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WIDERSPRUCH/021: Chávismo und partizipatorischen Demokratie in Venezuela


Widerspruch 55 - 2. Halbjahr 2008
Beiträge zu sozialistischer Politik

Chávismo und partizipatorische Demokratie in Venezuela

Von Beat Ringger


Vor zehn Jahren, im Dezember 1998, wurde der ehemalige Armee-Oberst Hugo Chávez Frías mit 56.2% der Stimmen zum Präsidenten Venzuelas gewählt. Rückblickend ist klar, dass mit dieser Wahl ein historischer Wandel verbunden ist, der mittlerweile in ganz Lateinamerika Wirkung entfaltet. Besonders interessant ist dieser "proceso" im Hinblick auf Fragen der Demokratisierung, das heisst der Selbstgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die davon Betroffenen.


"Das wohl freieste Land der Welt"

Michael Zeuske, Professor für iberische und lateinamerikanische Geschichte an der Universität Köln, schreibt in seinem neuen, umfangreichen Werk zur venezolanischen Geschichte: "Venezuela ist seit 1999 das wohl freieste Land der Welt" (Zeuske, 2008, 500). Ich war 2007 und 2008 während insgesamt sieben Wochen in Venezuela und hatte Gelegenheit zu Begegnungen und Diskussionen mit Leuten aus den verschiedensten politischen Strömungen und Bewegungen, und ich stimme der Aussage von Zeuske zu. Das Neue an dieser Freiheit besteht darin, dass sie nicht von einer solide im Sattel sitzenden herrschenden Klasse gewährt wird, die keine Angst haben muss, die demokratischen Rechte würden genutzt, um sie zu stürzen. Auch das Umgekehrte ist nicht der Fall: Die Freiheiten sind nicht Ausdruck einer starken Opposition, die es versteht, den Mächtigen die Freiheitsrechte gegen deren Willen abzuringen. Die Freiheiten, von denen Zeuske redet, entsprechen vielmehr der sozialen Praxis eines Transformationsprozesses, einer Phase intensiver politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe. Die Freiheiten sind nicht zufällig, sie sind programmatischer Teil der bolivarianischen Revolution. Insbesondere Chávez begründet die hohe Wertschätzung für demokratische Rechte immer wieder explizit mit den negativen Erfahrungen des Realsozialismus im 20. Jahrhundert. In diesen Freiheiten besteht eine historisch neue Erfahrung, die zu den wichtigsten Errungenschaften für die Bevölkerung Venezuelas gehört.

Seit dem misslungenen Putsch vom April 2002 ist antichavistische, bürgerliche Opposition Venezuelas politisch weitgehend desorganisiert - allerdings mit einer wichtigen Ausnahme: Die Opposition beherrscht nach wie vor die überwiegende Mehrzahl der grossen Medien, vor allem die Presse und die Fernsehanstalten. Viele dieser Medien - an erster Stelle die beiden grössten Fernsehanstalten RCTV und Venevisión - haben beim Putsch vom 11. April 2002 eine aktive und bedeutsame Rolle gespielt. Von diesem Putsch existiert der eindrückliche Dokumentarfilm eines irischen Teams, das zu dieser Zeit an einem Portrait von Chávez arbeitete und die Ereignisse hautnah mitverfolgte ("La revolución no sera transmitida", 2003). Trotz ihrer starken Beteiligung am Putsch konnten diese Sender ihre Arbeit nach der Niederlage unbehelligt weiterführen. Noch im Jahr 2005 sendete der private Radiosender Union tagelang alle halbe Stunde ein Telefoninterview mit dem exilierten Putschistenführer Carlos Ortega, in dem dieser zum Sturz der "faschistischen Kommunistendiktatur" aufrief (Danilijuk, 2007, 104). Trotz der weitgefassten Medienfreiheiten wurde in der Weltöffentlichkeit die Mär von der Unterdrückung eben dieser Medienfreiheit kolportiert, als sich die Regierung im Mai 2007 getraute, die auslaufende Sendelizenz von RCTV nicht mehr zu verlängern, um Senderaum für eine öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt zu erhalten. RCTV sendet heute immer noch - über Kabel und Satellit.

Ein Beispiel für die Dominanz der oppositionellen Medien liefert eine Untersuchung der Media Global Watch MGW, deren Präsident Ignacio Ramonet ist, früherer Chefredaktor der "Le Monde Diplomatique". MGW untersuchte die Medienlandschaft Venezuelas exemplarisch anhand der Präsidentenwahlen 2006. Ergebnis: 79.3 Prozent aller Medien-Kommentare sprachen sich gegen die Wiederwahl von Chávez aus. Alle acht grossen privaten Tageszeitungen nahmen für den Kandidaten der Opposition Rosolez Stellung; dem stand eine einzige genossenschaftliche Tageszeitung gegenüber (VEA). Die grosse Mehrheit der Fernseh- und Radiostationen stellten sich ebenfalls auf die Seite von Rosalez (Danilijuk, 2007, 97 f). Trotzdem wurde Chávez mit 62.8 Prozent der Stimmen wiedergewählt.

Selbstverständlich sind die UnterstützerInnen des bolivarianischen Proceso und die Regierung gegenüber der rechten Medienmacht nicht untätig geblieben. In keinem andern Land der Welt dürfte eine auch nur annähernd so grosse Vielfalt an "alternativen", nicht kommerziellen Medien existieren wie in Venezuela. Insgesamt gibt es rund 350 Medios Communitarios, in der Mehrzahl lokale Radiostationen, die jeweils ein Barrio (Stadtteil mit bis zu einer Mio Einwohnern) abdecken. Darunter befinden sich jedoch auch Fernsehstationen (CAN-TVe, Vive-TV), die allerdings nicht die Reichweite der privaten Medien aufweisen. Die Bedeutung dieser alternativen Medien beschränkt sich nicht auf Gegeninformationen zur rechtsbürgerlichen Medienpräsenz. Ebenso wichtig ist die Herstellung einer neuen Öffentlichkeit von unten. Die Medios communitarios ermöglichen es Tausenden von Menschen, an der Produktion von Medienwirklichkeiten teilzuhaben und diese damit zu entmystifizieren. Und sie kennen ganz andere ProtagonistInnen: Im Mittelpunkt der Berichte und Sendungen stehen die AkteurInnen sozialer Bewegungen oder ganz einfach die "normalen Leute" von nebenan. Dies stärkt das Selbstbewusstsein der Leute, die am sozialen Wandel in Venezuela beteiligt sind. Sie erfahren sich und ihre MitstreiterInnen als öffentlich anerkannte Subjekte, als gesellschaftliche Protagonistinnen, und dies ist mit konstituierend für das Gelingen der partizipativen Demokratie.


Nach den Putschversuchen - die pragmatische Revolution

Die AutorInnen kritischer Analysen Venezuelas sind sich einig, dass die Entwicklung unter Chávez nicht das Ergebnis eines durchgeplanten Projektes ist, sondern stark bestimmt wird durch die Dynamik der sozialen und politischen Kämpfe, wobei die Regierung meist eher vorsichtig als forsch vorgeht. Ein staats- und gesellschaftspolitisch wichtiger Ausgangspunkt wurde jedoch sehr bewusst in Angriff genommen: die Erarbeitung einer neuen Verfassungsgrundlage unter Einbezug partizipativer Prozesse. Die 1999 gewählte verfassungsgebende Versammlung lud alle interessierten Organisationen des politischen und gesellschaftlichen Lebens ein, sich an der Ausarbeitung der Verfassungstextes zu beteiligen. Die dafür eingerichteten Runden Tische brachten 624 Vorschläge zutage, von denen die Hälfte in die Verfassung aufgenommen wurde (Azzellini, 2006). Das Ergebnis ist zwar in mancher Hinsicht uneinheitlich und enthält eine Reihe von Artikeln, die durchaus auch in neoliberal konzipierten Gesetzeswerken enthalten sein könnten; so ist beispielsweise die venezolanische Nationalbank in ihrer Politik unabhängig von der Regierung. Die Verfassung enthält jedoch eine Vielzahl von Bestimmungen, die den neuen Formen der direkten, partizipativen Demokratie eine rechtliche Basis geben, Diskriminierungen verhindern und soziale Rechte einfordern. Sie wurde im Dezember 1999 in einer Volksabstimmung von 71.8 Prozent der Stimmenden angenommen. Wohl in keinem andern Land der Welt dürfte der Inhalt der Verfassung so vielen Leuten bekannt sein und so oft zur Legitimation politischer Arbeit zitiert werden wie in Venezuela.

Im Jahr 2001 spitzten sich die Konflikte zwischen der Regierung und den alten Machteliten zu. Im Zentrum standen dabei zwei Massnahmen. Zuerst die Agrarreform: Die Regierung Chávez wollte die Möglichkeit schaffen, Grundbesitz gegen Entschädigung zu enteignen, sofern weniger als 80 Prozent der nutzbaren Fläche auch tatsächlich bewirtschaftet wird. Hintergrund der geplanten Gesetzgebung war die überaus ungleiche Verteilung des Landbesitzes, aber auch die Tatsache, dass Venezuela rund zwei Drittel der Lebensmittel einführen musste, obwohl das Land sehr fruchtbar ist. Der Grund dafür liegt in den paradoxen Wirkungen des Erdölreichtums, der dem Land viele Devisen bescherte und die Importe derart verbilligte, dass sich die eigenständige privatwirtschaftliche Produktion kaum mehr lohnte. Eine Ausnahme stellt lediglich die extensive Viehwirtschaft in der Tiefebene der Llanos dar. Die zweite Massnahme betraf die Kontrolle über die Führung der staatlichen Erdölgesellschaft PdVSA. Diese Firma war so strukturiert und geleitet, dass der weitaus grösste Teil der Einnahmen in private Taschen versickerte. Die Rückgewinnung dieser Ressourcen für die Staatskasse war entscheidend, wenn ein sozialer Umbau Venezuelas gelingen sollte. Das wusste auch die traditionelle Oligarchie. Am 11. April 2002 putschte die Rechte.

Doch der Putsch scheiterte. Aufgrund der funktionierenden Medios Communitarios war es möglich, die totale Kontrolle der Medien durch die Putschisten zu durchbrechen, die Barrios (der armen Stadtteile) zur Verteidigung der Regierung zu mobilisieren und die Armee zu spalten. Nach zwei Tagen kehrte Chávez auf den Präsidentenposten zurück. Die Reaktion der Regierung gegenüber den Putschisten war überaus mild; sie verzichtete auf Repressalien. Doch nur wenige Monate danach versuchte die Opposition erneut, die Regierung zu stürzen: Im Winter 2002/03 traten Management und Kader der Erdölgesellschaft PdVSA in den Streik und zerstörten einen Teil der Infrastruktrur des Unternehmens (insbesondere legten sie die ganze Informatik lahm). Parallel dazu boykottierten die grossen Handelsketten die Lebensmittelversorgung. Auf diese Weise versuchte man, das Funktionieren der Regierung ökonomisch zu torpedieren. Doch erneut ging die Rechnung der Putschisten nicht auf: Die verbleibenden PdVSA-Beschäftigten bemächtigten sich des Unternehmens und fuhren die Erdölförderung Schritt für Schritt wieder hoch. Und der Regierung gelang es, die Versorgung mit Lebensmitteln wieder einigermassen herzustellen Sie baute bei dieser Gelegenheit eine staatliche Versorgungskette auf, um nicht noch einmal von den privaten Handelsketten erpresst werden zu können.


Partizipative und protagonistische Demokratie - die Consejos Comunales

Der Aprilputsch und der nachfolgende Unternehmerstreik wurden für die breite Bevölkerung zum Fanal der partizipativen Demokratie. Eine zentrale Rolle spielten die sogenannten Misiones, von denen es mittlerweilen über zwanzig gibt. Bei den Misiones handelt es sich um breitangelegte Programme, die unter Umgehung der herkömmlichen Staatsstrukturen und unter direkter Beteiligung der Bevölkerung eine Art partizipativen Service public etablieren. Sie umfassen die Gesundheitsversorgung, die Bildung auf verschiedenen Niveaus, die Befähigung zu ökonomischer Eigeninitiative in Form von Kooperativen, den Strassen- und Häuserbau, die Wasser- und Energieversorgung, die Arbeit mit Drogensüchtigen, die Unterstützung von alleinerziehenden Frauen, die Versorgung der Bevölkerung mit günstigen Lebensmitteln, den Aufbau einer Volksmiliz, die Förderung der ökologischen Landwirtschaft. Die einzelnen Dienste wurden von Beginn an mit der Auflage verbunden, dass sich die begünstigte Bevölkerung aktiv in Komitees an der Aufbauarbeit beteiligen müsse. Dabei konnte in vielen Barrios an eine Tradition der Selbstorganisation angeknüpft werden, die teilweise bis in die 80er Jahre zurückreichte.

Rasch zeigte sich, dass die verschiedenen Misiones vor Ort koordiniert werden müssen. Seit März 2006 geschieht dies in den Consejos Comunales. Ein Consejo umfasst in städtischen Gebieten 200 bis 400 Familien, in ländlichen Gebieten 20 Familien. Für die Gründung eines Consejos ist es erforderlich, dass mindestens 20 Prozent der Bevölkerung an einer konstituierenden Assamblea de Ciudadanos y Ciudadanas teilnehmen und das Territorium klar definiert werden kann. Stimmberechtigt sind alle GebietsbewohnerInnen ab 15 Jahren. Oberstes Organ eines CC ist die Vollversammlung der BewohnerInnen; sie nimmt die Wahlen in drei Gremien vor und fällt alle wichtigen Sachentscheide. Gewählt werden als ausführendes Organ ein Rat der SprecherInnen, dann die Unidad de Gestión Financiera (Finanzverwaltung) sowie die Controlaria Social, ein Kontrollausschuss, der vor allem über die korrekte Verwendung der Finanzmittel zu wachen hat. Die AmtsträgerInnen werden für zwei Jahre gewählt. Sie können wiedergewählt und jederzeit auch abgewählt werden. Der Consejo bestimmt über die Verwendung beträchtlicher Geldmittel, die aus einem nationalen Fonds stammen. Dieser Fonds wird von einer direkt Chávez unterstellten Kommission verwaltet, unter Umgehung der herkömmlichen staatlichen Strukturen (Kommunalverwaltungen, Bürgermeister). Die Mittel dieses Fonds stammen aus den Erlösen der Erdölförderung. Ihr Volumen ist offenbar nicht genau erfasst; es handelt sich aber um Milliardenbeträge in einer Höhe, bei der das Budget durch die Consejos vorderhand noch gar nicht ausgeschöpft wird (Holm/Bernt 2007). Laut Angaben des Ministeriums für Partizipation und Soziale Entwicklung (Minipades) gab es Ende 2007 rund 35.000 Consejos Comunales (Azzellini 2008). Damit dürften mindestens zwei Drittel der Bevölkerung in solchen Strukturen erfasst sein. Seit dem Sommer 2008 ist nun auch die Zusammenfassung der Consejos zu übergeordneten Strukturen (Communas) gesetzlich geregelt.

Wie sieht die konkrete Praxis der Consejos aus? Die Bedeutung der Consejos kann nur vor dem Hintergrund der venezolanischen Sozialstruktur ermessen werden. Von den rund 26 Mio EinwohnerInnen wohnen 88 Prozent in den Städten. Allein in Caracas leben mehrere Millionen Menschen in den Barrios, den Quartieren der armen Bevölkerung, die ursprünglich meist illegal errichtet worden waren. Die sozialen Fragen entzünden sich in Venezuela massgeblich in diesen Barrios. Es ist beeindruckend, mit welchem Engagement und mit welcher Würde sich die BewohnerInnen dieser Barrios an den Strukturen der partizipativen Demokratie beteiligen. Dies gilt in besonderem Masse für die Frauen, von denen viele das erste Mal überhaupt erfahren, was es bedeutet, als politisches Subjekt anerkannt zu werden (Rimml 2008).

Das heisst nun nicht, dass die Consejos per se Horte solidarischer Harmonie wären. Im Gegenteil: Sie ermöglichen es der armen Bevölkerung, für ihre sozialen und politischen Rechte zu kämpfen. Louis Vargas, Mitarbeiter im Planungsministerium, erzählte im Sommer 08 die beispielhafte Geschichte eines ländlichen Consejos, der ein Projekt für den Bau einer Strasse eingegeben hatte und der darauf bestand, dass die Strasse durch die Mitglieder der Kommune selbst gebaut werden sollte. Das Gesuch wurde jedoch von korrupten Beamten verschleppt und zurechtgebogen, um einen lokalen Bauunternehmer begünstigen zu können. Erst nach zähem Ringen konnte sich der Consejo durchsetzen - und stellte fest, dass der Kredit gegenüber ihrer eigenen Eingabe verdoppelt worden war. Was dem Bauunternehmer für seine Profite hätte zukommen sollen, landete so - erfreulicherweise - in der Kasse des Consejos. Das Beispiel zeigt, dass die demokratische Erneuerung der Gesellschaft nicht in einem sprunghaften Wechsel verläuft, sondern durch eine Intensivierung der sozialen Kämpfe.


Schwäche der Arbeiterklasse und der Gewerkschaften

Die Consejos Comunales sind auf gutem Wege, einen dauerhaften institutionellen Rahmen für die partizipiative Demokratie auf territorialer Ebene zu bilden. Hingegen erweist es sich als schwierig, eine vergleichbare Form der Partizipation und der Selbstverwaltung in der Wirtschaft zu entwickeln. Dabei fehlt es keineswegs an Projekten - es ist im Gegenteil nicht einfach, die Übersicht über die verschiedenen ökonomischen Initiativen zu behalten. Seit 2001 werden Kooperativen mit günstigen Krediten, Steuererleichterungen und mit aktiver staatlicher Unterstützung systematisch gefördert. Im Rahmen der Misión Vuelvan Caras erhielten in den Jahren 2005 und 2006 rund 500.000 Personen eine in der Regel halbjährliche Ausbildung, mit der sie zur Gründung und Führung einer Kooperative befähigt werden sollten und in der sie auch konkrete Unterstützung bei der Bildung eigener Kooperativen erhielten. In der Folge stieg die Zahl der funktionsfähigen Kooperativen von 722 (1998) auf über 37.000 (Azzellini, 2007 B). Parallel dazu wurde 2005 eine neue Unternehmensform ins Leben gerufen, die Empresas de Producción Social EPS. Eine EPS verpflichtet sich, ihre Geschäftspolitik auf soziale Ziele auszurichten und mit 10-15 Prozent des Gewinnes lokale Projekte zur Entwicklung der Infrastruktur und der Sozialstruktur zu fördern.

Weiter: Verschiedene Modelle der Cogestión, angesiedelt zwischen Mitbestimmung und Selbstverwaltung, ermöglichen die Beteiligung der Belegschaften an der Unternehmensführung. Und mit dem Programm "Fábrica adentro" werden seit Ende 2005 Privatunternehmen staatliche Fördermassnahmen angeboten, wenn sie sich mit ihren Belegschaften auf eine Form der Mitverwaltung einigen können. Nach einem Jahr hatten 1011 Firmen ausgearbeitete Vorhaben eingereicht, von denen bereits 847 Kredite erhalten und mit der Umsetzung begonnen hatten. Schliesslich sind eine Reihe wichtiger Unternehmen gegen Entschädigung verstaatlicht worden. Dazu gehört die nationale Telefongesellschaft CANTV, die 1991 privatisiert worden war. CANTV deckte zum Zeitpunkt der Verstaatlichung 11 Prozent der Fixanschlüsse und 35 Prozent der Mobilkommunikation ab. Im weiteren wurde die nationale Elektrizitätsindustrie verstaatlicht, ebenso die Zementindustrie, nachdem sich letztere den Absichten der Regierung widersetzt hatte, den einheimischen Zementbedarf gegenüber den Exporten zu bevorzugen, um die Realisierung der vielen Wohnbauprojekte sicherstellen zu können. Im April 2008 schliesslich wurde eine der grössten Stahlwerke Lateinamerikas nationalisiert, die SIDOR.

Doch all diese Programme haben noch nicht dazu geführt, dass sich eine kohärente Industrie- und Wirtschaftspolitik herausgebildet hätte. Im Gegenteil: Die Regierungspolitik gleicht der Jagd mit einer Schrotflinte: Die Massnahmen werden breit gestreut, und die Praxis soll zeigen, wo sich Erfolge einstellen. Dies hat auch damit zu tun, dass die Klasse der Lohnabhängigen bislang nur punktuell in der Lage war, eine neue partizipatorische Wirtschaftspolitik mitzutragen. Ein Beispiel: Im Juli 2005 rief Chávez dazu auf, von den Besitzern geschlossene Unternehmen zu besetzen; sie würden in der Folge enteignet und unter Beteiligung der neuen Belegschaften und mit Unterstützung der Regierung wieder in Betrieb genommen. Von den über 1100 in Frage kommenden Betrieben wurden bis Mitte 2007 allerdings nur rund 40 tatsächlich besetzt und wieder in Gang gesetzt, was vor allem auf mangelndes Engagement an der Basis zurückzuführen war. Carlos Lanz, der von der Belegschaft der Alcasa, dem staatlichen Aluminiumkonzern, zum Direktor gewählt worden war, betont die Schwierigkeiten, die sich beim Aufbau einer neuen, partizipativen Unternehmenskultur ergeben - auch vonseiten eines guten Teils der Belegschaft, der in alten Denkmustern gefangen bleibt und nur schwer davon zu überzeugen ist, dass man sich aktiv an der Unternehmensführung beteiligen soll (Lanz 2008).

Noch immer ist es nicht gelungen, eine neue, bolivarianische Gewerkschaftszentrale aufzubauen. Der traditionelle Gewerkschaftsverband CTV (Confederatión de Trabajadores de Venezuela) hatte sich durch die Beteiligung seiner Führung am Putsch vom April 2002 vollständig kompromittiert und ist heute politisch bedeutungslos. Doch der Aufbau einer neuen Gewerkschaft ist nicht über den ersten Schritt hinausgekommen: Die UNT (Union Nacional de los Trabajadores) existiert nur auf dem Papier: Ihr Funktionieren ist blockiert, weil es schon auf dem Gründungskongress 2006 zu einer Spaltung gekommen war. Dies vor dem Hintergrund einer Schwäche der Lohnabhängigen im Proceso und den Besonderheiten der venezolanischen Wirtschaft. Seit Jahrzehnten stark auf die Einnahmen aus der Erdölförderung ausgerichtet, hat sich eine Art "Rentenkapitalismus" ausgebildet, dessen Zentrum nicht in der Produktion liegt, sondern im Handel. Die hohen Deviseneinnahmen führten zu einer Schwächung der einheimischen Produktion, da es günstiger war, die Produkte zu importieren als sie im eigenen Land herzustellen; deshalb dominierte der Handel, nicht die Produktion.

Die Jahre einer harten neoliberalen Politik hatten zudem einen weiteren Niedergang der mässig entwickelten Industrie zur Folge. Ablesen lässt sich dies etwa an der massiven Zunahme der informell Beschäftigten mit ungeregelten Arbeitsverhältnissen (Strassenhandel, Gelegenheitsjobs, persönliche Dienstleistungen): Ihr Anteil stieg von 34.5 Prozent im Jahr 1980 auf 56 Prozent 2005 (Azzellini 2007 B). Die im formellen Sektor verbliebenen Lohnabhängigen wurden zudem tief gespalten in diejenige, die über eine unbefristete Anstellung im jeweiligen Hauptunternehmen verfügen, und in Subcontractos, die von Subunternehmern angestellt werden und zu weitaus schlechteren Bedingungen arbeiten. Ein Beispiel: Trotz Verstaatlichung sind im Stahlbetrieb SIDOR nach wie vor rund die Hälfte der Beschäftigten Subcontractos mit bis zu 80 Prozent tieferen Löhnen. Die neue Betriebsführung versprach zwar, Remedur zu schaffen, doch kommt die Besserstellung der Subcontractos nur im Schneckentempo voran. Im Oktober 2008 haben diese deshalb mit Streiks und Strassenblockaden reagiert - vorderhand mit ungewissem Ausgang.

Die Fragmentierung der Gewerkschaftsbewegung behindert die Teilnahme an einem gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess und fixiert die Lohnabhängigen auf die Nabelperspektive ihrer unmittelbaren Interessen. Als im Herbst 2007 eine Gewerkschaftsdelegation in der Schweiz weilte, stellte ich der Repräsentantin der Gewerkschaft des staatlichen Spitalpersonals die Frage, welche Überlegungen sich ihre Organisation zum Aufbau einer neuen, integrierten Gesundheitsversorgung mache, in der die Gesundheits-Mision Barrio Adentro mit dem herkömmlichen Spitalwesen vereinigt würde. Es stellte sich heraus, dass ihre Gewerkschaft sich dazu noch überhaupt keine Überlegungen angestellt hatte - nach den herausragenden Erfolgen von Barrio Adentro eine einigermassen verblüffende Auskunft. Sie spiegelt die Sicht einer der wichtigen Gewerkschaftsströmungen innerhalb der UNT, der C-Cura. Diese Strömung räumt der "Autonomie der Arbeiterklasse" höchste Priorität ein und stellt den Kampf für bessere Löhne auch dann ins Zentrum, wenn es - wie bei den Beschäftigten der staatlichen Erdölfirma PdVSA - um Lohnabhängige geht, die weitaus mehr verdienen als der Durchschnitt der VenezolanerInnen.

Dabei geht ein verbalradikaler, schematischer "Classismo" (klassenbezogene Grundhaltung) eine eigenartige Verbindung mit den Interessen einer privilegierten Schicht von Lohnabhängigen ein. Aus C-Cura-Sicht trägt die Chávez-Regierung nach wie vor einen national-bürgerlichen Klassencharakter, und deshalb gelte es in erster Linie, die Klassenposition und die Interessen der Lohnabhängigen zu stärken. Diese Haltung verhindert die Teilnahme der Gewerkschaftsbewegung an der Entwicklung einer neuen demokratischeren Wirtschaft. Insgesamt besteht im venezolanischen Proceso eine markante Lücke. Während mit den Consejos Comunales die Basis für eine neue Form des Service public und der Staatlichkeit gelegt ist, ist die entsprechende Basis für den Aufbau einer nicht-kapitalistischen Wirtschaft nach wie vor nur rudimentär und fragmentiert ausgebildet. Dies wiederum geht einher mit einem Aufschwung des privaten Wirtschaftssektors, der sich jedoch eher im Boom des Finanzsektors niedergeschlagen hat als in einer in einer entsprechenden Entwicklung der privatwirtschaftlichen "Realwirtschaft" (Petra 2008).


Die Rolle von Chávez im Spannungsfeld verschiedener Tendenzen

Vor diesem Hintergrund wird die herausragende Rolle von Präsident Chávez besser verständlich. Diese wird übrigens von der Venezolanischen Linken selbst sehr kritisch beurteilt. Carlos Lanz etwa bezeichnet sie als "Achillesverse" des Proceso. Die 2007 erfolgte Gründung der neuen Partei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela) sollte deshalb unter anderem dazu dienen, die politische Basis der bolivarianischen Revolution breiter abzustützen - auch personell. Anfänglich deklarierte Chávez, er wolle lediglich ein normales Parteimitglied sein. Doch es kam anders: Die verschiedenen politischen Strömungen des chavistischen Lagers gerieten sich rasch in die Haare - einzig Chávez war in der Lage, die Rolle des Schiedsrichters zu übernehmen und die verschiedenen Tendenzen unter einen Hut zu bringen. Diese Dynamik spiegelt eine Situation, in denen keine soziale Klasse - und insbesondere nicht die Klasse der Lohnabhängigen - den Charakter der Entwicklung zu prägen vermag. Die Bewegungen in den Barrios wiederum sind zerstreut und sozial wenig kohärent. Weil also die Basis fehlt, stabile soziale Sektoren repräsentieren zu können, wäre jede Person, die neben Chávez anerkannte Führungsansprüche geltend zu machen vermöchte, dem umgekehrten Prozess ausgesetzt: Sie würde zum Ziel und zur Projektionsfläche widersprüchlicher Interessen und damit Gefahr laufen, Träger eines folgenschweren Spaltungsprozesses zu werden. Die bisherige Rolle von Chávez ist somit das Abbild der soziopolitischen Dynamik Venezuelas - nicht umgekehrt.

Die Ergebnisse der Regionalwahlen vom 23. November 2008 bestätigen insgesamt die Kräfteverhältnisse zwischen der Opposition und der Regierung. Das chavistische Lager erhielt 5.527.905 Stimmen und gewann die Gouverneurswahlen in 17 von 22 Bundesstaaten, auf die Kandidaten der Opposition entfielen 3.948.912 Stimmen und eine Mehrheit in fünf Bundesstaaten. Die Regierungsparteien holten sich 277 von 326 Bürgermeisterposten, die Opposition 48. Die grosse Überraschung der Wahl bestand allerdings darin, dass die Opposition nun den Oberbürgermeister der Bundeshauptstadt Caracas stellt. Die Regionalwahlen zeigen aber auch auf, wie schwierig es ist, gesellschaftliche Fortschritte auf der Ebene der repräsentativen Demokratie zu verankern. Die Dynamik des anonymen, hierarchischen Staatsapparates erzeugt einen ständigen, schwer zu kontrollierenden Sog in Richtung Korruption, auch auf das Personal der Regierungsparteien. Die Auseinandersetzungen werden vorwiegend in den Medien ausgetragen, weit ab von den konkreten Alltagserfahrungen der Bevölkerung.

Die Zukunft Venezuelas hängt deshalb entscheidend davon ab, ob sich die Dynamik der partizipativen Demokratie durchsetzen wird. Dank der Einnahmen aus dem Erdölgeschäft verfügt das Land über die nötigen finanziellen Spielräume für die erforderlichen Lernprozesse: Die Budgets der Consejos Comunales werden aus den Erträgen der staatlichen Erdölgesellschaft gespiesen. Auch wenn der Preis des Rohöls seit dem Juni 2008 massiv gesunken ist, so kostet ein Barrel Erdöl gegenwärtig immer noch etwa soviel wie im Schnitt des Jahres 2005. Das wird genügen, um die sozialen Programme weiterhin zu finanzieren und die Entwicklungsprozesse aufrechtzuerhalten. Wie immer die weitere Entwicklung Venezuelas aussehen wird, die bisherigen zehn Jahre des Proceso sind ein wichtiger Beleg dafür, dass eine zeitgemässe Alternative zum Kapitalismus mit einem mächtigen Schritt in Richtung Partizipation, Protagonismus und Demokratie verbunden werden kann.


Ringger, Beat: 1955, Vpod-Zentralsekretär und geschäftsleitender Sekretär des "Denknetzes", Zürich


Literatur

Azzellini, Dario, 2007: Venezuela Bolivariana. Revolution des 21. Jahrhunderts? Köln

Azzellini, Dario, 2007 B: Von den Mühen der Ebene. In: Holm / Andrej (Hrsg.): Revolution als Prozess. Selbstorganisation und Partizipation in Venezuela. Hamburg

Azzellini, Dario, 2008: Soziale Bewegungen, Politische Macht und Transformation in Venezuela. Denknetz-Jahrbuch, Zürich

Bartley, Kim / O'Briain, Donnacha, 2003: La Revolución no sera transmitida (Film, Irland). Der Film ist online verfügbar, z.B. unter video.google.es/videoplay?docid=2192459744675391361

Danilijuk, Malte, 2007: Gestaltung einer neuen Medienpolitik. In: Holm / Andrej (Hrsg.): Revolution als Prozess. Selbstorganisation und Partizipation in Venezuela. Hamburg

Interview mit Carlos Lanz, 7.10.08 auf http://www.venezuelanalysis.com

Observatorio Global de Medios 2007: Elecciones Presidenciales Venezuela 2006: Los contentidos de opinión e información electoral en medios de comunicación social nacionales y regionales
http://www.observatoriodemedios.org.ve/investigaciones.asp

Petra, James, 30. Oktober 2008: Latin American's 'New Left' in crises as the 'Free Market' collapses.
http://www.venezuelanalysis.com

Rey, Romeo, 2008: Im Sternzeichen des Che. Theorie und Praxis der Linken in Lateinamerika. Hamburg

Rimml, Barbara, 2008: Die Avantgarde der Revolution - Venezolanerinnen in der Offensive. Denknetz-Jahrbuch, Zürich

Ringger, Beat (Hrsg.) 2008: Die Zukunft der Demokratie - das postkapitalistische Projekt. Zürich

Twickel, Christoph, 2006: Hugo Chávez, eine Biographie. Hamburg Zeuske, Michael, 2008: Von Bolívar zu Chávez. Zürich


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Hinweis auf weitere Artikel der aktuellen Ausgabe:

WIDERSPRUCH 55 - 2. Halbjahr 2008

Demokratie und globale Wirtschaftskrise
Finanzmarkt-Kapitalismus, Wirtschaftsdemokratie,
öffentlicher Sektor, Verteilungsgerechtigkeit;
Gleichberechtigung, Geschlechterdemokratie:
Erwerbsarbeit und Familie; Postdemokratie,
Gewerkschaften; Pensionskassen; Zukunft der Demokratie
und politische Bildung; SVP contra Rechtsstaat

M.R. Krätke, H. Schäppi, H.-J. Bontrup, H. Schui, W. Spieler,
A. Demirovic, F.O. Wolf, G. Notz, Th. Wüthrich, K. Dörre,
W. Hafner, U. Marti, S. Da Rin, S. Künzli, M. Spescha

Diskussion
H.-J. Burchardt: Die Herausforderung Lateinamerika
R. Rey: Demokratische Entwicklungen
B. Ringger: Chávismo und Demokratie in Venezuela
S. Ben Néfissa: NGO, Staat, Zivilgesellschaft

WIDERSPRUCH 55:
Demokratie und globale Wirtschaftskrise
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Quelle:
Widerspruch 55 - Beiträge zu sozialistischer Politik
28. Jahrgang, 2. Halbjahr 2008, S. 179 - 188
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2009