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WIDERSPRUCH/020: Demokratische Entwicklungen in Lateinamerika


Widerspruch 55 - 2. Halbjahr 2008
Beiträge zu sozialistischer Politik

Demokratische Entwicklungen in Lateinamerika

Von Romeo Rey


I. Die Militärdiktatoren, die gegen Ende der 1970er Jahre fast ganz Lateinamerika beherrschten, hatten - von einigen Ausnahmen unter ihnen abgesehen - ein klares, von Washington vorgegebenes Ziel vor Augen: Zwar sollten in ihren Ländern nach der Repressionsphase wiederum "demokratische Verhältnisse" hergestellt werden, doch diesmal unter bestimmten, von den Generälen diktierten Voraussetzungen und Einschränkungen. Die Nationen südlich des Rio Grande, der die Grenze zwischen den USA und Mexiko bildet, sollten zu einer verfassungsmässigen Ordnung zurückkehren, die jedoch straffen Kontrollen unterliegen würde. Es sollte nicht ein weiteres Mal vorkommen, dass die Demokratie von "subversiven Elementen" unterwandert oder von "verantwortungslosen Politikern" ins Abseits manövriert würde und dabei der Aufsicht der Uniformierten und ihrer zivilen Mentoren entglitte.

Nach den Plänen des damaligen Chefs der brasilianischen Militärregierung, General Ernesto Geisel, und seines nächsten Beraters für politische Angelegenheiten, General Golbery do Couto e Silva, würde in ihrem Land, dem Washington um 1970 die Rolle eines Statthalters der imperialen Interessen in der Region zugesprochen hatte, eine "schrittweise und kontrollierte Öffnung" stattfinden. Ein ähnliches Konzept verfolgte nach dem Staatsstreich 1973 in Chile General Augusto Pinochet, der von seinen Ratsgebern ein neues Grundgesetz entwerfen liess, das vom Volk mittels eines zweifelhaften Plebiszits "angenommen" wurde. Es trug unübersehbar die Züge eines autoritär gesteuerten, aber konstitutionell verankerten Regimes. Ein solches politisches Projekt, das auf liberalen Demokratievorstellungen und auf Repression beruhte und auch den Militärs der meisten anderen Länder Lateinamerikas vorschwebte, entsprach dem Diktat der US-Armeeführung und der geopolitischen Strategen des Weissen Hauses im Kalten Krieg.

Drei Jahrzehnte danach sind nun die Militärdiktaturen tatsächlich von der Bildfläche verschwunden. In formaler Hinsicht herrschen heute auf dem Subkontinent demokratische Institutionen vor. Und doch zeichnet sich vor allem in Südamerika ein Trend ab, der den antidemokratischen Plänen der Generäle und ihrer US-amerikanischen Aufseher über weite Strecken zuwiderläuft. Zwischen dem Isthmus von Panama und Feuerland an der Südspitze des amerikanischen Festlandes werden zurzeit fast alle Länder mit iberischer Kolonialvergangenheit von Linksregierungen geführt. Ausnahmen sind Kolumbien, das seit bald zwei Jahrhunderten von den Konservativen und Liberalen beherrscht wird und als enger Verbündeter der USA im derzeitigen Einigungsprozess Lateinamerikas ein Destabilisierungsfaktor werden könnte, sowie Peru, dessen ursprünglich sozialdemokratisch orientierte Regierungspartei APRA dem lokalen und fremden Kapital alle möglichen Privilegien einräumt und Volksorganisationen unterdrückt.

Gewiss drängt sich hinsichtlich des vorherrschenden Linkstrends sogleich eine Differenzierung auf. Während in Venezuela, Bolivien und Ecuador Präsidenten durch Volkswahlen an die Regierungsmacht gekommen sind, die nach realen Veränderungen teils sozialistischer Prägung streben, verwalten andere, ebenfalls verfassungsmässig legitimierte Regierungen - in Chile, Brasilien und Uruguay - ihre Staaten mit mehr oder weniger explizit sozialdemokratischer Orientierung. Dabei wird das Erbe neoliberaler Wirtschafts- und Finanzpolitik, das ihnen frühere Diktatoren oder auch an den Urnen gewählte Amtsvorgänger hinterlassen haben, grossteils mit aller Selbstverständlichkeit weiterverwaltet und allenfalls durch sozialpolitische Zugaben, vorwiegend karitativer Natur, für die von den Kosten der Privatisierungen betroffenen Bevölkerungsgruppen versüsst.

In Argentinien verfolgt das Ehepaar Néstor und Cristina Kirchner in der Tradition sogenannt linksperonistischer Politik eine Überwindung des äusserst schwierigen und komplexen Vermächtnisses der Neoliberalen (aussichtslose Überschuldung, private Ausbeutung der wichtigsten Ressourcen und eine explosive soziale Polarisierung). Ihre Wirtschaftspolitik weist aber viel eher populistische Züge als Merkmale im sozialistischen Sinne auf. Auch hier sind von strukturellem Wandel, der auf dauerhafte Umverteilung von unten nach oben abzielen sollte, kaum Spuren zu entdecken. Vor wenigen Monaten hat in Paraguay mit Fernando Lugo ein früherer, sozialgesinnter Bischof die Präsidentenwahl gewonnen. Eine Einschätzung dieser neuen Regierung ist indessen zum jetzigen Zeitpunkt auch insofern nicht möglich, als der Kongress bis auf weiteres von konservativen Kräften kontrolliert wird.

Es lassen sich also im südlichen Teil des amerikanischen Kontinents verschiedene Formen und Entwicklungsstufen von Demokratisierung feststellen. Eine hinsichtlich der Bevölkerung, der geographischen Ausdehnung und des wirtschaftlichen Potentials mehrheitliche Anzahl von Ländern folgt vorderhand den Regeln der bürgerlichen, über weite Strecken formaldemokratischen Verfassungsmässigkeit. Die Möglichkeiten aktiver Beteiligung und Mitbestimmung in Politik und Wirtschaft sind dort für die grosse Mehrheit der Bevölkerung gering, denn die politische Macht liegt de facto nach wie vor in den Händen vermögender oligarchischer Kreise, die mit dem globalen Kapital verbündet sind und den materiellen Reichtum ihrer Länder monopolartig kontrollieren. Die auf basisdemokratische Weiterentwicklung und nachhaltige Umverteilung bedachten Regierungsprogramme und Politiken beschränken sich bis anhin auf wenige Länder. Seit mehreren Jahrzehnten werden derartige Bemühungen in Kuba unternommen, seit etwa 2002 folgt Venezuela diesem Beispiel und neuerdings unter erheblichen Schwierigkeiten auch Bolivien.


II. Dass demokratische Entwicklungsprozesse in Lateinamerika überhaupt eine gewisse Bedeutung erlangen konnten, ist in erster Linie auf das folgenschwere Scheitern des Neoliberalismus zurückzuführen. Wenn auch Länder wie Chile und Brasilien, die jene Wirtschaftsdoktrin bislang grosso modo weiterverfolgen, statistisch gesehen beachtliche wirtschaftliche Erfolge vorweisen können, so zeigen gerade diese beiden Beispiele, dass die Konzentration von Einkommen und Vermögen groteske und empörende Dimensionen angenommen hat. Während sich grosse Bevölkerungsteile, in Brasilien sogar eine klare Mehrheit, mit Löhnen oder informalen Einkommen durchschlagen müssen, die bestenfalls dem doppelten Betrag des offiziellen Mindestlohns pro Familie entsprechen, häufen sich in diesen beiden Nationen - wie in den meisten übrigen des Erdteils - die Zeichen schier unbegrenzter Reichtumsakkumulation. Immer zahlreicher und immer provokativer sind die Ghettos der extremreichen Geldelite, die sich nur noch mit strikter elektronischer und parapolizeilicher Bewachung gegen die zunehmende Masse von Verarmten und Delinquenten abschirmen können.

Der Globalisierungsprozess hat sich in Lateinamerika in den vergangenen zwei Jahrzehnten genau so ausgewirkt wie in anderen Teilen der Welt: "Die Privatisierung der Staatsfunktionen, der Freihandel, die Entfesselung der internationalen Kapitalbewegungen, die Auflösung des Sozialstaats, die Übergabe der Planungsfunktionen der Wirtschaft an multinationale Unternehmungen, die Auslieferung der Arbeitskraft und der Natur an die Marktfunktionen - und dies alles zur Vermehrung des Kapitaleigentums - haben den Kontinent überrollt." (Duchrow / Hinkelammert 2005, 168)

Die extreme Konzentration des Reichtums und die Ausgrenzung der Mehrheiten von Teilhabe und Mitbestimmungsrechten sind die Faktoren, die jene, die wirtschaftlich, sozial und politisch Schwachen, dazu getrieben haben, auf der Strasse und an den Urnen Protest und Widerstand gegen die oligarchischen Cliquen zu bekunden. Nicht wenige haben ihrerseits mit Flucht reagiert, indem sie ihre Heimat zu Millionen verliessen, ihr "Glück" unter zumeist prekären Umständen in den wohlhabenden Staaten des Nordens suchten und damit einen Jahrhunderte alten Trend der Migration umkehrten.

Bei allen genannten Aspekten wie auch bei der andauernden Plünderung von Rohstoffvorkommen und der Fortsetzung der Verschuldungsmechanik, wie wenn nichts passiert wäre, kommt der Enteignungscharakter kapitalistischer Entwicklung in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Soviel "Ungleichheit" - ein Wort, das die herrschenden Zustände eigentlich auf inakzeptable Weise bagatellisiert - droht jeden realen Schritt auf dem Weg der Demokratisierung im Keim zu ersticken. Und "die Erfahrung lehrt, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten, sobald sie ein bestimmtes Ausmass überschreiten, die rechtliche und politische Gleichheit zerstören können." (Marti 2006, 217) Daran haben die sozialdemokratisch orientierten Regierungen der Region (wie jene der brasilianischen Arbeiterpartei, der argentinischen Linksperonisten, der Breiten Front in Uruguay, der chilenischen Concertación Democrática und der peruanischen APRA-Partei) kaum irgendetwas nachhaltig zu ändern vermocht. Doch Lateinamerikas notleidende Mehrheiten wollen sich damit nicht länger abfinden. Sie lehnen sich auf gegen die kontinuierliche Zunahme der Machtasymmetrie zwischen den wenigen Begüterten und der Masse von Verarmten, die in dieser unsozialen Marktwirtschaft ausser ihrer eigenen Arbeitskraft wenig bis nichts mehr anzubieten haben (ebd., 240).


III. Weitere Gründe, die die Linkstendenzen der jüngsten Vergangenheit auf dem Subkontinent ausgelöst haben, sind die sukzessiven Misserfolge während der letzten Jahrzehnte sowohl der bürgerlichen Kräfte von rechts bis ultrarechts wie auch der Guerillabewegungen bei ihren verschiedenen Versuchen, den revolutionären Umsturz mit Waffengewalt herbeizuführen. Auf der einen Seite haben die traditionellen politischen Parteien in ihrer notorischen Unfähigkeit, grundlegende Reformen mit dem Ziel einer sozial breiteren Abstützung ihrer Herrschaft in die Wege zu leiten, viele Sympathien in der eigenen Bevölkerung verspielt. Der manifeste Mangel an politischem Willen, so tiefsitzende Übel wie die Korruption und die administrative Ineffizienz energisch zu bekämpfen, hat in den mittleren wie auch in den schon immer benachteiligten Schichten die Resignation, Politikverdrossenheit und nicht selten auch die Neigung zu politischer Apathie verstärkt.

Bis tief hinein in den Mittelstand zeichnet sich nun hinsichtlich der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungsbetriebe in Lateinamerika (besonders deutlich in Argentinien und Uruguay) ein Stimmungsumschwung ab. Das soziale und politischeAufbegehren der Benachteiligten organisiert sich in sozialen, gewerkschaftlichen und demokratischen Bewegungen, in einer intensiven Suche also nach basisdemokratischer Teilnahme, nach neuen Formen des Widerstands und nach alternativen, auf dem Prinzip der Solidarität anstatt des Eigennutzes, des Raubs und der Zerstörung von Mensch und Natur beruhenden Wirtschafts-, Geschäfts- und Gesellschaftsmodellen ("Manifiesto de los Pueblos", verabschiedet vom Gipfeltreffen der Völker Lateinamerikas in Santiago de Chile, 8.-9.11.2007, und Albrecht 2005, 332-340, 436).

Auf der Gegenseite hat das Scheitern fast aller Umsturzversuche von Guerillas in linksgerichteten Kreisen zu einer Besinnung und Neuorientierung der politischen Widerstandsstrategien und -formen geführt. Nachdem im Anschluss an die Kubanische Revolution in einer ersten Phase die Guerillabewegungen von Zentralamerika bis Argentinien und von Peru bis Brasilien in der militärischen Aufstandsbekämpfung zerschlagen worden sind, folgte vor allem im mittelamerikanischen Raum eine weitere Welle von Rebellionen, die sich um wesentlich engere Kooperation mit Volksorganisationen verschiedenster Art bemühten (Sterr 1997, Rey 2008). Den vereinten revolutionären Kräften gelang es indessen nur in Nicaragua unter Führung der Sandinisten (FSLN), die Macht zu erobern. Und auch dort konnte sich die neue politische Führungsmacht aus diversen Gründen kaum länger als ein Jahrzehnt (von 1979 bis 1990) behaupten. Nach der dank opportunistischer Finanzpolitik - mit rechtsliberalen Kräften und mit der konservativen Kirchenhierarchie - gelungenen Rückkehr des früheren Guerillakommandanten Daniel Ortega in die Regierung zeichnet sich in diesem mittelamerikanischen Staat jetzt ein Regime ab, das sowohl populistische Züge aufweist als auch einen zunehmend autoritären Führungsstil verrät.

Die Frustrationen, die den politischen Projekten sowohl der populistischen, reformistischen und neoliberalen Rechten als auch der radikalen Linken entsprangen, förderten also in mehreren Ländern des Subkontinents das Entstehen basisdemokratischer Bewegungen. In einer ersten Phase, noch unter diktatorischen Regimen der Militärs, standen dabei die Dringlichkeiten der Verteidigung von Menschenrechten im Zentrum. Im Strudel der wirtschaftlichen und sozialen Krisen, die durch Privatisierung und der Öffentlichkeit als "Strukturanpassung" verkaufte, rücksichtslose Sanierungspolitik entstanden, weitete sich der Aktionsradius der Volksorganisationen jedoch rasch aus: von Nothilfe (Volksküchen) über die Verteidigung von allerlei Grundrechten der Unterdrückten, insbesondere auch indigener Völker, bis hin zur Rückgewinnung der staatlichen Kontrolle über natürliche Ressourcen im eigenen Land, vor allem in Venezuela, Bolivien und ansatzweise auch in Ecuador.

Paradigmatischen Charakter hatte (und hat) bei diesen Kämpfen die Mobilisierung der Unterschichten in Bolivien. Hunderttausende von Besitz- und Rechtlosen halfen seit Ende der 1990er Jahre in La Paz, El Alto und Cochabamba mit, Regierungen, die fremden Wirtschaftsinteressen gehorchten, zu stürzen und so grundlegend wichtige Güter wie Trinkwasser und Gas wieder unter lokale oder nationale Aufsicht zu stellen. Nicht minder wichtig ist die Entwicklung in Richtung auf vermehrte Mitbestimmung der eigenen Bevölkerung in der öffentlichen Verwaltung. Dabei haben verschiedene Regionalzweige von Brasiliens Arbeiterpartei (PT) wertvollste Pionierarbeit geleistet. Ganz besonders in Porto Alegre wurde gezeigt, wie die sozialen Verhältnisse breiter Volksschichten und die Lebensqualität in den betreffenden Agglomerationen mithilfe von basisdemokratisch erarbeiteten und verwalteten öffentlichen Budgets entscheidend verbessert werden können (Giegold/Embshoff 2008, 69-70). Andere brasilianische Städte wie auch Montevideo, die Hauptstadt des benachbarten Uruguay, sind unterdessen diesem Beispiel einige Schritte weit gefolgt.

Obwohl die PT unter Präsident "Lula" da Silva die neoliberale Politik seines Amtsvorgängers bisher über weite Strecken fortgesetzt hat, ist seine Regierung immerhin bemüht, die verschiedensten Arten solidarischer Bewirtschaftung von amtlicher Seite zu schützen und zu fördern (ebd., 94-99, 152-157, 215-23). Im gleichen Zuge sind die Bemühungen von Belegschaften argentinischer Firmen hervorzuheben, die von den früheren Privatbesitzern für bankrott erklärt worden sind und jetzt von den Arbeitern und Angestellten selber gemeinschaftlich weitergeführt werden (dazu z.B. ein ausführlicher Beitrag in Lateinamerika Nachrichten 409/410, 52-56). Parallel zu diesen Ansätzen einer alternativen, d.h. solidarischen und gerechteren Wirtschaftsordnung blüht, praktisch über den ganzen Halbkontinent verbreitet, eine Vielfalt von Kooperativen auf, wobei Venezuela dafür gegenwärtig als wichtigstes politisches Experimentierfeld gelten kann (Giegold/Embshoff 2008, 34-38 ff.). Teile der Kirche, in erster Linie Repräsentanten undAnhänger der Befreiungstheologie, tragen massgeblich dazu bei, Vorstellungen von einer gerechteren wirtschaftlichen und politischen Ordnung und einer glaubwürdigeren demokratischen Praxis in die Gesellschaft hineinzutragen.

Schliesslich ist auch nicht zu übersehen, dass ein teilweiser Schuldenerlass (vor allem in Bolivien, Nicaragua und Haiti) sowie Umschuldungen, die unausweichlich geworden waren (in Argentinien, Brasilien und Ecuador), gewisse Demokratisierungstendenzen erleichtert haben. Dadurch konnten enorme Engpässe im öffentlichen Haushalt zumindest vorübergehend gemildert und zusätzliche Mittel für sozialpolitische Programme freigegeben werden. Ebenso hat die Preishausse bei fast allen Rohstoffen, die in den letzten Jahren das wirtschaftliche Wachstum vieler Länder der Region begünstigte, auch den Aufbau alternativer Unternehmensformen ermöglicht.


IV. Jene Länder Lateinamerikas, deren gegenwärtige Regierungen relativ radikale Reformen anstreben (Venezuela, Bolivien und teilweise Ecuador), haben Schritte unternommen, die bei allen Unterschieden von Land zu Land dennoch eines gemeinsam haben: Sie haben es mit dem Entwurf neuer Verfassungen und deren legitimierender Gutheissung durch das Volk geschafft, die theoretischen Grundlagen für ein solidarisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu legen. Sie wollen mithilfe von Nationalisierung oder Verstaatlichung die Kontrolle über ihre eigenen Naturreichtümer zurückgewinnen. Sie kanalisieren die fiskalischen Mehreinnahmen, die jener Schritt einbringt, vorwiegend in sozialpolitische Programme und Projekte. Gleichzeitig bemühen sie sich, der Bevölkerung Möglichkeiten zu basisdemokratischer Teilnahme in Politik und Wirtschaft zu eröffnen.

Am weitesten fortgeschritten ist dieser Prozess gesamthaft sicher in Venezuela. Präsident Chávez ist denn auch der Spiritus Rector des neuen subkontinentalen Integrationsversuchs ALBA (Alternativa Bolivariana para América Latina), der bemerkenswerte solidarische Züge auf zwischenstaatlicher Ebene aufweist und als wirtschaftspolitische Alternative zu der von den USA propagierten, neoliberal orientierten Freihandelszone ALCA (Amerikanische Freihandelsassoziation) konzipiert ist. Gleichzeitig ist die Regierung von Caracas auch die treibende Kraft bei der Gründung und Verbreitung einer "Bank des Südens", die ebenfalls von jeglichem Einfluss Washingtons unabhängig ist.

Ein zentraler Punkt demokratischer Politik bleibt in Lateinamerika die Bekämpfung von Armut und Hunger, also die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerungsmehrheit: Sicherung des absolut notwendigen Lebensmittelkonsums, kostenlose und den lokalen Gegebenheiten angepasste Gesundheitsfürsorge, kostenlose Erziehung und Berufsausbildung auf den unteren und mittleren Stufen, staatlich garantierte Bereitstellung von angemessenem Wohnraum, Bereitstellung von Arbeitsplätzen und Sicherung einer Grundrente für das Alter für alle Bürgerinnen und Bürger. Denn: "Eine Gesellschaft, die das Leben aller durch die Sicherung der Grundbedürfnisse nicht garantiert, ist unmöglich." (Hinkelammert 1994, 20, 267-268)

Diese sozialpolitischen, vorläufig auf materielles Wohlbefinden gerichteten Forderungen sind bisher nur in Kuba eingelöst worden, vorbildlich vor allem im Gesundheits- und Erziehungsbereich, während es in anderen Bereichen an Mangelerscheinungen nach wie vor nicht fehlt. Man muss jedoch gleich hinzufügen, dass diese Errungenschaften in Kuba aller seit bald fünf Jahrzehnten anhaltenden Blockadepolitik der USA zum Trotz, wider alle Unbill der Natur (wiederholte Wirbelstürme, die gigantische Schäden anrichteten) und trotz aller bürokratischen Hindernisse in beachtlichem Masse erreicht wurden. Es versteht sich von selbst, dass eine derart umfassende Sozialpolitik nur umgesetzt werden kann, wenn sie entweder (wie unter Fidel und Raúl Castro) mit einer umfassenden Sozialisierung der finanziellen Mittel oder aber einer radikalen Verschärfung der Steuerpolitik im Rahmen eines im Prinzip marktwirtschaftlich orientierten Regimes einhergeht. Im Falle, dass die zweite der genannten Alternativen mit dem Ziel einer Konsolidierung der demokratischen Strukturen angestrebt werden sollte, wird es unausweichlich sein, eine gemischte (teils privatwirtschaftlich, teils solidarisch orientierte und teils staatlich kontrollierte) Wirtschaft aufzubauen, ihre Grenzen legal zu definieren und auch strikte zu respektieren.

Als ein weiteres Kernelement demokratischer Entwicklung drängt sich die Förderung der Mitsprache- und Mitbestimmungsrechte von Volksorganisationen unterschiedlichster Art auf. Lateinamerika kann hier auf verschiedene positive Erfahrungen und bewährte Modelle zurückgreifen. Eine zukunftsfähige Politik wird auch die jüngere Geschichte und die demokratische Tradition Costa Ricas (die Abschaffung der Armee im Jahr 1949, Aufbau juristischer, demokratischer und sozialpolitischer Institutionen, die im lateinamerikanischen Vergleich als solide gelten können) nicht missachten. Von besonderer Bedeutung ist sodann die Einführung plebiszitärer Mechanismen, wie sie seit langer Zeit auch in Uruguay existieren, in Kuba ansatzweise (beispielsweise zur Definition von sanierungspolitischen Massnahmen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion) funktionieren und in Venezuela unter Hugo Chávez mit zunehmender Intensität benutzt werden. In kleinem Rahmen, aber mit vorbildlichen Absichten fördern die Zapatisten (FZLN) unter den Indigenen des mexikanischen Teilstaates Chiapas die Partizipation der Bevölkerung an der Führung öffentlicher Geschäfte und Angelegenheiten (Gerber 2005, 147-148 ff.).

Noch einmal ist in diesem Zusammenhang auf das "Modell von Porto Alegre" hinzuweisen. "In dem Masse, wie die Diskussion der Jahresbudgets auf lokaler, regionaler und staatlicher Ebene vergesellschaftet und immer breiter wird, werden wir mehr Möglichkeiten für die Entwicklung von Wirtschaftssubjekten haben, die imstande sind, rational zu kalkulieren und die wirtschaftlichen Probleme des Landes als aktive Bürger in Angriff zu nehmen." (Moulian 2003, 187) Ob man nun solche Mitbestimmungspraktiken als Politikformen einer "Räterepublik" charakterisieren soll, wie es Hannah Arendt tut, oder als wahrhaft "revolutionäre Institution" bezeichnet (Ringger 2008, 44-46, 74-79), dürfte gerade für die Demokratisierungsprozesse in Lateinamerika vorderhand weniger entscheidend sein. Von Bedeutung ist vielmehr, dass Regierungen gewählt werden, die solche basisdemokratischen Fortschritte nicht nur zulassen, sondern auch aktiv fördern.


V. Die Perspektiven für eine Weiterentwicklung sozialistischer und solidarischer Politik scheinen in Lateinamerika zurzeit nicht ungünstig zu sein. Das Zentrum, die Gruppe hochentwickelter Wohlstandsnationen, ist durch die globale Finanzmarktkrise stark mit sich selbst beschäftigt. Diese ökonomische Konstellation könnte, wie in den 1930er Jahren, im Erdteil südlich des Rio Grande wichtige Freiräume schaffen und Autonomiebestrebungen erleichtern. Sie kann die Menschen - Politiker, Ökonomen, Wissenschaftler, gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger - ermuntern, sich vermehrt auf ihre eigenen schöpferischen Kräfte und Initiativen zu verlassen.

Vor den Augen aller Völker ist in den letzten Jahren demonstriert worden, wohin das Freiheitsideal des Neoliberalismus, die totale Marktfreiheit, führt. Wie Immanuel Wallerstein es formuliert: "(...) das Chaos ist nur ein Symptom, ein Anzeichen für den Fall eines konkreten historischen Systems, das seit 500 Jahren existiert und - in einem gewissen Sinne - sehr erfolgreich war, in Übereinstimmung mit seinen eigenen Grundsätzen. Es hat aber bereits seine Grenze erreicht und ist nicht mehr in der Lage, die Mechanismen zu nutzen, die es im Gleichgewicht halten würden. Wir leben in einer Phase großer, stürmischer Fluktuationen, die einen ökonomischen, politischen, kulturellen und intellektuellen Charakter aufweisen (...) In normalen Perioden haben wir sehr wenig Raum für authentische Veränderungen, während die Epoche des Chaos ihnen zum Durchbruch verhilft." (Wallerstein 2007) Allerdings besteht eine grosse Gefahr gerade auch darin, dass die politischen Auswirkungen der globalen Finanzmarktkrise die demokratischen Entwicklungen in Lateinamerika blockieren oder gar rückgängig machen könnten. Dieser Gefahr waren sich die Staats- und Regierungschefs Lateinamerikas und der Karibik bewusst, als sie auf ihrem ersten CALC-Gipfeltreffen am 17. Dezember in Brasilien (Costa do Sauipe) über eine neue Institution berieten, die einen Zusammenschluss der Organisationen Mercosur, Unasur und der Rio-Gruppe ermöglicht. Die zwölf Länder Lateinamerikas umfassende Unasur beschloss die Bildung eines Verteidigungsrates.


Rey, Romeo: 1942, Journalist und Sachbuchautor, Zumikon


Literatur

Albrecht, Christoph, 2005: Den Unterdrückten eine Stimme geben. Luzern

Duchrow, Ulrich/Hinkelammert, Franz J., 2005: Leben ist mehr als Kapital - Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentums. Oberursel

Gerber, Philipp, 2005: Das Aroma der Rebellion. Münster

Giegold, Sven / Embshoff, Dagmar (Hrsg.), 2008: Solidarische Ökonomie im globalisierten Kapitalismus. Hamburg

Hinkelammert, Franz J., 1994: Kritik der utopischen Vernunft. Luzern/Mainz

Marti, Urs, 2006: Demokratie - das uneingelöste Versprechen. Zürich

Moulian, Tomás, 2003: Ein Sozialismus für das 21. Jahrhundert. Der fünfte Weg. Zürich

Ohlendorf, Julia, 2008: Betriebe ohne Boss. Lateinamerika Nachrichten, Nr. 409/410 (Juli/August 2008), S. 52-56. Berlin

Rey, Romeo, 2008: Im Sternzeichen des Che Guevara. Theorie und Praxis der Linken in Lateinamerika. Hamburg

Ringger, Beat (Hrsg.), 2008: Zukunft der Demokratie - Das postkapitalistische Projekt. Zürich

Sterr, Albert (Hrsg.) 1997: Die Linke in Lateinamerika. Zürich

Wallerstein, Immanuel, 2007: Gespräch mit der Tageszeitung Junge Welt 27.10. Berlin


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Hinweis auf weitere Artikel der aktuellen Ausgabe:

WIDERSPRUCH 55 - 2. Halbjahr 2008

Demokratie und globale Wirtschaftskrise
Finanzmarkt-Kapitalismus, Wirtschaftsdemokratie,
öffentlicher Sektor, Verteilungsgerechtigkeit;
Gleichberechtigung, Geschlechterdemokratie:
Erwerbsarbeit und Familie; Postdemokratie,
Gewerkschaften; Pensionskassen; Zukunft der Demokratie
und politische Bildung; SVP contra Rechtsstaat

M.R. Krätke, H. Schäppi, H.-J. Bontrup, H. Schui, W. Spieler,
A. Demirovic, F.O. Wolf, G. Notz, Th. Wüthrich, K. Dörre,
W. Hafner, U. Marti, S. Da Rin, S. Künzli, M. Spescha

Diskussion
H.-J. Burchardt: Die Herausforderung Lateinamerika
R. Rey: Demokratische Entwicklungen
B. Ringger: Chávismo und Demokratie in Venezuela
S. Ben Néfissa: NGO, Staat, Zivilgesellschaft

WIDERSPRUCH 55:
Demokratie und globale Wirtschaftskrise
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Quelle:
Widerspruch 55 - Beiträge zu sozialistischer Politik
28. Jahrgang, 2. Halbjahr 2008, S. 169 - 177
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2009