschrieben zwei Bündnisse gebildet: WWS, die zusammen mit der Stadtverwaltung Druck auf Land und Bund ausüben wollen und Basta Wuppertal, das in der Zwischenzeit verschiedene Aktionen durchgeführt hat (Versuch von Gegenöffentlichkeit durch eigene Webseite und politische sowie kulturelle Veranstaltungen, Stadtrat beobachten, öffentlich auftreten, mit anderen Leuten ins Gespräch kommen...). Damit ist es zu einer Bezugsgruppe in der Region geworden, die andere bei ihren Aktionen unterstützt, und insgesamt mehr Aufmerksamkeit für das Thema geschaffen hat. Behilflich war dabei auch die Entwicklung in anderen Städten, v.a. im Hamburger Gängeviertel ("Recht auf Stadt"; siehe auch die Buchbesprechung in diesem Heft).


*


Befristungen, Leiharbeit, Niedriglöhne

Inzwischen ist eine Kritik an den deutschen Exportüberschüssen gängig, die diese auf die sinkenden Löhne in der BRD zurückführt. Oft zitierte Untersuchungen des Deutschen Institutsfür Wirtschaftsforschung (DIW) zeigen beispielsweise, dass "die Entgelte je Arbeitnehmer" zwischen 2000 und 2008 inflationsbereinigt um neun Prozent gesunken sind. Kein anderes EU-Land habe einen "derartigen Einbruch des Lohnniveaus verbucht". Bei diesen Zahlen wird oft darüber hinweggesehen, dass die im Durchschnitt sinkenden Reallöhne fast ausschließlich auf die massive Ausweitung des Niedriglohnsektors zurückgehen - und für festangestellte Beschäftigte bei Banken und Versicherungen sowie festangestellte IndustriearbeiterInnen nicht gilt. Deshalb nochmal ein kleiner Nachtrag zum Leibarbeits-Block im letzten Heft.

Nach einer kürzlich veröffentlichten Studie des DGB wurden zwischen Oktober 2008 und September 2009 434.000 LeiharbeiterInnen entlassen; rein rechnerisch haben damit 76 Prozent der LeiharbeiterInnen in nur einem Jahr ihren Job verloren. Sie waren in der Industrie in dieser Phase zehnmal so häufig von Arbeitslosigkeit betroffen als StammarbeiterInnen. Und sie waren auch heftiger betroffen: mehr als jede/r vierte LeiharbeiterIn fiel im beobachteten Zwölf-Monatszeitraum unmittelbar nach dem Jobverlust in Hartz-IV.

Dazu kam der Abbau von 150.000 befristeten Stellen auf 2,5 Millionen im Jahr 2009. Ende 2009 waren 8,8 Prozent aller Arbeitsverhältnisse, im gesamten Jahr jede zweite Neueinstellung befristet. (IAB-Studie) Die meisten befristeten Jobs wurden in der Industrie abgebaut, dort dominiert jedoch noch immer unbefristete Beschäftigung. Hingegen ist bei öffentlichen und sozialen Einrichtungen (Gesundheit, Sozialwesen, Erziehung, Unterricht, Nonprofit-Organisationen) Befristung inzwischen das Normaleinstellungsverhältnis. Bei Behörden sind 68 Prozent der neuen Arbeitsverträge befristet - im Durchschnitt aller Branchen sind es 47 Prozent (2001 waren es erst 32 Prozent).

Im selben Zeitraum hat sich die Zahl der zu Niedriglöhnen Beschäftigten verdoppelt. 2008 verdienten mehr als zwei Millionen Menschen weniger als sechs Euro brutto pro Stunde. In Ostdeutschland waren das fast 13 Prozent der Beschäftigten, im Westen 5,4 Prozent - und es war mehr als ein Drittel aller LeiharbeiterInnen (IAQ-Studie).

Im Zwischenaufschwung wurden diese Trends massiv verstärkt. Mehr als jede dritte im Juni 2010 angebotene neue Stelle war nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit Leiharbeit. Seit Jahresanfang haben sich die Jobangebote in der Leiharbeit mehr als verdoppelt, während die Zahl der übrigen Stellen lediglich um ein Drittel zunahm. Laut einer IG Metall-Studie vom Herbst nimmt auch die "Prekarisierung der jungen Generation" weiter zu. Rund 54 Prozent der Erwerbstätigen unter 25 Jahren sind prekär beschäftigt (Leiharbeit, befristet, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen), neun Prozentpunkte mehr als ein Jahr zuvor. Bei den Erwerbstätigen unter 35 Jahren sind es noch 30 Prozent.

Der Entwurf für das seit dem Schlecker-Skandal angekündigte "Gesetz zur Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung" sieht vor, dass Leute, die gekündigt und innerhalb von sechs Monaten als LeiharbeiterInnen wieder eingestellt werden, den gleichen Lohn wie die Festangestellten bekommen müssen. Statt sie zu verhindern, schreibt das Gesetz die Praxis fest, "reguläre" Stellen durch Leiharbeit zu ersetzen. Weiteres Wasser auf ihre Mühlen erhoffen sich die Sklavenhändler vom Inkrafttreten der vollen Freizügigkeit für ArbeitnehmerInnen aus den östlichen EU-Beitrittsländern zum 1. Mai 2011. Mit dem Argument der Verhinderung von "Dumpinglöhnen" fordern sie "branchenspezifische Mindestlöhne" für die eigene Branche. Auch diese wäre ein weiterer Schritt zur Festschreibung/Ausweitung der Leiharbeit als Hebel zur Lohnspreizung.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Auf den Fotos: Hungerstreik von Leiharbeitern bei VW Hannover 2009


*


Streik bei Atlas

Ende Oktober sprachen sich in einer Urabstimmung 79,1 Prozent der Beschäftigten des wichtigen Baumaschinenherstellers Atlas für einen mehrtägigen Streik aus, der zunächst auf den Standort Ganderkesee beschränkt wurde. Anfang November wurde er auf die Werke in Delmenhorst und Vechta ausgedehnt, seit dem 14.11. ist er unbefristet.

Das Unternehmen war in den letzten Jahren mehrfach verkauft und neu zusammengewürfelt worden. Zuletzt hatte der US-Baumaschinenkonzern Terex die Beschäftigten von 1600 auf 650 zusammengestrichen und dabei ein viertes Werk ganz dichtgemacht.

Trotzdem machte Terex 2009 Verluste mit seiner Beteiligung und verkaufte die drei Werke zum symbolischen Preis von einem Euro an den Manager, der sie zuvor "restrukturiert" hatte. Dieser kündigte den Haustarifvertrag, verlängerte die wöchentliche Arbeitszeit von 35 auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich, strich Weihnachts- und Urlaubsgeld und kündigte zwölf Beschäftigten - obwohl es nach einer Betriebsübernahme ein Jahr lang keine Kündigungen geben darf. Er weigerte sich, über diese Maßnahmen auch nur zu verhandeln. Deshalb traten die Leuten in den Streik für eine tarifliche Regelung.

Die Mehrheit beteiligt sich am Streik, weitere haben sich krank schreiben lassen, eine Minderheit bricht den Streik. Inzwischen werden Streikbrecher über das Arbeitsamt vermittelt. Sie bekommen einen befristeten Dreimonatsvertrag für 2050 Euro Brutto inkl. unbegrenzter unbezahlter Überstunden.

Die ersten Wochen blockierten die ArbeiterInnen die Werkstore rund um die Uhr. Nur vereinzelt gelang es Bagger und Kräne in waghalsigen Manövern durch Zäune hindurch aus dem Werk zu schaffen. Ein gerichtlicher Vergleich erzwingt seit dem 15.11., dass pro Werk je ein Tor offen bleiben muss - 15 Minuten dürfen die Lieferfahrzeuge angehalten werden.

Die Stimmung ist dennoch weiterhin kämpferisch: die Streikenden signalisieren mit Weihnachtsbäumen, dass sie auf eine lange Auseinandersetzung eingestellt sind. Sie erfahren viel Unterstützung aus der Region. ArbeiterInnen aus anderen Betrieben übernahmen am 20.11. die Schichten als Streikposten, um eine gemeinsame Kundgebung aller drei Werke in Delmenhorst zu ermöglichen. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass Atlas ein Traditionsbetrieb mit einer in den Orten eingebundenen Belegschaft ist.

Jetzt kommt es darauf an, ob die Atlas Beschäftigten es schaffen, mehr Druck auf den Unternehmer zu machen. Dafür wird mehr Eigeninitiative nötig sein, denn die IG Metall bietet derzeit jeden Kompromiss an, der eine Verhandlung möglich macht, und dominiert mit ihren Funktionären die lokalen Streikleitungen - bisher ohne nennenswerte Einbeziehung der Streikenden.


*


China: Aufbruch der zweiten Generation

Im Frühsommer ist in China die erste offensive Streikwelle in dieser Weltwirtschaftskrise losgegangen, und zum ersten Mal wurden dort multinationale Autokonzerne lahmgelegt. Federführend waren dabei junge WanderarbeiterInnen, die ganz andere Ansprüche stellen als ihre Eltern. In Folge des Buchs über die Dagongmei der ersten Generation untersucht ein gerade erschienener neuer Band diese zweite Generation der WanderarbeiterInnen. Er enthält Beiträge chinesischer WissenschaftlerInnen zur Bau-, Auto- und Elektroindustrie, sowie Berichte zu Sexarbeit und Hausangestellten. Im zweiten Teil zu "Prozessen der Klassenzusammensetzung" beschäftigen sich die FreundInnen von gongchao mit der Streikwelle im Jahr 2010.

Aufbruch der zweiten Generation. Wanderarbeit, Gender und Klassenzusammensetzung in China.
Herausgegeben von Pun Ngai, Ching Kwan Lee u.a. Assoziation A, 2010 (296 Seiten, 18 Euro).


Literaturhinweise

Zu den Kämpfen in der chinesischen Autoindustrie findet ihr auch einen Artikel auf www.wildcat-www.de Streikwelle in China

Zur Situation Chinas in der Weltwirtschaftskrise siehe Alle Hoffnungen richten sich auf China, Wildcat 85 und Update China, Wildcat 87.

Raute

Impressum:

Eigendruck im Selbstverlag, V.i.S.d.P.: P. Müller - wildcat

Abo: 6 Ausgaben (incl. Versand)
Deutschland und Österreich 18 € / Ausland 30 €
Förderabo 30 €
Einzelheft: Deutschland und Österreich 4 €
sonstiges Ausland 5 € (zzgl. Versand)
Für WeiterverkäuferInnen:
8 Exemplare des aktuellen Heftes
Deutschland und Österreich 16 €
sonstiges Ausland 20 € (incl. Versand)

Bestellung per
Brief: Wildcat, Postfach 80 10 43, 51010 Köln
E-Mail: versand@wildcat-www.de
oder per Aboformular auf unserer Webseite.

Kontakt: redaktion@wildcat-www.de

Archiv und Aktuelles
www.wildcat-www.de


*


Quelle:
Wildcat 88 - Winter 2010
E-Mail: redaktion@wildcat-www.de
Internet: www.wildcat-www.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2010